Hinweis – diese Falldarstellung ist Teil des Lehrtextes zur Dokumentarischen Methode und kann gemeisam mit dem Fall „Die Gruppe Mango“ gelesen werden.
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Der konjunktive Erfahrungsraum Schule (1)
Fall 2: Die Gruppe Apfel(2)
Der hier interpretierte Ausschnitt stammt aus einer Gruppendiskussion mit einer Gruppe von Schülern eines Gymnasiums, die sich im 13. Jahrgang im Fach Religion mit dem Thema Globalisierung beschäftigt hatten. Die Schule ist derjenige konjunktive Erfahrungsraum, der die Mitglieder der Gruppe Apfel verbindet. Hier wird nun eine Sequenz aus dem Nachfrageteil der Gruppendiskussion analysiert, in der die Diskussionsleiterin das Thema Schule initiiert. Auf die Nachfrage hin entwickelt sich ein interaktiv dichter und weitgehend selbstläufiger Diskurs, der als Fokussierungsmetapher identifiziert werden kann. (3)
Diskursbeschreibung (4)
Bereits in der deutlichen und emotional besetzten (lachenden) Zustimmung zu der Proposition von Dm („also bestimmte Lehrer, darauf scheiß ich, was die sagen“) dokumentiert sich Distanz und Gleichgültigkeit der Gruppe gegenüber der Schule bzw. den Lehrern. Von besonderer Bedeutung für die Gruppe sind der Lehrer und seine Persönlichkeit. Dieses wird mehrfach von anderen Gruppenmitgliedern validiert, das Thema wird im weiteren Diskurs fokussiert.
Auf Nachfrage der Forscherin elaborieren die Jugendlichen zunächst, was diese Lehrer ausmacht, deren Wort Gewicht hat. Genannt wird zunächst die Autorität, ohne dass dieser Begriff näher erläutert wird. Im weiteren Diskursverlauf schildern die Jugendlichen, worin die Autorität eines Lehrers besteht: authentisches Wissen und eine angemessene Beziehung zu den Schülern und Schülerinnen. Während die Qualität, die von dem Wissen der Lehrkräfte erwartet wird, ausführlich beschrieben wird, beschränkt sich die Qualifizierung der bevorzugten Lehrer-Schüler-Beziehung in der Benennung dessen, wie sie nicht sein soll, nämlich unglaubwürdig kameradschaftlich („nicht diesen Freundschaftlichen“). Hier dokumentiert sich das Interesse der Schüler an Authentizität: freundschaftliche Beziehungen der Lehrer werden kritisiert, weil sie nicht authentisch sind. Zusammengefasst wird die Beschreibung des idealen Lehrers mit dem Begriff „Glaubhaftigkeit“. Das Wort „Glaubhaftigkeit“ stellt dabei eine Kombination der Begriffe Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit dar. Insgesamt können diese Bezeichnungen mit dem Oberbegriff der Authentizität umschrieben werden.
Zur Verdeutlichung elaborieren die Jugendlichen anschließend als Gegenhorizont den Typus des nicht glaubhaften Lehrers. Die Interaktivität des Diskurses und die Konkretheit der Beispiele lassen darauf schließen, dass diese Beschreibung erfahrungsbasiert ist: Der nicht glaubhafte, nicht authentische Lehrer zeichnet sich zunächst durch Inkompetenz aus: Er kann die einfachsten Rechenaufgaben nicht lösen und ist nicht in der Lage, Hochdeutsch zu sprechen – eine Fähigkeit, die die Jugendlichen als Voraussetzung für das Unterrichten im Gymnasium ansehen. Ferner kritisieren die Jugendlichen Lehrkräfte, die ihre eigenen Fehler nicht eingestehen können und eigene Fehler auf andere, z.B. die Schüler und Schülerinnen, schieben. In dieser Beschreibung des nicht-authentischen Lehrers werden im Negativhorizont zwei weitere Merkmale deutlich, wie sie sich die Schüler der Gruppe Apfel die Lehrerpersönlichkeit idealerweise wünschen: Fachliche Kompetenz bedeutet Authentizität nicht nur im Hinblick auf das Wissen, das die Lehrer vermitteln, sondern auch im Hinblick auf das Nichtwissen der Lehrkräfte. Lehrer sollen in den Augen der Gruppe Apfel dazu stehen können, dass sie nicht alles wissen können bzw. auch Fehler machen.
Mit Verweis auf den Respekt, den die Jugendlichen den Lehrern entgegenbringen, wird das Thema abgeschlossen. Der Respekt, den die Jugendlichen den Lehrern gegenüber empfinden, ist in deren Glaubhaftigkeit, also in deren Authentizität begründet. Hier dokumentiert sich die Vorstellung eines reziproken Verhältnisses zwischen Lehrern und Schülern, das von gegenseitigem Respekt geprägt ist. Die umgekehrte Erwartung an einen respektvollen Umgang der Lehrer mit den Schülern, ist in der Schilderung des authentischen Lehrers, der sich auch gegenüber den Schülern fair und ehrlich verhält, impliziert. In der abschließenden Konklusion wird allerdings ausgesagt, dass die Lehrer, für die die Schüler Respekt empfinden, in der Minderzahl sind. Vor den meisten Lehrern haben die Jugendlichen vielmehr explizit keinen Respekt. Hierin dokumentiert sich ein distanziertes Verhältnis zur Schule, das in der Darstellung der Jugendlichen durch die Lehrkräfte und ihre Art und Weise zu unterrichten begründet ist.
