Diskursanalyse

2. Merkmale und Prinzipien der Methode

Ebenso wie andere Ansätze der Gesprächsforschung verfolgt auch die funktional-pragmatische Diskursanalyse das Ziel, Strukturen und Regelmäßigkeiten in Gesprächen zu entdecken, begrifflich zu fassen und so das Funktionieren unterschiedlicher Diskurstypen zu erklären. Als Analysekategorien lassen sich die Aufgabenbereiche im Gespräch bestimmen, die Sprecher und Hörer zu bearbeiten haben; dazu gehören das Prozessieren von thematischem Wissen, von Identität und Beziehung, von Handlungsmustern und von Unterstützungsverfahren der Verständnissicherung (nach Becker-Mrotzek 2009). Im Folgenden wird schwerpunktmäßig auf den Punkt ‚Handlungsmuster‘ als dem zentralen Untersuchungsgegenstand der funktional-pragmatischen Diskursanalyse eingegangen.

Die funktional-pragmatische Diskursanalyse bedient sich bei ihren Untersuchungen qualitativer Methoden und geht empirisch-induktiv vor. Das heißt, sie unterzieht Transkripte, die auf der Grundlage von akustischen oder audiovisuellen Gesprächsaufzeichnungen angefertigt wurden, einer hermeneutischen materialgeleiteten Analyse. Man kann dieses Vorgehen als reflektierte Empirie ohne starre Analyseschritte bezeichnen, bei der sich empirische Untersuchung und Theoriebildung über sprachliches Handeln gegenseitig bedingen; die Analyse authentischer sprachlicher Interaktion, die Entwicklung theoretischer Erkenntnisse und die erneute Überprüfung des gewonnenen Wissens am Datenmaterial befördern sich wechselseitig (vgl. Becker-Mrotzek und Vogt 2009).

Am Beginn eines solchen zyklischen Forschungsprozesses stehen die Formulierung der Fragestellung und die Datensammlung. Ein Korpus mit akustischen oder audiovisuellen Gesprächsaufnahmen (und eventuell zusätzlichen Daten) wird so angelegt, dass das zu untersuchende Phänomen möglichst umfassend und systematisch dokumentiert ist. Spezielle Anforderungen an die anzufertigenden Aufnahmen ergeben sich aus dem Analyseziel.

Im nächsten Schritt werden die Aufnahmen transkribiert. Ehlich und Rehbein haben seit den 70er Jahren ein eigenes Transkriptionssystem entwickelt und ständig verbessert. Es wird HIAT genannt, das heißt ‚Halbinterpretative Arbeitstranskription‘; ‚Halbinterpretativ‘, weil der Transkribent bei jedem Schritt der Verschriftung gesprochener Sprache (mit größter Sorgfalt) über eine Laut-Buchstaben-Zuordnung entscheiden muss; ‚Arbeitstranskription‘, weil es auch in späteren Arbeitsphasen immer noch weiter verfeinert werden kann und eventuell muss. HIAT bemüht sich um Einfachheit, das heißt das Erstellen von Transkriptionen soll schnell erlernbar und das Lesen von Transkripten ohne größere Mühe möglich sein. Aus diesem Grund wird die Partiturschreibweise verwendet. Damit können die unterschiedlichen, sich teilweise überlappenden Sprecherbeiträge übersichtlich und für den Leser leicht nachvollziehbar dargestellt werden. Zudem kommt die sogenannte literarische Umschrift – das heißt die Wiedergabe der Abweichungen von der Standardaussprache im Transkript – mit ihrer weitgehenden Übernahme der gewohnten Orthographie mit Groß- und Kleinschreibung den Lesegewohnheiten entgegen. Weil HIAT-Transkripte aber dazu dienen sollen linguistische Fragestellungen zu bearbeiten, werden in ihnen Äußerungsinhalte nicht lediglich grob erfasst, sondern sehr genau auch sprachliche Auffälligkeiten und Merkmale der gesprochenen Sprache notiert. Da paraverbale und nonverbale Mittelwichtige Ausdrucksmöglichkeiten der Kommunikation sind, werden sie ebenso festgehalten wie Pausen, Brüche und Reparaturen.

