Falldarstellung

[1] (Bericht einer Grundschullehrerin, anonym)
Ein Kind aus der zweiten Grundschulklasse drohte mich einmal aus meinem sonst recht gut eingefahrenen Geleise zu bringen. Kurti (…) war mir schon in der ersten Klasse aufgefallen, als er während verschiedener Unterrichtssituationen aus unerklärlichen Gründen zu weinen begonnen hatte. Damals dachte ich noch, daß sich dies schon legen werde, und reagierte nicht darauf. Im Verlauf des zweiten Schuljahres wurden die Weinausbrüche mir unbehaglich. Sie belasteten mich; ich begann mich dafür verantwortlich zu fühlen.

[2] Kurtis Weinen brach für mich völlig unerwartet aus. Er schluchzte manchmal leise vor sich hin, ein andermal schüttelten ihn heftige Weinkrämpfe. Es konnte passieren, daß der Junge seinen Kopf zwischen seinen Händen versteckte und sich auf der Tischplatte zusammenkauerte. Das Schluchzen dauerte zwischen 2 und 10 Minuten. In einer Rechenstunde weinte Kurt, weil er von 10 Aufgaben eine nicht richtig hatte. Obwohl ich die Aufgaben nicht benotet und „9 richtig“ dazugeschrieben hatte, begann Kurt zu jammern:

[3] „Ich kann das nicht, ich kann das nicht!“ Meine Aufmunterung: „Du kannst das schon“ und die tröstenden Zusprüche der Mitschüler hörte der Junge nicht. Ein anderes Mal stolperte Kurt beim Malen mit Fingerfarben gegen einen Farbbecher, der am Boden stand, und trat die Farbe im Klassenzimmer auseinander. Ich sagte – meiner Meinung nach eher lustig -: „Kurti, du trägst uns ja die Farbe auseinander“, worauf er in bitteres Weinen ausbrach. Kurt weinte auch,wenn er eine Erklärung nicht sofort verstand. Dabei gehörte er zu meinen besten Schülern.

[4] In einem Seminar erhielt ich Gelegenheit, über die bedrückende Situation zu sprechen. Ich begann eine Art Fallstudie, notierte meine Beobachtungen über Kurt und lud seinen älteren Bruder zu einem Gespräch ein. Erleichtert notierte ich, daß wohl auch Kurts Vater an dem Weinen seines Sohnes beteiligt sein dürfte. Der Bruder erzählte viel von Schlägen, die er bekommen hatte, weil er Kurti gehauen hatte, und von der Angst, die sie beide vor dem Vater hatten. Auch mit Kurtis Mutter führte ich mehrere Gespräche und erfuhr, daß Kurt im Alter von 18 Monaten einen Krankenhausaufenthalt von drei Wochen über sich hatte ergehen lassen müssen und zur Zeit in ärztlicher Behandlung stand (Eisenmangel), sonst aber völlig gesund sei.

[5] Diese Mitteilung beunruhigte mich erneut, da ich Kurts Gesundheitszustand als nicht zufriedenstellend empfand und ich persönlich Kurt so erlebte, als wolle er mir sein schweres Leid mitteilen. Sein trauriger Gesichtsausdruck, seine weinerliche Stimme, diese Weinausbrüche erzeugten in mir wieder Schuldgefühle. Ich begann auch die Mutter abzulehnen, weil ich glaubte, daß sie mich für das Weinen ihres Sohnes verantwortlich machte und die familiäre Lage in rosigen Tönen schilderte. Inzwischen ließ Kurt auch in seinen Leistungen nach. Situationen wie die folgende häuften sich: Die Schüler sollten einen Lückentext ausfüllen. Kurt arbeitete nicht mit, kramte herum und spielte mit seinem Bleistift. Ich ärgerte mich, daß er nicht aufpaßte und dachte mir: „Jetzt paßt er nicht auf, dann wird wieder die große Heulerei kommen.“ Als Kurt dann tatsächlich weinte, sagte ich nur: „Das mußt du nicht schreiben.“ Da heulte er noch mehr. Aber mir war das egal. Ich hatte das Gefühl, Kurt im Stich gelassen zu haben. Ich wollte mich einfach zurückziehen. Mir wurde alles zuviel.

