Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Das erste Fallbeispiel entstammt einer Gruppendiskussion mit Jungen eines nordrheinwestfälischen Gymnasiums, die sich auch außerhalb der Schule als fester Freundeskreis verstehen (vgl. hierzu Wiezorek u.a. 2006; Fritzsche u.a. 2006). An einer Stelle werden die sechs Jungen, von denen einer über einen Migrationsstatus verfügt, nach ihrem „Kontakt zu ausländischen Jugendlichen“ befragt. Es entspinnt sich daraufhin folgender Dialog:

Die Jungen verneinen die Frage der Interviewerin: Mit „richtigen“ Ausländern haben sie keinen Kontakt. Die Differenzierung zwischen Ausländern und „richtigen“ Ausländern geschieht dabei durch eine Intervention von Elvir, dessen Mutter Phillipinerin ist, und der sich offenbar den Ausländern zugehörig fühlt. Für Elvirs deutsche Freunde ist der Status des Ausländers anders als für ihn selbst nicht (nur) über die ethnische Zugehörigkeit bestimmt, sondern vor allem über die (Nicht-)Zugehörigkeit zum deutschen Staat. Elvirs Status wird von den anderen also neutralisiert: Er, der in Deutschland geboren ist, der die deutsche Sprache akzentfrei spricht und dessen Vater Deutscher ist, ist in ihrem Verständnis – ähnlich den „eins zwei Leute(n)“, die „halb polnisch“ oder „Halbtürke“ sind – kein „richtige(r)“ Ausländer, er ist „deutsch“. Die „richtigen“ Ausländer sind solche, die keine verwandtschaftliche oder staatsbürgerliche Zugehörigkeit zu den Deutschen nachweisen können. Die Frage nach dem Umgang mit ausländischen Jugendlichen wird hier also als eine nach dem Umgang mit solchen Jugendlichen reinterpretiert, die neben einer anderen nationalen oder ethnischen Zugehörigkeit weder über ein deutsches Elternteil noch über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügen. Dabei zeigt sich einerseits, dass für den Umgang der Freunde miteinander die Frage der ethnischen Herkunft irrelevant ist: Dass die Jungen, indem sie mit Elvir umgehen, überhaupt mit Ausländern Kontakt haben, muss ihnen von Elvir erst ins Bewusstsein gerufen werden. Andererseits werden zwei konträre Positionen in der Bestimmung dessen deutlich, was ein Ausländer ist. Während Elvir sich selbst als „Ausländer“ sieht, wird ihm von den anderen abgesprochen, zu den „richtigen“ Ausländern zu gehören. Es entwickelt sich hier allerdings keine Auseinandersetzung darüber. Mit Clemens Hinweis darauf, dass die Jungen zu „richtigen“ Ausländern eher keinen Kontakt haben, ist die Passage zunächst beendet. An anderer Stelle bringt Elvir seine Position erneut ein:

Elvir, der sich zur Feststellung der anderen Jungen, dass er nicht zu den „richtigen“ Ausländern zähle, zunächst nicht äußerte, bringt an dieser Stelle die Diskrepanz in der Wahrnehmung dessen, was ein Ausländer ist und wie sich der Kontakt zu diesen gestaltet, mit der Thematisierung von Levent wieder ein. Mit Levent, einem türkischen Schüler aus der Nachbarklasse, stehen die Jungen in einem Konflikt, der im Untersuchungszeitraum an dieser Schule einen Höhepunkt erreichte (vgl. Wiezorek u.a. 2006). In der Rekonstruktion dieses Konfliktes zeigte sich, dass die Auseinandersetzungen der Jungen über gegenseitige Abwertungen verlaufen. Diese rühren aus Differenzen der unterschiedlichen kulturell habituellen und schichtspezifischen Lebensentwürfe und Identitätsmuster her, und werden die über die jeweilige (jugend-)kulturelle Einbettung getragen. Neben der (gegenseitigen) Herabwürdigung des sozialen Status wurde sichtbar, dass eine der Linien, über die die Geringschätzung von Levent seitens dieser Jungengruppe erfolgt, dessen ethnische Zugehörigkeit ist. Den deutschen Jungen, die sich als linke Jugendliche verstehen, blieben die fremdenfeindlichen Implikationen ihres Handelns allerdings unzugänglich (vgl. ebd.). Elvirs Thematisierung von Levent weist nun darauf hin, dass zumindest er die Herablassung der Jungen ähnlich wie Levent als eine über die Ethnie verlaufende Abwertung wahrgenommen hat. Gleichsam irritiert er die Feststellung Davids, keine „Probleme“ mit Ausländern zuhaben. Implizit insistiert er damit erstens auf seine Sicht dessen, was ein Ausländer ist. Zweitens bezieht er gegenüber David eine oppositionelle Position: Nach seinem Dafürhalten haben die Jungen doch „Probleme“, und dafür steht nach seiner Ansicht der Konflikt mit Levent.