Bei der Auswahl der zu untersuchenden Transkripte wird meist nach dem Prinzip der klaren Fälle verfahren und die Beschäftigung mit komplexen Phänomen zurückgestellt. Die Transkriptanalyse ist zunächst Einzelfallanalyse, bei der versucht wird, im Zufälligen des jeweiligen Gesprächs das Gesetzmäßige zu finden. Es wird nach Unterschieden zwischen verschiedenen Gesprächsverläufen in Transkripten gleicher Diskursart gesucht. Im Vergleich der Gespräche lassen sich so an der Oberfläche mehrere weitgehend parallele Abschnitte identifizieren, die zu einer ersten Strukturierung der Gespräche führen (Phasierung). Erste Ergebnisse der Einzelfallanalyse führen zur Präzisierung der Fragestellung aus dem Material heraus und zur kontrastiven Bearbeitung vergleichbarer Fälle im Korpus, gegebenenfalls unter Einbezug sekundärer Informationen (ethnographisches Material). Jede Untersuchung einzelner Aspekte betrachtet diese als Teil des noch zu rekonstruierenden Gesamtzusammenhangs. Theorie leitet die Einzeluntersuchung, etwa indem sie den Blick auf spezifische Phänomene lenkt und diese einzuordnen hilft, Einzelergebnisse werden dabei aber nicht vorschnell schon als Theorie des Ganzen missverstanden.

Zentrales Analyseziel ist die Rekonstruktion der den Äußerungsfolgen zugrundeliegenden sprachlichen Handlungsmuster als gesellschaftlich ausgearbeitete Formen sprachlichen Handelns. Ihre innere Struktur ist geprägt durch die institutionellen Rahmenbedingungen, auf die sie bezogen sind. Kompetente Sprecher haben im Rahmen ihrer Sozialisation implizites Musterwissen als Grundlage kommunikativer Kompetenz erworben. Ihnen ist bewusst, dass sich Sprecher und Hörer mit dem Einstieg in ein Muster zu bestimmten Aktivitäten verpflichten, die weitere Musterpositionen erwartbar machen. Zwar entstehen Gespräche dadurch, dass von den Sprechern die Handlungsmuster realisiert werden, aber diese Muster sind abstrakte, ohne genauere Untersuchung nicht erkennbare Tiefenstrukturen. Ihr Aufbau muss erst durch die Identifizierung von systematisch zusammengehörigen sprachlichen Handlungen in einer Gesprächsphase bestimmt werden. Das ist nicht einfach, da Gespräche nicht nur an der sprachlichen Oberfläche große Unterschiede aufweisen, auch die ihnen zugrundeliegenden Muster werden selten in Reinform verwendet, meist sind sie im Fall ihrer Verwendung an spezielle Rahmenbedingungen der Kommunikationssituation angepasst und dann verkürzt (übersprungene Musterpositionen) oder expandiert (zum Beispiel durch eingeschobene Verständnissicherungsprozeduren). Erst im Vergleich unterschiedlicher Realisierungen wird die Systematik sichtbar. Und auch dann kommt es vor, dass aufgrund der vorliegenden Transkripte immer noch nicht alle Musterpositionen rekonstruiert werden können und deshalb auf der Grundlage des Erfahrungswissens des Untersuchenden Ergänzungen angebracht werden müssen.

Die Bestimmung der Musterkomponenten und ihres systematischen Zusammenhangs führt zur Entwicklung einer grafischen Darstellung in Form von Flussdiagrammen (Praxeogramm). Es ist Untersuchungsergebnis, nicht vorab entworfenes Konstrukt und stellt die Konfiguration der unterschiedlichen Typen des Handelns (Pragmeme) von Sprecher und Hörer dar: mentale (kognitive) Handlungen, Interaktionen (verbale und extraverbale Kommunikationen) und körperliche Aktionen; die entsprechenden Symbole sind mit Richtungspfeilen (eventuell über Entscheidungsknoten) miteinander verbunden (siehe das Beispiel in Abschnitt 4). Seine Übersichtlichkeit gibt gut die Handlungsmöglichkeiten der Aktanten wieder, zu denen vor allem der Sprecherwechsel, aber auch die Wiederholbarkeit von einzelnen Musterpositionen oder auch der eventuelle vorzeitige Abbruch gehören.