[6] Im Seminar wurde mir vorgeschlagen, die Kinder ein Lerntagebuch führen zu lassen, um aus den Eintragungen eventuell Aufschlüsse über Kurt zu erhalten. Dieser Vorschlag gefiel mir. Eines Tages schrieb Kurt in sein Tagebuch: „Heute hat mir gefallen, daß ich nicht weinte.“
Einen Tag später fand ich die Eintragung: „Heute hat mir die Mathe-Stunde am besten gefallen, weil mir die Lehrerin geholfen hat.“
Beim Durchlesen meiner eigenen Aufzeichnungen über Kurt fiel mir auf, daß ich hauptsächlich Wein-Situationen gesammelt hatte und angenehme Erlebnisse mit ihm nur sehr spärlich vorkamen. Aber es schien nun, als wenn Kurt und ich eine Art Waffenstillstand geschlossen hatten. Ich „übersah“ Kurt. Eines Tages blutete er stark aus der Nase. Ich war nicht bereit, ihm zu helfen, und schickte nach dem Schulleiter. Bei der Beobachtung meines eigenen Verhaltens machte ich eine eigenartige Entdeckung: Kurts weinerliche, verzagte Stimme brachte mich in Erregung. Irgendwie begleitete sie mich überall hin. Plötzlich sah ich mich selbst als weinendes, verzagtes Kind und hörte mich selber, so wie Kurt, sagen: „Ich kann das nicht.“ Aber niemand war da, der mich ermutigte und sich um mich kümmerte, der mir sagte: „Das kannst du wohl, versuch es nur.“ Das war für mich ein Schlüsselerlebnis. Ich dachte lange darüber nach.

[7] Kurts Weinen hörte nicht mit einem Schlag auf. Aber es wurde immer seltener. Und mich bedrückte es nicht mehr so sehr. Ich glaube, ich konnte Kurt nun doch ein bißchen besser verstehen.

Interpretation

(Axel Krefting)

Gegenübertragung und der verborgene Sinn der Geschichte

[8] Die Beachtung meiner inneren Reaktionen beim Lesen des Textes, meine Gegenübertragung, ergänzt den Inhalt des kleinen Aufsatzes also einerseits mit intrapsychischen Konfliktthemen, die um die Bereiche: Unterdrückung und Auflehnung, Passivität und Aktivität, um Selbstbehauptung und Unterwerfung sich drehen; diese schon in der „Zwischenphantasie“ aufgeworfenen Gefühle entstammen hauptsächlich der analen Entwicklungsphase und konstituieren ein sado-masochistisches Szenario. Andererseits – und dies ist wesentlicher für das Verhältnis des Autors zum Text und zur Lehrerin – verspüre ich massive Konkurrenzgefühle, und es ist zu fragen, welche Bewandtnis es mit diesen Gefühlen hat.

[9] Einen Moment schweifen meine Gedanken noch ab zur Institution Schule, der ich auch in gewissen Aspekten einen sado-masochistischen Charakter zuschreiben würde, indem sie, ganz im Gegensatz zu ihrer Ideologie, autonome Wesen hervorbringen zu wollen, die Bravheit und Angepasstheit, d. h. Unterwerfung belohnt. (Ich erinnere mich an einen kindlichen (?) Stolz noch in den Studentenjahren, dass ich immer zu den schlechtesten Schülern auf dem Gymnasium gehörte.) Aber auch das Leistungsprinzip, denke ich weiter, ist Teil einer Brechung von Autonomie; insofern die prätendierte Leistung nicht die Entwicklung der Persönlichkeit, den Spaß an den je eigenen Begabungen und Fähigkeiten fördert, sondern als Schlacht um den Rang zur Erscheinung kommt, wiederholt die Schule lediglich familial reproduzierte Konflikte der Gesellschaft und vermag keine andersartigen sozialen Erfahrungen zu vermitteln. Und ich glaube, dass ich nicht falsch liege mit meiner Vermutung, dass dies auch gar nicht beabsichtigt ist, im Gegensatz zu den sonntagsredenhaften Beschwörungen des Gegenteils. Wie jeder weiß, besteht die Heuchelei des Leistungsprinzips darin, dass es in Wahrheit das Konkurrenzprinzip ist, welches den Kampf aller gegen alle befördert.