Das Gespräch spaltet sich im weiteren Verlauf: Mirko teilt, indem er sich auf andere Jugendliche „am Nordpark“ bezieht, die oppositionelle Position Elvirs und damit dessen Sicht davon, was ein Ausländer ist. Dem gegenüber betonen die anderen, dass die Konflikte mit Levent und den anderen Jugendlichen nicht unter die Kategorie ‚Probleme mit Ausländern’ fallen, weil alle Angesprochenen, gleichwohl sie zwar türkischer Nationalität sind, keine Ausländer in ihrem Verständnis sind, da sie über die „deutsche Staatsbürgerschaft“ verfügen. Die Differenzierung zwischen Ausländern und Deutschen wird hier von Sascha, David und Clemens abermals an der Staatsbürgerschaft festgemacht, die sich auf den rechtlichen Status der Person bezieht. Nivelliert werden in dieser Perspektive allerdings Unterschiede der Lebensweise und des Umgangstils, die aus der Eingebundenheit in andere Herkunftskulturen und Traditionslinien herrühren und die – in Bezug auf Levent – für die Jungen einen negativen Bezugspunkt der eigenen Verortung darstellen. Dabei wird nicht geleugnet, dass die Jungen Konflikte mit Levent und den anderen türkischen Jugendlichen haben. Aber der Sicht, dass dies Konflikte seien, die in die Kategorie ‚Probleme mit Ausländern’ fallen, wird widersprochen. Das heißt, die Jungen negieren hier, dass ihren Konflikten mit den türkischen Jugendlichen auch eine Abwertung der ethnischen Zugehörigkeit zueigen ist. In der Bezeichnung „Assitürken“ kommt diese Abwertung allerdings deutlich zum Ausdruck.

Zudem zeigt sich, dass die Frage, wie sich der Umgang der Jungen mit ausländischen Jugendlichen gestaltet, sich implizit zu einem Diskurs darüber entfaltet, was ein Ausländer eigentlich ist. Dabei diskutieren die Jungen ihr gegensätzliches Verständnis nicht aus; das Thema wird aber von Mirko schließlich auf einer Metaebene expliziert. Er gibt die kategoriale Bestimmung dessen, was ein Ausländer ist, schließlich an die Interviewerin zurück: „was meinen Sie jetzt direkt eh mit Ausländern?“

