Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Zwei Monate später (im November in Klasse 1) haben die Kinder viele Ideen zum Thema „ICH MAG“ gesammelt: Ich mag Pause, … Autos, Tiere, Leo, Molli, die Farbe Gelb, Manza, Schule…
Der Satzanfang steht all der Tafel. Die Lehrerin hatte zuerst drei Striche für ICH gemacht.
Die beiden Wörter sollen die Kinder jedes Mal schreiben. Aber „manche Wörter sind zu schwer. Dann kannst du es noch malen. Aber ICH MAG: das wird geschrieben – und richtig“, hat die Lehrerin gesagt.
Sabine beginnt sofort _ _ _ zu malen und schreibtauf diese Striche sehr flüssig EAM. Dann sieht sie sich um in der Klasse. Sie scheint nicht zu wissen, wie es weitergehen könnte.
(…)
Sabine schreibt EHHDHR auf ihr Blatt und anschließend HHEERRB. Sie Sagt zu Zarah, die neben ihr sitzt: „Hast du das von mir abgemalt?“ Zarah: „Nein.“ Zarah besieht sich, was Sabine geschrieben hat.
Zarah: „Falsch. Schreiben.“
Die Lehrerin klingelt: „Ich möchte, ich möchte viel geschrieben sehen, von euch auch.“;
Sabine schreibt EH und HHB.
(… )
Sabine nimmt ihr Blatt und läuft zu Florian. Er sitzt am anderen Ende der Klasse. Er soll lesen, was sie geschrieben hat. Er sieht ihr Blatt kaum an. Sie kehrt zu ihrem Platz zurück.
Sabine: „Dir mußt genau gucken, wie du das machst.“ Studentin: „Hm?“
Sabine: „Du mußt genau hier raufgucken.“ Sie zeigt auf ihr Blatt.
Studentin: „Ja.“
Sabine: „Wie du das machst. Du mußt das genauso machen, deswegen mußt du ein‘ Buchstaben machen?“
Sabine langweilt sich. Sie malt mit dem Filzstift, den sie in der Hand hält, die Stifte in ihrer Federtasche an.
Sie geht wieder zu Florian und zeigt ihr Blatt. Er sagt, daß auf dem Blatt ICH MAG stehen muß.
Florian: „Du mußt schreiben, was du magst.“
Florian und Valerie, die neben ihm sitzt, lesen die Buchstaben vor, die Sabine geschrieben hat.
(…)
Sabine dreht das Blatt um und schreibt auf der Rückseite. Sie geht erneut zu Florian. Er soll das vorlesen. Florian stößt Valerie an: „Valerie, was sie geschrieben hat.“ Beide lesen einige Buchstaben. Florian schreibt Sabine etwas auf.
Florian: „So. O.K. ? Das geht doch so: ICH MAG.“
An ihrem Platz malt Sabine die Worte ICH MAG, die die Lehrerin ihr auf ein extra Blatt geschrieben hat, nach.
Sie schreibt ihren Namen auf die Linie, die sie gezogen hat. Die Lehrerin kommt zu ihr
Lehrerin: „Konnte Florian deine Buchstaben lesen?“
Sabine: „Ja, konnte er schon, aber da, aber da… „
Lehrerin: „Wie bitte?“
Sabine: „Der versteht die Buchstaben überhaupt nicht.“
Lehrerin: „Er versteht die nicht? Ja, vielleicht konnte er nicht lesen, was du schreibst.“;
Sabine: „Er konnte schon lesen, aber, aber da… „ (unverständlich).
(… )
Sabine geht noch einmal zu Florian. Er ist unwillig. Die Lehrerin greift ein; er soll vorlesen, was Sabine geschrieben hat.
Florian liest: „H D E H D E D.“ Drei Kinderstehen dabei.
(…)
Die Kinder sollen ihren Stift weglegen. Sie lesen vor, was sie geschrieben haben:
Ich mag Tore schießen.
Ich mag pennen.
Ich mag baden.
