Diskursanalyse

5. Zum Verhältnis von quantitativen und qualitativen Methoden

Zum Schluss soll in Anknüpfung an Abschnitt 3 (d) noch einmal das Verhältnis der funktional-pragmatischen Diskursanalyse zu den quantitativen Methoden im Rahmen der Erforschung von Unterrichtskommunikation thematisiert werden. Die Favorisierung eines Forschungsansatzes in Verbindung mit der Ablehnung eines anderen erscheint in diesem Zusammenhang aus zwei Gründen nicht sinnvoll. Zum einen ist Unterricht als Herzstück institutioneller Bildungsprozesse ein zentraler Untersuchungsgegenstand sehr unterschiedlicher Disziplinen mit je eigenen Erkenntnisinteressen. Bei einem so wichtigen Thema ist es sicher angeraten, eine interdisziplinäre Verständigung über angemessene Methoden und Kategorien für seine Beschreibung und Analyse herzustellen. Und zum anderen kann eine dichotome Gegenüberstellung von quantitativen und qualitativen Methoden der Komplexität des Beziehungsverhältnisses nicht gerecht werden. Die Entscheidung für die eine oder andere Methode ist weniger eine von grundsätzlicher Natur, als vielmehr eine, die von den je spezifischen Erkenntnisinteressen in einer bestimmten Forschungssituation getragen sein sollte. Da geht es nicht um die Frage, welche der Methoden besser oder schlechter ist, sondern um ihre jeweilige Angemessenheit in Bezug auf die Beantwortbarkeit von Forschungsfragen. Im Rahmen der Erforschung von Unterrichtskommunikation wird es häufig so sein, dass die hier untersuchten komplexen Fragen nur durch eine sinnvolle Methodenkombination zu beantworten sein werden. Das soll im Folgenden am Beispiel der Videostudie des ‚Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik‘ (IPN) über den Physikunterricht der Sekundarstufe I in Deutschland (Kobarg et al. 2009) illustriert werden.

Ein wichtiger Untersuchungsgegenstand der empirischen Bildungsforschung ist die Frage nach dem Zusammenhang von Unterricht und Lernerfolg. Es ist bekannt, dass bestimmte Unterrichtsmerkmale einen positiven Einfluss auf den kognitiven Lernerfolg der Schüler/innen haben, dazu gehören etwa die effektive Unterrichtszeit, eine effiziente Klassenführung, Klarheit und Strukturiertheit von Lehreräußerungen, angemessen schwierige Lehrerfragen für die Schüler oder auch das Lehrerfeedback (vgl. Helmke 2003). Die meisten dieser Merkmale beziehen sich mittelbar oder unmittelbar auf die Kommunikation im Klassenzimmer, das heißt auf die Qualität von Lehrer- und Schüleräußerungen. Im Rahmen der Videostudie des IPN wurde unter anderem der Einsatz von Experimenten im Physikunterricht, die Art der Lehrer-Schüler-Interaktion und ihr Einfluss auf die naturwissenschaftliche Kompetenz­entwicklung erforscht. Um derartige Zusammenhänge zu ermitteln, wird eine hinreichend große Stichprobe benötigt, um zufällige Ergebnisse zu vermeiden; konkret bedeutet das, es müssen Unterrichtsstunden in 20 bis 40 verschiedenen Schulklassen mit unterschiedlichen Lehrer/innen untersucht werden. Erhoben werden müssen dabei zwei Arten von Daten: solche zum Unterrichtsgeschehen und solche zum Leistungsverhalten der Schüler/innen. Die Leistungsdaten lassen sich über individuelle Tests ermitteln und werden hier nicht weiter thematisiert.

Nun stellt sich die Frage, wie das kommunikative Unterrichtsgeschehen analysiert werden soll. Sowohl für qualitative als auch für quantitative Untersuchungen bilden Videoaufnahmen des Unterrichts die Datengrundlage, deren Verarbeitung erfolgt aber sehr unterschiedlich. Im Rahmen einer qualitativen Studie werden zunächst, wie oben am Beispiel der funktional-pragmatischen Diskursanalyse dargestellt, Transkripte angefertigt, die dann detailliert analysiert werden, um sprachliche Handlungsmuster zu rekonstruieren. Diese bilden die Grundelemente einer zu entwickelnden Theorie, etwa über den Zusammenhang von Handlungsmustern und kognitiver oder kommunikativer Aktivierung der Schüler/innen bei Lehrervortrag, Einzel- oder Gruppenarbeit. Um solch eine qualitativ gewonnene Theorie systematisch zu überprüfen, werden quantitative Untersuchungen benötigt, die anhand einer Stichprobe sprachliche Muster und Lernergebnisse beispielsweise bei unterschiedlichen Unterrichtsthemen, Schülergruppen oder Entwicklungsständen in Verbindung bringen.