Das Thema des Umgangs mit Ausländern wird somit auf zwei Ebenen bearbeitet. Einerseits geht es darum, sich zum Umgang mit ausländischen Jugendlichen zu äußern: Unter dem Hinweis, dass Ausländer nur solche sind, die nicht über die deutsche Staatsbürgerschaft verfügen, insistieren David, Sascha und Clemens darauf, keine Probleme zu haben. Elvir und Mirko widersprechen dieser Ansicht, indem sie auf Konflikte mit Levent und anderen türkischen Jugendlichen hinweisen. Dies zeigt ein anderes Verständnis dessen an, was ein Ausländer ist. Damit ist andererseits die Frage, was ein Ausländer eigentlich ist, thematisch; hier zeigen sich zwei unterschiedliche Positionen. In diesem Sinne geht es in der Sequenz um Fragen der Begriffsklärung; Elvir steht qua Person für die eine Definition („ich bin ein Ausländer“); David, Sascha und Clemens entfalten mit dem Hinweis auf den „deutschen Pass“ die andere. Über die Elaboration des jeweiligen Verständnisses davon, was (k)ein Ausländer ist, wird die Diskrepanz beider Positionen offensichtlich. Die sich aufdrängende Frage der Klärung wird in der Rückfrage an die Interviewerin expliziert. Abstrahiert vom eigentlichen Thema – Umgang mit Ausländern – soll zunächst geklärt werden, was ein Ausländer ist.

Die unterschiedlichen Sichtweisen in der Gruppe führen also zu einer Metakognition: Es existiert ein abstrakt theoretisches Problem in Hinsicht auf den Begriff des Ausländers. Dieses Problem wird hier als eines der Kategorienklärung erkannt und schließlich benannt: Dabei werden die vorhandenen Vorurteile gegenüber Levent und den türkischen Jugendlichen einerseits ‚rationalisiert’; pragmatisch sind diese hier nicht relevant, da es sich bei den Jugendlichen nicht um Ausländer handle. Andererseits, in der Bestimmung des Ausländers über seine ethnische Zugehörigkeit, lässt sich der Vorwurf, „Probleme“ mit Ausländern zu haben, nicht gänzlich beseitigen. Dass Mirko die Aufgabe der Klärung an die Interviewerin zurück gibt, macht hier darauf aufmerksam, dass er hier dem Austragen der Meinungsverschiedenheiten in der Gruppe vorbeugt – dass die Jungen hier keinem gemeinsamen Orientierungsrahmen folgen, muss so nicht offen thematisiert werden. Deutlich wird aber, dass das Erkenntnisinteresse darauf ausgerichtet ist, das Problem unterschiedlicher Deutungen dessen, was ein Ausländer ist, zu klären. Offenbar ist die Kategorie des Ausländers für die Interaktion unter den Freunden selbst praktisch irrelevant. Diese Irrelevanz zeigt sich nun nicht gegenüber den türkischen Jugendlichen, mit denen die Jungen nicht befreundet sind. Ihnen gegenüber kommt stattdessen im Ausdruck „Assitürken“ eine Herablassung zum Ausdruck und zwar eine, die sich auch auf die ethnische Zugehörigkeit bezieht. Indem Sascha, Clemens und David den Jugendlichen aber zugleich absprechen, Ausländer zu sein, negieren sie implizit diese – neben dem sozialen Status – auf die Ethnie bezogene Abwertung. Und in Bezug hierauf erscheint die metakognitive Klärung dessen, was ein Ausländer ist, als ‚Intellektualisieren’, d.h. als kognitive Glättung der ‚Dissonanz’ zwischen der Abwertung der türkischen Jugendlichen und dem Statement, keine „Probleme… mit denen“ zu haben: Trotz der intellektuellen Fähigkeiten wird im Ausdruck „Assitürken“ eine implizit fremdenfeindliche Herablassung sichtbar, die sich auf die Vorenthaltung der grundlegenden Achtung vor dem Anderen als einem Gleichen bezieht. Erkennbar ist hier also eine Diskrepanz zwischen kognitiver Kompetenz sowie sprachlicher Elaborationsfähigkeit, die auf ein hohes Bildungsniveau verweisen, und der demokratischen Fähigkeit grundlegend achtungsvollen Umgangs miteinander. Diese Diskrepanz verdeutlicht die – im Hinblick auf die Schulform differente Förderung kognitiver Kompetenz –Eigenständigkeit desjenigen Bildungsaspektes, der auf die Einübung in den demokratischen Umgang zielt, aus der die Anerkennung des Gegenübers als einem Gleichen hervorgeht. Offenbar gehört dieser Aspekt zu einem Bildungsbereich, der quer zur Förderung kognitiver Kompetenz und damit auch quer zum formalen schulischen Bildungsgang liegt.