Ich mag Lehrer.
Ich mag Julia.
Ich mag Eis…
Sabine kommt auch dran. Sie sagt: „So. Hier steht noch … Ich wollte hier FLORIAN schreiben.“
Lehrerin: „Und? Findest du das wieder?“ Sabine sieht auf ihr Blatt. Dann liest ein anderes Kind, was es geschrieben hat.
Als alle Kinder schon ihre Sachen einpacken, nimmt Sabine noch einmal ihren Stift und schreibt rasch FLO auf das Blatt. Dann geht Sie zu der Pinnwand an der die Fotos und Namen der Kinder hängen. Sie nimmt die Karte mit Florians Namen mit an ihren Platz, schreibt den Namen richtig ab und bringt die Namenskarte wieder zurück.
Klasse 1, 18. 11. 1993. Transkriptionsprotokoll: Monika Ahrens
Abb. 2: 18. November 1993 – ICH MAG…
Was lassen die Protokollausschnitte über Sabines Perspektive auf das Geschehen erkennen?
Sie soll „schreiben“. Das tut sie. Sie hat beobachtet, dass Striche gemacht werden, bevor man schreibt. Das wiederholt sie. Die Buchstaben EAM haben Ähnlichkeit mit dem Vorgegebenen. (Statt ICH hatte ein Kind an der Tafel zunächst ECH geschrieben.)
Es soll viel geschrieben werden. Das tut Sabine auch. Sie hat das Blatt auf beiden Seiten beschrieben.
Sie kennzeichnet – wie alle Kinder – das Blatt mit ihrem Namen.
Das Schreiben soll dem Austausch dienen. Sabine nutzt es intensiv zur Kontaktaufnahme: Sie fragt ihre Nachbarin; sie fordert die Studentin zur Akkuratesse auf; sie geht viermal zu Florian, um sich, was sie geschrieben hat, vorlesen zu lassen.(1)
Sie erprobt ihre Vorstellungen von Schreiben:
Gegenüber der Tischnachbarin differenziert sie nicht zwischen Schreiben und Malen (und erhält eine klare Korrektur).
Sie überträgt ihre Vorstellung von Schreiben auf die Tätigkeit der Studentin. Diese soll aufmerksam auf das sein, was sie tut („genau gucken, wie du das machst“); sie soll sich genau ansehen, was Sabine geschrieben hat, und vor allem „das“ genauso machen, „deswegen mußt du ein‘ Buchstaben machen“. Schreiben als exaktes Nachahmen – ohne Sinn. Diese Aktionen erinnern noch an die Äußerung zu Schulbeginn („Willst du lernen?“); die inhaltliche Dimension fehlt.
Sabine will, dass das Geschriebene gelesen wird. Damit wendet sie sich an einen Jungen, der die erste Klasse wiederholt. Er liest die Buchstaben und weist Sabine auf die Aufgabe hin, schreibt ihr die Wörter sogar vor. Daraufhin zieht sie die beiden Wörter nach, die ihr die Lehrerin separat aufgeschrieben hat. Das bleibt bloß mechanisch.
Aber sie formuliert, dass Florian „die Buchstaben nicht versteht“; also weiß sie – oder sie erfährt es in dieser Stunde, dass, was man schreibt, einen Sinn hat. Und als zum Schluss die anderen Kinder ihre Sätze vorlesen, findet Sabine eine Schreibidee: „Ich wollte FLORIAN schreiben.“ Und sie realisiert sie noch, obwohl es eigentlich schon zu spät dafür ist. Dabei weiß sie genau zu unterscheiden zwischen dem, was sie kann und was sie noch nicht kann. Sie will den Namen richtig schreiben und hat auch ein sicheres Verfahren dazu.
