Diskursanalyse

3. Grenzen der Methode

Kritik an den Methoden der funktional-pragmatischen Diskursanalyse wurde in der Vergangenheit aus den Reihen der Sprachwissenschaft (a), der linguistischen Unterrichtsforschung (b) und der allgemeinen Didaktik (c) geäußert. Diese Kritik wird im Folgenden zum Anlass genommen, Perspektiven für die Weiterentwicklung der funktional-pragmatischen Diskursanalyse im schulischen Kontext darzustellen (d).

(a) Weigand wirft der funktional-pragmatischen Diskursanalyse vor, es mangele ihr an theoretischer Fundierung, weshalb sie mehr oder weniger intuitiv vorgehe und über die Beschreibung der Zufälligkeiten von Einzelfällen nicht hinauskomme (Weigand 1992, 57ff.). Weigand argumentiert aus der Perspektive der Dialoganalyse, einer Richtung der Gesprächsanalyse, die in der Nachfolge der Sprechakttheorie versucht, Gesprächsstrukturen nicht durch Analyse empirischer Daten, sondern mittels Introspektion zu entdecken. Ihrer Meinung nach können anhand von authentischen Äußerungen allenfalls Instanzen zufälliger und willkürlicher Sprachverwendung, das heißt die Performanz untersucht werden, nicht jedoch die Kompetenz. Eine strikte Orientierung am authentischen Text liefere die Analyse allen Freiheiten und Regelüberschreitungen der Performanz aus, die deshalb nicht Prüfstein der theoretischen Beschreibung sein könne. Dagegen wendet sich Grießhaber:

„Diese Kritik der Dialoganalyse basiert auf einem strukturalistischen Sprachverständnis, untersucht werden nicht sprachliche Mittel in ihrer Handlungsfunktion, sondern letztlich Äußerungsprodukte. Aufnahmen und Transkripte dienen eher der Illustration der zuvor erstellten Dialogmuster. Dagegen versucht die f-p DKA [funktional-pragmatische Diskursanalyse, PW] in der Analyse empirischen Materials die Überwindung herkömmlicher sprachwissenschaftlicher Kategorien, sofern sie sich als unzureichend für die Erklärung des sprachlichen Handelns erweisen […] Die Analyse einer hinreichend großen Menge von Gesprächen zeigt in diesem Fall – gegen die Annahmen der Dialoganalyse (s.o.) –, daß auch das alltägliche sprachliche Handeln der Sprecher funktional in Mustern strukturiert ist und nicht durch eine willkürlich idiosynkratisch persönliche Sprache.“ (Grießhaber 2001, 82)

(b) Vogt und Becker-Mrotzek/Vogt stellen nicht das Verfahren der Handlungsmusterrekonstruktion an sich in Frage, kritisieren aber einige Aspekte der Arbeiten, die Ehlich und Rehbein vorgelegt haben, als Ergebnisse der Anwendung der Methode bei der Analyse von Unterrichtskommunikation (Vogt 1997; Becker-Mrotzek und Vogt 2009). Sie bezweifeln, dass die vorgelegten Untersuchungen – die Einzelphänomene sehr detailliert behandeln – der Komplexität des Handlungsraums Schule gerecht werden und ein angemessenes Bild der Institution mit all ihren Problemen, aber eben auch Vorteilen und Leistungen liefert.

Vor allem der Vergleich von alltagsweltlichen und institutionell veränderten Handlungsmustern (siehe Beispielanalyse im Abschnitt 4) ist ihrer Meinung nach problematisch. Zwar macht er einerseits die Besonderheit der Schulkommunikation vor dem Hintergrund der Kontrastfolie Alltagskommunikation deutlich. Andererseits wird dieser Vergleich als antithetischer Gegensatz aufgebaut, was zu einer überspitzten und vereinfachenden Darstellung führt. Die Betonung institutionsspezifischer Abweichungen von den alltäglichen Handlungsmustern legt eine negative Bewertung nahe, obwohl doch Unterrichtskommunikation nicht nach den Maßstäben von Alltagskommunikation zu beurteilen ist. In der Darstellung von Ehlich und Rehbein verdecken die problematischen Aspekte der unterrichtlichen Verfahren die positiven. Dabei sind sie nicht nur Verfahren zur Bearbeitung von Widersprüchen, sondern sie leisten auch einen Beitrag zur Zweckerfüllung der Institution Schule.

Weiter hin kritisieren Becker-Mrotzek/Vogt, dass angesichts der schmalen Auswahl an untersuchten Phänomenen wichtige Unterrichtsmethoden unberücksichtigt bleiben, die Massenhaftigkeit der Gesprächssituation nicht ausreichend berücksichtigt wird und die Einbindung der Muster in den Gesamtzusammenhang einer Unterrichtsstunde unklar bleibt.

(c) Ähnlich kritisiert auch Lüders, dass die Untersuchungen der funktional-pragmatischen Diskursanalyse insgesamt der Komplexität des Phänomens Unterricht nicht gerecht werden (Lüders 2010). Sie ignorierten Forschungsergebnisse zur Unterrichtskommunikation von Seiten der pädagogischen Interaktionsanalyse und der englisch-amerikanischen discourseanalysis (von Lüders hier linguistische Diskursanalyse genannt), die zum damaligen Zeitpunkt bereits vorlagen.