Gerade darauf verweist auch das zweite Fallbeispiel (vgl. Fritzsche/Wiezorek 2006): In einer Gruppendiskussion mit sieben Jugendlichen einer Hauptschulklasse in NRW, von denen drei einen Migrationshintergrund aufweisen, werden die Schüler nach einem allgemeinen Eindruck von ihrer Schule gefragt. Auf diese wird durch die Jugendlichen insgesamt positiv Bezug genommen, vor allem im schulformbezogenen Vergleich mit anderen Hauptschulen ist ihre Schule – so Melissa – schließlich „ganz in Ordnung“:

Vor dem Gegenhorizont eines Bildes von „manchen“ Hauptschulen, die eine Reihe von Belastungen wie Drogenhandel und -konsum aufweisen, erscheint die eigene Schule „korrekt“. Melissa spricht an dieser Stelle weiter, indem sie auf den anderen Schulteil der Schule verweist, der 5 Minuten entfernt von ihrem Schulstandort liegt, und in dem analog zu ihrem zweizügig die 5. – 10. Klasse unterrichtet werden:

Abgesehen davon, dass hier deutlich wird, dass die Schüler unter der eigenen Schule nur denjenigen Schulteil verstehen, den sie selbst besuchen, interessiert hier, dass Melissa den schlechten Ruf des anderen Schulteils damit in Verbindung bringt, dass da „auch viele Ausländer (drauf)“ sind. Erstens wird der Verweis auf die Ausländer von ihr hier ähnlich stichworthaft in die Runde gebracht wie weiter oben „Drogen Hehlerei und bla bla bla“ – und dies ebenfalls im Tenor des „schlimm(en)“. Zweitens erfolgt der Verweis auf die Ausländer hier als ein beispielhafter Beleg gerade für die Problematik des Schulteils: Implizit wird von Melissa den nichtdeutschen Schülern des anderen Schulteils eine Verantwortung für dessen Zustand zugesprochen. Hier erfolgt eine pauschale Zuschreibung von delinquenten Eigenschaften an die Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft. Darin kommt das gängige fremdenfeindliche Stereotyp der auf Überfremdungsangst verweisenden Kriminalitätsfurcht in Bezug auf Ausländer zum Ausdruck. Darüber hinaus zeigt sich eine latente Fremdenfeindlichkeit in der projizierenden Schuldzuweisung, nach der es an den Ausländern liege, dass der andere Schulteil solche Schwierigkeiten hat, den Migrantenjugendlichen kommt hier eine Sündenbockfunktion zu. Interessant ist, wie die anderen der Gruppe auf diese Zuschreibung reagieren:

Astrid, wie Melissa eine deutsche Jugendliche, insistiert lachend, dass es auch in ihrem Schulteil viele Ausländer gäbe. Das heißt, sie reagiert genau auf das Thema des Zusammenhangs von Ausländeranteil und Delinquenzbelastung im schulischen Milieu, dies aber, ohne dass der Zusammenhang an sich expliziert wird. Implizit entkräftet sie mit ihrem Hinweis das Argument Melissas, dass der hohe Ausländeranteil des anderen Schulteils ein Beleg dafür wäre, dass dieser Schulteil „schlimm“ sei, denn der eigene Schulteil wurde unabhängig davon, wie viele Migranten hier zur Schule gehen, positiv evaluiert. Indem sie lachend Stellung bezieht, signalisiert sie Melissa wohlwollend, dass diese mit ihrer Unterstellung wohl nicht ganz ernst zu nehmen sei. Das heißt, Melissa wird für die Äußerung eines fremdenfeindlichen Stereotyps nicht angegriffen, ihre Äußerung erfährt aber eine hohe Relativierung. Das Ganze wird gesteigert durch Jeany – eine Jugendliche mit Migrationshintergrund –, die auf Astrids Insistieren zunächst lachend-provokativ das Gegenteil behauptet, bevor sie letztlich Astrids Insistieren bestärkt: Die Zuschreibung Melissas, dass ein „schlimmer“Zustand einer Schule etwas mit dem Ausländeranteil zu tun habe, wird über den Hinweis, dass auch da, wo man sich im Großen und Ganzen wohl fühlt, „viele Ausländer“ sind, gründlich irritiert. Nun ergreift Tonne, ebenfalls einer der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, das Wort:

Er fragt in die Runde, wer von den anwesenden Schülern „Deutscher“ sei, woraufhin sich die vier deutschen Schüler melden. Einerseits ist dies ein Zeichen dafür, dass die Jugendlichen die ethnische Herkunft des anderen gar nicht unbedingt kennen, was – ähnlich wie in der gymnasialen Jungengruppe in Bezug auf Elvir – auf die Irrelevanz der Frage der ethnischen Herkunft für den alltäglichen Umgang untereinander hinweist. Andererseits erfährt das spaßhafte Ausagieren von Melissas Vorwurf durch Astrid und Jeany eine Wendung: Noch immer wird die Frage nach dem Zusammenhang der Delinquenzbelastung des anderen Schulteils und dem Anteil der dort lernenden Migranten nicht auf einer Metaebene, z.B. als fatale Einstellung von ihr, thematisiert. Nun geht es aber um eine ernsthafte Klärung. Die Behauptung, dass auch im eigenen für gut befundenen Schulteil „viele Ausländer“ lernen, soll exemplarisch an der eigenen Gruppe überprüft werden. Die Klärung der strittigen Frage nach dem Zusammenhang von Ausländeranteil und Delinquenzbelastung einer Schule geschieht gegenstandsbezogen, Melissas Argumentationszusammenhang wird über die konkrete Veranschaulichung widerlegt. Die eigene Gruppe steht für den eigenen Schulteil, und hier sind drei von sieben Schülern solche, die für sich nicht in Anspruch nehmen, Schülern mit Migrationsstatus selbst nicht expliziert wird, nicht angegriffen. Aber das, was sie unterstellt, wird über diese Aushandlung in anschaulicher Weise ad absurdum geführt. Auf Tonnes Aufforderung hin beteiligen sich alle – sie melden sich als Deutscher bzw. tun dies als Migrant nicht, und sie kommentieren das Geschehen lachend. Im scherzhaften Distinktionsversuch von Rolf gegenüber Astrid – der spaßhaft abgesprochen wird, ‚richtige’ Deutsche zu sein – sowie ihrer Reaktion auf ihn zeigt sich dabei, wie von den Deutschen selbst die ethnisch-nationale Zugehörigkeit als etwas, das adäquat einer individuellen Leistung Anerkennung verdiene, persifliert wird. Wenn die ethnisch-nationale Zugehörigkeit im Sinne der Anerkennung eines Verdienstes dem Einzelnen gewährt wird und sie Astrid nicht zukomme, weil sie ihre Nationalität nicht als einen Verdienst vorweisen kann, stehe sie auch Rolf, für den dies ebenfalls zutrifft, nicht zu. Dabei kommt hier pointiert zum Ausdruck, dass der Kontakt der Jugendlichen zueinander von einem Beziehungsmuster getragen wird, das durch Sympathie, Achtung und Freundschaft geprägt ist: Die gegenseitigen Anspielungen zielen darauf ab, gemeinsam Spaß zu haben, nicht darauf, gegeneinander Differenz zu markieren. Dabei sind es nur kleine Hinweise, die sich auf die unmittelbare Handlungsebene wie das Melden beziehen; d.h. es entsteht hier kein sprachlich elaborierter Diskurs. Das, was an Semantik in der Luft liegt, wird dennoch verstanden: Tonne versprachlicht es, wenn er in der Doppeldeutigkeit einerseits aus Astrids Perspektive das Melden von Rolf und andererseits aus der Beobachterperspektive den Wortwechsel der beiden Deutschen als „Schande für die Deutschen“ bezeichnet. Indem er als Migrant sich eines Schlagwortes rechtspopulistischer Provenienz bedient, bringt er die Persiflage des ‚deutschen Nationalstolzes’ auf den Punkt; es wird gelacht und das Thema ist beendet.