Um die Lehrer-Schüler-Interaktion untersuchen zu können, wurden im Rahmen der quantitativen IPN-Videostudie in den aufgezeichneten Unterrichtsgesprächen unter anderem die sprachlichen Handlungen der Lehrer/innen als Nennen von Fakten, Erklären, Instruieren, Nennen von Beispielen und Diktieren erfasst. Beim Fragenstellen wurde erhoben, wie viele Fragen die Lehrpersonen formulieren, welchem Anspruchsniveau diese zuzuordnen sind und wie die Schüler reagieren. Um das feststellen zu können, wurden alle relevanten Äußerungen der Videoaufzeichnung kodiert, das heißt von geschultem Personal einer Kategorie zugeordnet. Solch eine Kodierung ist umso präziser, je besser die Kategorien zuvor im Rahmen einer qualitativen Studie theoretisch beschrieben wurden. Vielfach werden die Kategorien für das Kodieren jedoch eher intuitiv ermittelt, so dass während des Kodierprozesses im Rahmen von Einordnungs- und Entschlussprozeduren laufend Entscheidungen getroffen werden, die das Verfahren zu einem meist nicht reflektierten Interpretationsprozess machen. In der IPN-Videostudie wurden die Lehrerfragen folgenden Kategorien zugewiesen:

„Art der Fragen der Lehrperson: keine Frage/‌offene Frage/‌geschlossene Frage; kognitives Niveau der Fragen der Lehrperson: keine Frage/‌organisatorische Frage/‌Reproduktionsfrage/‌Kurz­ant­wort­frage/‌Langantwortfrage/‌‚Deep-reasoning‘-Frage“ (Kobarg et al. 2009, 415)

So konnte nicht nur festgestellt werden, wie häufig Fragen der verschiedenen Niveaustufen gestellt wurden, es konnte auch ein Zusammenhang zwischen Fragetypen und Lernerfolg bei den Schülern hergestellt werden.

„Die Analyse der Art von Fragen, die Lehrpersonen im Unterricht äußern, zeigt, dass im Physikunterricht der Sekundarstufe I deutlich seltener offene als geschlossene Fragen gestellt werden. Die Betrachtung des kognitiven Niveaus der Lehrerfragen weist darauf hin, dass am häufigsten Fragen gestellt werden, die nur eine kurze Antwort erfordern. Fragen, die eine längere Antwort erfordern oder die Schülerinnen und Schüler zu tiefergehenden Denkprozessen anregen, sogenannte Deep-Reasoning Fragen, werden kaum gestellt.“ (Kobarg et al. 2009, 420)

Mit diesem Ergebnis leistet die IPN-Videostudie sicher einen wichtigen Beitrag zur Analyse der gegenwärtigen Unterrichtssituation. Das Beispiel macht aber auch die Schwierigkeiten des Kodierens deutlich. Es ist ja mitunter nicht nur schwierig zu bestimmen, was eine Frage ist (Abgrenzung von anderen Sprechhandlungen: indirekte Aufforderung „Kommst du mal bitte nach vorne?“, indirekte Drohung „Willst du Ärger?“, indirekte Bewertung „Wo hast du das denn aufgeschnappt?“, Frage mittels Aussage „Das ist alles, was du dazu zu sagen hast?“), sondern noch mehr, was sie bewirkt. Angesichts eines Zitats aus dem Kodierhandbuch der IPN-Videostudie stellt sich die Frage, ob man mit solchen Kodieranweisungen der sprachlichen Realität gerecht werden kann:

„Spezifische Kodierungsregel: Überschneiden sich zwei Kategorien, so wird‚Frage‘ bevorzugt kodiert. ‚Frage‘ wird immer dann kodiert, wenn das Ende der Äußerung eine Frage ist oder die Frage das wesentliche oder die Kernaussage der Äußerung ist. Hierbei ist das Transkript zu beachten. Jede Äußerung, auf die im Transkript ein Fragezeichen folgt, ist eine Frage. Ausnahme: Wird ein Schüler aufgerufen und es folgt auf dieses Aufrufen ein Fragezeichen, so wird diese Äußerung nicht als Frage gewertet.“ (Seidel 2003, 164

Für zukünftige quantitative Studien bietet es sich an, nicht nur bei der Ermittlung der Kategorien auf qualitative Methoden und die mit ihrer Hilfe entwickelten Theorien zurückzugreifen, sondern auch die Kodierungen mit den Ergebnissen von (exemplarischen) Transkriptanalysen zu vergleichen, um dadurch zusätzlich die Objektivität, Reliabilität und Validität der Datenverarbeitung zu erhöhen.

Literatur

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