„Das sprachliche Geschehen im Unterricht ist weitaus komplexer als die funktional pragmatische Diskursanalyse zu erkennen gibt. Bereits die Interaktionsanalyse konnte mehrere Typen von Lehrerfragen […] und verschiedene, sich an diese Fragen anschließende „teachingcycles“ […] unterscheiden. Die […] linguistische Diskursanalyse hat zu weiteren Differenzierungen, insbesondere bei den Verlaufsformen des Unterrichtsgesprächs, geführt.“ (Lüders 2010, 657f.)

Ehlich und Rehbein muss man allerdings zu Gute halten, dass sie ihre Untersuchungen zur Unterrichtskommunikation nicht im Sinne pädagogischer Forschung durchgeführt haben, um die kommunikativen Praktiken im Untersuchungsfeld vollständig zu erfassen. Ihr Interesse war es, eine neue linguistische Theorie an einem Beispiel zu entwickeln; später haben sie sich mit derselben Intensität der Erforschung der Sprachverwendung in anderen Institutionen zugewendet. An den Arbeiten der Funktionalen Pragmatik bemängelt Lüders weiterhin die im Vergleich zu anderen sozialwissenschaftlichen Ansätzen fehlende kognitionswissenschaftliche Modellierung des mentalen Bereichs.

„Im Unterschied zur sozialpsychologischen Interaktionsforschung basieren die Darstellungen der mentalen Prozesse, die den Handlungen von Lehrern und Schülern vermeintlich vorausgehen und diese auslösen, nicht auf empirischen Rekonstruktionen der Strukturen handlungsleitender Kognitionen. Die diesbezüglichen Angaben müssen deshalb als sehr unsicher gelten.“ (Lüders 2010, 657)

Auch wenn diese Kritik berechtigt ist, stellt die ‚Einführung‘ des mentalen Bereichs in die linguistische Modellierung sprachlichen Handelns durch die Funktionale Pragmatik eine wichtige Weiterentwicklung des Konzepts der Sprechakttheorie dar. Als Letztes kritisiert Lüders die schmale Datenbasis der meisten Untersuchungen der funktional-pragmatischen Diskursanalyse.

„Kritisch gegenüber den aus der Diskursanalyse hervorgegangenen Forschungen zur Unterrichtssprache ist anzumerken, dass die meisten Untersuchungen explorativen Charakter haben oder Fallstudien sind, so dass die jeweils erhobenen Befunde nicht ohne weiteres zu verallgemeinern sind.“ (Lüders 2010, 660)

„Die Anzahl der analysierten Fälle ist so gering, dass es äußerst fragwürdig erscheint, die Befunde zu „Mustern“ institutionellen Handelns zu generalisieren. Im Fall der Generierung des Musters „Lehrervortrag mit verteilten Rollen“ etwa wurde nur eine einzige Unterrichtsstunde analysiert; zudem wurde durch gezielte Umstellungen der Schülerantworten zu einem zusammenhängenden Lehrervortrag massiv in die erhobenen Daten eingegriffen.“ (Lüders 2010, 657)

Aus diesem Grund fordert Lüders, in Zukunft ähnliche Forschungsarbeiten auf eine breitere empirische Basis zu stellen.

(d) Becker-Mrotzek plädiert ebenfalls dafür, Einzelfallstudien durch umfangreiche Korpusanalysen zu ergänzen. Er hält zwar die funktional-pragmatischen Diskursanalyse für eine geeignete Methode zur qualitativen Untersuchung von Unterrichtskommunikation, schlägt aber vor, sie modifiziert zu verwenden (Becker-Mrotzek 2002). Wenn die Verfahren der sehr aufwändigen Detailanalysen vereinfacht einsetzbar wären, ließen sich größere Datenmengen verarbeiten und eine Verbindung zu quantitativen Methoden herstellen.

„Erst dann wird es möglich sein, quantitativ umfangreichere Analysen durchzuführen und so den Ist-Zustand genauer zu erfassen. Aus interdisziplinärer Sicht ist zu prüfen, ob hier eine Kombination psychologisch-quantitativer und linguistisch-qualitativer Analysen Fortschritte verspricht.“ (Becker-Mrotzek 2002, 76)

Würden qualitative und quantitative Untersuchungsmethoden kombiniert, so Becker-Mrotzek, könnte der Beitrag der funktional-pragmatischen Diskursanalyse darin bestehen, die zu untersuchenden sprachlichen Phänomene genauer zu bestimmen.

„Quantitativ orientierten Analysen, etwa im Rahmen der psychologischen Untersuchungen zur Unterrichtsqualität, eröffnen die Möglichkeit, die sog. weichen Faktoren wie Klassenklima, Strukturiertheit oder Lehrerzentriertheit des Unterrichts begrifflich klarer zu fassen.“ (Becker-Mrotzek 2002, 76)