Die Aushandlung zwischen den Jugendlichen hat zu einem Ergebnis geführt: Die Unterstellung, dass die Problembelastung des anderen Schulteils mit dem Anteil seiner Schüler mit Migrationshintergrund zu tun habe, ist hinfällig geworden und die Frage der ethnischen Zugehörigkeit ist als keine des persönlich-individuellen Privilegs herausgestellt worden. Ohne an irgendeiner Stelle explizit zu thematisieren, dass Melissa mit ihrer Äußerung ein gängiges Vorurteil gegenüber Ausländern bedient, und ohne Melissa als Person anzugreifen, ist der stigmatisierende Blick auf die ethnische Zugehörigkeit als Leitdifferenz der Betrachtung von Umwelt obsolet geworden. Der Witz, der die Aushandlung begleitet, macht dabei deutlich, dass die Jugendlichen sehr gut verstehen, worum es geht. Dieses Verstehen mündet allerdings nicht in einen Diskurs. Anders als es für die Jungengruppe aus dem Gymnasium war, ist es gerade nicht auf eine gedankliche Durchdringung des Gegenstandes ausgerichtet, sondern bleibt weitestgehend implizit und nichtsprachlich. Melissa und allen anderen wird gezeigt, konkret veranschaulicht, dass ihre Argumentation nicht stimmt. Erkenntnis ist in dieser Gruppe also keine gedanklich-theoretische Schlussfolgerung auf abstraktem Niveau, sondern das Ergebnis einer mit Sinneswahrnehmungen verbundenen Kommunikation.

In beiden Beispielen zeigt sich also, dass nicht die auf den formalen Bildungsgang verweisenden kognitive Kompetenzen sowie die sprachliche Elaborationsfähigkeit in Bezug auf den Umgang mit bzw. Haltungen gegenüber jungen Migranten entscheidend sind, sondern die demokratische Haltung der grundlegenden Achtung des Anderen als einen Gleichen. Nach der nur schulformbezogenen Kodierung der Variable „Bildung“ werden mit höherer Bildung allerdings viel stärker Fähigkeiten logisch abstrakten Denkens und sprachlicher Elaborationsfähigkeit assoziiert als Fähigkeiten, die auf die konkrete Handlungspraxis bezogen sind wie der hier sichtbar gewordene Modus der gegenstandsbezogenen Situationsbewältigung. Hier verdeutlichen die Ergebnisse exemplarisch, dass der Befund, dass zwischen Fremdenfeindlichkeit und Bildung, gemessen am formalen Bildungsabschluss bzw. der Schulformzugehörigkeit, ein Zusammenhang besteht, zu kurz greift.

Literatur

Fritzsche, S. (2006). Multikulturelle Schülerschaft und Fremdenfeindlichkeit. In: Helsper, W. u.a. (2006): 75-96.

Wiezorek, C. (2006). Die Schulklasse als heimatlicher Raum und als Ort der Einübung demokratischer Haltungen. In: Helsper, W. u.a. (2006): 259-292.

Transkriptionszeichen

(.); (6) kurze Pause; Sprechpause von 6 sec Schande besonders betont gesprochen (wirklich) schwer verständlich, Unsicherheit in der Transkription @.@; @6@ kurzes Lachen, Lachen von 6 sec. Dauer @ja@ lachend gesprochen ? schneller oder überlappender Redeanschluss

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