Fallvergleich(5)
Die Distanz zur Schule wird deutlich im Vergleich mit den Schülerinnen, die sich über den Unterricht hinaus in Schulprojekten engagieren (z.B. Mango I). Dort werden die Lehrer/innen als Partner beschrieben und das schulische Milieu kann als eine für die Jugendlichen relevante konjunktive Handlungspraxis rekonstruiert werden, in der sich Lernprozesse im Sinne Globalen Lernens ereignen. Für die Mitglieder der Gruppe Apfel hat die Schule hingegen keine orientierende Funktion; das im Unterricht vermittelte bzw. angeeignete Wissen bleibt theoretisches, kommunikatives Wissen, das nicht handlungspraktisch wird (vgl. ausführlich Asbrand 2006).
Fußnoten
(1) Der Begriff des konjunktiven Erfahrungsraums geht auf die Wissenssoziologie Karl Mannheims zurück und wurde von Ralf Bohnsack in die erziehungswissenschaftliche qualitativ-empirische Forschung eingeführt (Bohnsack 2006, S. 59ff). Grundlegend ist dabei die Annahme, dass habitualisiertes Wissen in sozialen Zusammenhängen angeeignet wird, die sich durch geteilte Erfahrungen auszeichnen (ebd.). Konjunktive Erfahrungen sind häufig auch in einer gemeinsamen Handlungspraxis von Menschen begründet. So teilen beispielsweise auch Schüler/innen einer Schulklasse oder einer Schule fundamentale Erfahrungen, die die Konstruktion von Wissen und Orientierung bestimmen.
(2) aus: Asbrand, B.: Orientierungen in der Weltgesellschaft Eine qualitativ-rekonstruktive Studie zur Konstruktion von Wissen und Handlungsorientierung von Jugendlichen in schulischen Lernarrangements und in der außerschulischen Jugendarbeit. Habilitationsschrift Universität Erlangen-Nürnberg 2006, S. 93ff.
(3) ) Als ‚Fokussierungsmetaphern‘ werden Sequenzen bezeichnet, die sich durch interaktive Dichte bzw. eine erfahrungsbasierte, narrative und metaphorische Darstellungsweise auszeichnen und in denen sich der Orientierungsrahmen einer Gruppe dokumentiert (Bohnsack 2006, 136ff).
(4) Die Diskurs- oder Fallbeschreibung stellt entsprechend der dokumentarischen Methode die zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse der beiden Interpretationsschritte formulierende und reflektierende Interpretation dar (Bohnsack 2006, S. 139ff).
(5) Im Prozess der dokumentarischen Interpretation spielt die komparative Analyse eine zentrale Rolle. Denn das Besondere des Einzelfalls wird nur innerhalb des systematischen Fallvergleichs empirischer Vergleichshorizonte deutlich. Dabei zielt die dokumentarische Methode auf Erkenntnisse, die vom Einzelfall abstrahieren und darüber hinaus von Bedeutung sind (Bohnsack 2006, S. 135ff). Die komparative Analyse in ihrer Mehrdimensionalität kann im Rahmen dieses Fallbeispiels nicht abgebildet werden.
Literatur
Asbrand, Barbara: Orientierungen in der Weltgesellschaft Eine qualitativ rekonstruktive Studie zur Konstruktion von Wissen und Handlungsorientierung von Jugendlichen in schulischen Lernarrangements und in der außerschulischen Jugendarbeit. Habilitationsschrift Universität Erlangen-Nürnberg 2006.
Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 6. Aufl. Opladen 2006.
Bohnsack, Ralf/ Loos, Peter/ Schäffer, Burkhard/ Staedtler, Klaus/ Wild, Bodo: Die Suche nach Gemeinsamkeit und die Gewalt der Gruppe. Hooligans, Musikgruppen und andere Jugendcliquen im Vergleich. Opladen 1995.
Nentwig-Gesemann, Iris/Streblow, Claudia/ Bohnsack, Ralf: Schlüsselerlebnisse und Lernprozesse Jugendlicher in zukunftsqualifizierender Projektarbeit. Eine programmübergreifende Analyse. In: Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (Hrsg.): Jung. Talentiert. Chancenreich? Beschäftigungsfähigkeit von Jugendlichen fördern. Opladen 2005, S. 47 – 90.
Schäffer, Burkhard: Die Band. Stil und ästhetische Praxis im Jugendalter. Opladen 1996.
Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.