[10] Doch diese gedanklichen „Abschweifungen“, begleitet von Emotionen des Ärgers und der Auflehnung, des Spottes, die hauptsächlich mein gefühlshaftes „Echo“ auf den Aufsatz ausmachen, machen mit deutlich, dass ich mich in scharfe Konkurrenz zur Lehrerin begeben habe und dass ich in den spöttischen und aggressiv kritischen Gedanken ein Mittel gefunden habe, mich der Lehrerin überlegen zu fühlen. Ich vermute, dass dieses deutlich konturierte Konkurrenzthema auch zwischen Lehrerin und Schüler und in diesem selbst eine erhebliche Rolle spielt. Dazu passt, dass ich mich diebisch freue zu lesen, wie sie sich abstrampelt, Kurtis Weinen zu besiegen, und wie er sich „behauptet“, sich das Weinen nicht nehmen lässt.

[11] Eine andere kleine Boshaftigkeit gestatte ich mir mit dem Gedanken, dass die Lehrerin lediglich aus eigenem pädagogischen Ehrgeiz handelt, den sie vor sich als Verantwortung für den Schüler verklärt, und dass sie in ihrer Rolle als machtvoll kompetente Lehrerin ihr Selbstwertgefühl stabilisieren will. Ich hoffe, man versteht mich nicht falsch. Ich sage nicht, dass es so ist. Ich sage nur, dass mir als Gegenübertragung solche kritisch-aggressiven und abwertenden Gedanken kommen. Da ich aber zusätzlich mir, nicht verhehlen kann, dass diese Gedanken mir Spaß machen und dass ich die darin zum Ausdruck kommende Aggressivität nicht zurückhalten, sondern mit einer gewissen Lust veröffentlichen will, drängt sich ein weiterer Gedanke auf, der mir für die intrapsychische Dynamik Kurtis, vielleicht auch der Lehrerin, am wichtigsten scheint.

Aggressionslust und Aggressionshemmung

[12] Ich frage mich, ob diese, gewissermaßen exhibierte, Aggression dann nicht vielleicht komplementär zu einer gehemmten Aggression sich verhält, die sowohl Kurtis Problem sein könnte als auch ein wesentliches der Interaktion zwischen Lehrerin und Schüler. Das Konfliktgeschehen sähe dann so aus, dass, besonders in der Schule, durch vielerlei Umstände angeregte Macht- und Konkurrenzbedürfnisse sich keinen adäquaten Ausdruck verschaffen können, weil die dazu notwendige Aggressivität nach außen hin gehemmt ist und sie sich, bei Kurti, gegen die eigene Person wendet; und daher die schmerzlichen, im Weinen sich ausdrückenden Gefühle von Resignation evoziert – und zwar dann, wenn irgendetwas, was für einen Beobachter eine Kleinigkeit sein mag, den Stolz von Kurti kränkt. Da ist es dann nicht so wichtig, ob seine erbrachte Schulleistung objektiv gut ist. Für Kurti scheinen viele Vergleichssituationen mit anderen Schülern sehr heikel und geeignet zu sein, sich als Verlierer zu erleben, aus Gründen, die wir nicht wissen können und die in seiner Lebensgeschichte verborgen sind. Auf der anderen Seite aber ist auch die Lehrerin auf spezifische Weise in diesem Geschehen involviert. Irgendetwas zwingt sie, sich intensiv auf Kurti einzulassen.