Die Lehrerin möchte mit der Aufgabe inhaltlich an Vorstellungen der Kinder anknüpfen. Das Vorlesen des Geschriebenen soll vielleicht auch dem besseren Kennenlernen untereinander dienen. Die Aufgabe hat zwei Elemente: eins ist vorgegeben (und orthographisch auch „vorgeschrieben“), eins ist den Kindern freigestellt. Im Mündlichen wird man auf die Frage „Was magst du?“ nur mit dem Objekt antworten. Die Referenz ist klar, gefragt – und des Austauschs wert – ist nur die Prädikation. Die Aufgabe, jedes Mal zu schreiben: ICH MAG… ist vom mündlichen Sprachgebrauch weit entfernt, verlangt die vollständige Explikation. Das erschwert es für Sabine. Sie schreibt: FLORIAN. Dass sie ihn mag, ist ohnehin klar. Insofern ist die Aufgabe, die auf den ersten Blick plausibel erscheint, für Kinder, denen Schrift noch fremd ist, ziemlich schwierig.
Wenn man Sabines Blatt ansieht, bekommt man einen Schreck: Nach zwei Monaten Unterricht schreibt sie nur zwei Namen richtig. Alles andere erscheint diffus. Nicht einmal die Form der Buchstaben ist korrekt (E und B). Wenn man jedoch beobachtet, wie das Ergebnis zustande gekommen ist, und es mit dem „leeren Blatt“ aus der Anfangsbeobachtung vergleicht, merkt man, dass Sabine beginnt, ein Verständnis für „Schriftlichkeit“ zu gewinnen. Sie entwickelt in dieser Stunde viel Energie; alle Aktivitäten sind – aus der Perspektive des Kindes jedenfalls – auf die Aufgabe bezogen. Die entscheidenden Impulse erfährt Sabine von anderen Kindern und von der Präsentation der Ergebnisse beim abschließenden Vorlesen. Vielleicht zum ersten Mal findet sie einen inhaltlichen Zugang zum Schreiben.(2)
Warum hält sich die Lehrerin so zurück? Sabine bedarf doch des Unterrichts dringlich. Die Frage ist allerdings, ob eine so grundlegende Ausbildung kognitiver Schemata von Schriftlichkeit, wie sie für Sabine notwendig ist, durch Belehrung und Unterweisung möglich ist.
In dieser Stunde richtet Sabine ihre Aufmerksamkeit vor allem auf Schrift; das belegen die Ausschnitte aus dem Protokoll. Daneben aber hat sie die Verhaltensnormen im Blick. Alles soll seinen geregelten Gang gehen. Sie moniert, dass die Lehrerin etwas lauter spricht; sie rügt die Studentin, die weiter schreibt, nachdem die Lehrerin alle aufgefordert hat, die Stifte hinzulegen: „Hast du nicht gehört, du sollst den Stift weglegen. Den Stift.“ Darin steckt ein Potential für Ausweichen vor den inhaltlichen Anforderungen und auch für Aggressivität.
Nach unseren Beobachtungen beachten Kinder mit Lernschwierigkeiten stärker als andere den Anspruch der Verhaltensnorm und trennen die Inhalte des Lernens ab davon. Und sie nehmen sich stärker als andere Kinder ein Recht zur „Verweigerung“. Für die Lehrperson besteht die Aufgabe darin, die Balance zu finden zwischen der notwendigen direkten Lenkung und Unterweisung einerseits und dem Finden-Lassen in präparierten Lernsituationen mit anderen Kindern andererseits – um nicht unnötigen Widerstand beim Kind zu provozieren. Das ist eine große Herausforderung. In dieser Unterrichtsszene ist sie gelungen.
Schrifterwerb setzt voraus, dass das Kind weiß, wozu es lernt, und dass es sein Lernen-Wollen inhaltlich ausrichtet. Beides kann nicht gelehrt werden; es muss erfahren werden. Aber die Lehrperson kann Situationen inszenieren, die solche Erfahrung nahelegen, und sie kann aufmerksam sein auf die Signale des Kindes; sie kann die Anbahnung von Schrifterfahrung stützen (hier tut sie das z. B., indem sie darauf dringt, dass Florian vorliest, was Sabine geschrieben hat) und ihr Unterrichtskonzept an den Interessen und Fähigkeiten des Kindes ausrichten.