Wichtig ist, dass bei sämtlichen gesprächsanalytischen Arbeitsschritten – nicht nur im Rahmen der Musterrekonstruktion – methodologische Qualitätsprinzipien beachtet werden. Brünner beschreibt die Standards diskursanalytischer Forschungsarbeit wie folgt:

„Methodische Kontrolle über den Interpretationsprozess wird erreicht, indem man

  • jeweils die Dimensionen (Ebenen, Aspekte) des kommunikativen Handelns angibt, auf die sich die Interpretation bezieht,
  • sich auf kommunikative Prozesse und Formen beschränkt (also z. B. psychologische Mechanismen und Erklärungen außer Betracht lässt),
  • die Indizien nennt, auf die sich die Interpretation stützt,
  • angibt, welche Bedeutungen man diesen Indizien in der Analyse zuschreibt.

Die Gültigkeit einer Interpretation hängt letztlich ab von der intersubjektiven Übereinstimmung hinsichtlich der Indizien, der ihnen zugemessenen Bedeutungen und der aus ihnen gezogenen Schlüsse.“ (Brünner 2009, 63; Hervorhebungen im Original)

So sorgfältig die Transkriptanalyse auch ausgeführt wird, die Ergebnisse von Einzeluntersuchungen können immer nur einen Teil der Wirklichkeit zeigen. Deshalb dienen funktional-pragmatische Diskursanalysen häufig der Heuristik und Exploration und damit der Generierung von Thesen, die in anschließenden größer angelegten Korpusanalysen verifiziert werden können.

Wenn es bei der Musterrekonstruktion darum geht, hinter der Individualität der tatsächlichen Sprachverwendung das Regelhafte zu erkennen, kann am Ende umgekehrt gefragt werden, mit welchen sprachlichen Mitteln die Aktanten das Muster in konkreten kommunikativen Situationen realisieren. Zu diesem Zweck muss unterschieden werden zwischen musterkonstituierenden und additiven Äußerungen. Musterkonstituierende Äußerungen sind funktional auf den Musterzweck bezogen, additive Äußerungen sind es nicht, z.B. Elemente der Höflichkeit, verständnissichernde Prozeduren usw.

Abschließend kann die Musterrekonstruktion und die Analyse der sprachlichen Mittel in den größeren Rahmen einer Institutionenanalyse gestellt werden. Da Institutionen in der Gesellschaft allgegenwärtig sind, als „Apparate zur Prozessierung der gesellschaftlichen Zwecke“ (Ehlich 1996, 194) das Leben der Individuen und ihr sprachliches Verhalten in vielfältiger Weise prägen, befasst sich die Diskursanalyse sehr intensiv mit institutioneller Kommunikation. Im Rahmen ihrer Untersuchungen zur Unterrichtskommunikation haben Ehlich und Rehbein die Ergebnisse ihrer linguistischen Detailanalysen zur Grundlage für ihre Institutionenanalyse gemacht. Dabei sind sie so vorgegangen, dass sie die schulischen Formen der Kommunikation mit verwandten Formen in der Alltagspraxis verglichen haben.

„Auf diese Weise gelingt es ihnen, die Spezifik der schulischen Formen klar herauszuarbeiten. Durch Anpassung alltäglicher Handlungsformen an die Bedingungen der schulischen Wissensvermittlung treten Brüche und Widersprüche auf. Der Wegfall, das Hinzufügen oder das Verändern einzelner Musterpositionen wirken sich auf die Handlungsmöglichkeiten von Schülern und Lehrer aus.“ (Becker-Mrotzek und Vogt 2009, 39)

Dieser Zusammenhang wird im Rahmen der Beispielanalyse in Abschnitt 4 ausgeführt.