[13] Es scheint ihr aber vorbewusst klar zu sein, dass sie ihrerseits in einen Machtkampf mit Kurt verstrickt ist (so wie der Autor dieses Aufsatzes mit der Lehrerin und der Institution Schule), der ohne das Vorhandensein von Aggressivität nun mal nicht vor sich gehen kann. Wie sonst könnte sie von einem „Waffenstillstand“ sprechen, den beide geschlossen hätten. Nur „übersieht“ sie Kurti wieder. Sogar als er einmal aus der Nase blutet, ist sie nicht bereit, ihm zu helfen, stattdessen „schickt“ sie, eine feudale Formulierung, „nach dem Schulleiter“. Diese Aussagen beziehen sich auf eine Phase in der Beziehung zu Kurt, in der die Lehrerin erneut Abstand gewinnen wollte. Es scheint, als wolle sie mit etwas nicht in Berührung kommen, dass sie sich gegen die Bewusstmachung von etwas sträubt, das in ihr durch die Interaktion mit Kurt jedoch aufgeweckt wurde und sie bedrängt, dass sie Kurt deshalb nicht helfen, gleichwohl von dem Versuch nicht lassen kann, sich gegen ihn als erfolgreiche Pädagogin durchzusetzen. Da sie eigenen, sie selbst bedrängenden Wahrnehmungen die Aufmerksamkeit entziehen, sie verdrängen muss, weiß sie nicht, was in ihr selbst vorgeht, was sie treibt; daher weiß sie auch nicht, was Kurt bedrückt. Mir scheint, dass sie in konkordanter Gegenübertragung zu ihm auch einen Kampf um die eigene Bedeutung und Selbstbehauptung führt, vor dem sie zugleich ambivalent ständig zurückschreckt, weil ihr dazu in diesem Fall eine Prise konstruktiver, nach außen gerichteter Aggressivität fehlt. Diese gehemmte Aggressivität, die von der Sorge um Kurt überlagert ist – und in psychoanalytischer Terminologie eine Reaktionsbildung darstellt -, wird damit aber nicht neutralisiert. Diese richtet sich, wie bei Kurt, gegen die eigene Person und bedingt ihre selbstquälerische und lästige Beschäftigung mit dem Schüler, die für lange Zeit so doch zu nichts führte.

[14] Erst die psychoanalytische Lesart des Textes und die Zentrierung der Gegenübertragung auf den Machtkampf und die Aggressionslust fügen das fehlende, bisher latente Zwischenglied ein, welches sowohl den Text als auch die darin beschriebenen Probleme beider Personen verständlicher macht. Es ist nicht Kurt, sondern ein Teil von ihm, mit dem die Lehrerin sich unbewusst identifiziert, aber mit einem Teil, den sie bisher vor sich selbst verbergen wollte. Es ist das verzagte Kind, das nach den eigenen Idealen in der Konkurrenz sich behaupten und durchsetzen will, andererseits aber das Quantum Aggressivität dazu nicht aufbringen kann und daher in einem Dilemma bleibt: Setzt es sich durch, hat es Schuldgefühle; erlebt es etwas als Niederlage, als Kränkung seiner narzisstischen Bedürfnisse, muss es depressiv reagieren. Es handelt sich, kurz gesagt, um die Hemmung aggressiv getönter und für die Realitätsanpassung in gewissem Maße notwendiger Konkurrenz- und Selbstbehauptungswünsche. Diese, hauptsächlich in der Gegenübertragung des Autors zur Lehrerin sich akzentuierenden Konfliktfiguren scheinen das im Text verborgene Verbindungsglied auszumachen, welches zu einer anderen perspektivischen Betrachtung der beschriebenen Probleme verhilft.

[15] Die Lehrerin jedoch hat eines Tages noch das, was sie ein „Schlüsselerlebnis“ nennt. Sie entdeckt ihre Identifizierung, sieht sich selbst von Kurt als Kind gespiegelt, das damals auch weinen musste und sich ihm auferlegten Anforderungen nicht gewachsen fühlte. Indem sie diese Identifikation erkennt, dass die Sorge um Kurt auch dem Kind gilt, das sie selbst war und ist, kann sie sich aus dieser unproduktiven Verstrickung lösen und ein anderes Verständnis für Kurt entwickeln. Nun ist sie wieder eine erwachsene, von ihm getrennte Person, die Kurtis Konflikt nicht nur besser aushalten, sondern auch besser damit umgehen kann, zumal das Weinen als Symptom seines Aggressions- und Konkurrenzproblems seltener wurde.

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