Günstige Voraussetzungen für die Initiation des Schrifterwerbs bieten der soziale Kontext der Klasse (wie in diesem Beispiel) und Aufgabenstellungen, die – bei insgesamt hohem Anspruchsniveau (3) – kein festgelegtes Ergebnis erwarten und auf unterschiedliche Weise zur Zufriedenheit des Kindes gelöst werden können.
In unserem Beispiel geht die Lehrerin mit ihrem Unterrichtskonzept für die folgenden Wochen ein auf Sabines Interesse an den Namen aus der Klasse und auf ihre visuelle Orientierung an Schrift. Sabine nutzt intensiv die Möglichkeit, die das Fotomemory mit Bildern der anderen Kinder aus der Klasse bietet. Einige Tage lang schreibt sie überall FLORIAN. Die Lehrerin spricht sie darauf an. „Ja, ich kann schreiben, ne“, sagt Sabine. Jetzt korrigiert die Lehrerin sie: „Schreiben ist, wenn man alles aufschreiben kann, was man denkt. Das kann der Name Florian sein, aber das können auch Geschichten sein, über deinen Kater zum Beispiel, oder Briefe. Zum Schreiben braucht man Buchstaben. Du kennst schon viele. Welche Buchstaben hat FLORIAN?“ – Sabine sagt: „EL wie Ludwig, EN wie Nordpol, A wie Anton…“
Sabine orientiert sich beim Buchstabieren an der Fernsehsendung „Glücksrad“. Die Lehrerin bittet Sabines Mutter um das vollständige Alphabet und führt Modalitäten des „Übersetzens“ ein: /t/ wie Tamara (aus der Klasse) ist TE wie Theodor. /b/ wie Borris ist BE wie Berta. Sabine schreibt die Anfangsbuchstaben zu Stempelbildern auf. Die Lehrerin übt mit ihr das Lautieren. Dieser Prozess dauert bis nach den Weihnachtsferien. Sabine macht sich in dieser Zeit auch ein Telefonbuch mit den Namen und Nummern der ihr wichtigen Kinder; das heißt, sie schreibt ab. Eines der ersten Wörter, das sie sich – nach den Namen – aussucht, ist FOTO.
Beim Lesen (vor allem an verschiedenen Memory-Sets) orientiert sich Sabine am Anfangsbuchstaben. Größeren Anstrengungen sucht sich Sabine zu entziehen: sie ist müde. sie wischt sich den „Schweiß“ von der Stirn; sie hat Hunger; sie fängt an zu nuckeln und sich die Haare am Hinterkopf einzudrehen.
Fußnoten:
1) Vielleicht ist ihr Blatt selbst eine Antwort auf die Frage, die in der Aufgabenstellung enthalten ist, gleichsam präsentativ (S. K. Langer): Was magst du?- Ich mag schreiben. Vgl. dazu Sjölin 1994.
2) Diese „Initiation des Lernprozesses“ ist vergleichbar der von Jan-Carlos, der entdeckt, dass „Pascal“ auf dem Blatt Papier der Name seines Hundes ist und es sich deshalb ausschneiden will. Vgl. Wolf-Weber/Dehn 1993, 85-103, insbesondere S. 94 f.; vgl. auch meine Beitrüge in früheren Jahrbüchern, z. B. zu „Christina“; vgl. Sjölin 1990; Schnelle 1984; Dehn/Schnelle 1989; Dehn u. a. 1991. Vgl. zum Umgang mit Schrift von Vorschulkindern Baghban 1987; Blumenstock 1986; 1987; Brinkmann 1991f, 1992f, 1993; 1994b; Gaber/Eberwein 1986; Scheerer-Neumann u. a. 1986).
3) Das ist ein weiterer Faktor für die „Optimierung, des Lehr-Lern-Prozesses“; vgl. A. Helmke u. a. 1988.
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