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Falldarstellung (mit interpretierenden Abschnitten)

Als forschende Teilnehmerin an Kreissituationen übertrat ich die Klassengemeinschaftsgrenzen und wurde selbst für kurze Zeit Mitglied der Kreisgemeinschaften. Ich erfuhr den Kreis als Sozialisationssituation gewissermaßen „am eigenen Leibe“. Während ich bei den Videobeobachtungen außerhalb des Kreises hinter der Kamera stand, saß ich bei den teilnehmenden Beobachtungen fast immer als fremder Gast in der Runde. Nachdem ich Platz genommen hatte, war ich meist etwas verunsichert. Mein Blick traf sich mit verschiedenen Kinderblicken. Ich nahm manchmal Interesse oder offene Neugier wahr, manchmal Desinteresse, manchmal Aufmunterung, manchmal Scham, manchmal Ablehnung. Einige Kinder ignorierten mich, andere wollten neben mir sitzen und hielten mir einen Platz frei. Als Fremde kannte ich die konkreten Regeln und Rituale des Ablaufs nicht. Ich versuchte, möglichst schnell zu erfassen, wenn das Wort reihum vergeben wurde und bei mir ankam, ob die Kinder von mir erwarten, dass ich spreche und was ich auswählen soll, um als Teilnehmerin akzeptiert zu werden. Mit der Zeit kannte ich verschiedene typische Regeln, aber jede Kreisgemeinschaft hatte auch spezifische Ordnungen herausgebildet, die mir unbekannt waren. Über ein angemessenes Verhalten in der Kreissituation klärten mich die neben mir sitzenden Kinder oder die Kreiskinder bzw. PräsidentInnen meist ganz nebenbei auf. Oft erschien mir die Situation wie von unsichtbarer Hand gesteuert. Ich zitiere aus einem meiner Protokolle:

Es ging wieder alles nach einer unsichtbaren Ordnung und so schnell, dass ich die Regeln nicht erfassen und kaum protokollieren konnte. Bei der Drei-Leute-Regel rufen die Mädchen zwei Mädchen und einen Jungen, die Jungen ein Mädchen und zwei Jungen auf. Oft wird zuerst aufgerufen, wer stark drängt. Ich wurde allerdings sofort aufgerufen, und rufe dann wieder ein Mädchen auf, was falsch war. (Klasse H, Protokoll Nr. 7)

Ich bemühte mich, die Regeln im Kreis möglichst schnell zu erfassen, nicht nur um sie protokollieren, sondern auch um mich adäquat verhalten zu können. Das Beobachtungsprotokoll gibt meinen Eindruck der „unsichtbaren Ordnung“ wieder und erwähnt auch einen meiner Normverstöße, die mir, als mit der Situation noch nicht Vertrauten, allerdings jedes Mal nachgesehen wurden. Meine besondere Stellung im Kreis wird deutlich, denn das von den Kindern angenommene Höflichkeitsgebot und mein Status als Erwachsene führten dazu, dass ich von den Kindern sofort das Wort erhielt, dies vor allem wohl deshalb, weil dem aufrufenden Kind verbal und durch einander bestärkende Blicke signalisiert wurde, dass es mich aufrufen soll. Die Jungen, die eigentlich an der Reihe sind, beklagten sich nicht, als ich anschließend ein Mädchen auswählte. Nur das Mädchen neben mir, machte mich flüsternd darauf aufmerksam, dass eigentlich ein Junge das Wort hätte erhalten müssen. In solchen Interaktionen wurde ich von den Kindern in das Regelwerk ihrer Kreissituation einsozialisiert.

„Der Gast im Kreis“ war eine soziale Situation, die von jeder Gruppe bewältigt werden musste und für die es unterschiedliche – teilweise ritualisierte – Bewältigungsstrategien gab. Bezogen auf die Begrüßungssituation, waren neben der Spielart, dass ich überhaupt nicht im Kreis willkommen geheißen wurde, drei weitere Grundformen gebräuchlich: 1. Die Kinder gestalteten die Situation, indem das Kreiskind mich begrüßte oder Kinder sich erkundigten, wer ich sei. 2. Der Kreis und ich selbst als dessen Mitglied regelte sie, indem ich bei der Wortvergabe an der Reihe war und meine Anwesenheit erklärte. 3. Die Lehrerin arrangierte die Situation, indem sie mich vorstellte oder mir einen Platz außerhalb des Kreises auf einem höheren Erwachsenenstuhl zuwies. Diese Grundvarianten der Begrüßung können auch bereits als Indikatoren für die Art der Ausrichtung der Kreissituation (eher kindzentriert, gemeinschaftszentriert oder lehrerzentriert) gelten. Einmal wurde ich von der Lehrerin auch gebeten, auf einem hohen Stuhl außerhalb des Kreises Platz zu nehmen. Die Varianten reichen also von der Aufnahme in den bis zum Ausschluss aus dem Kreis, von der Öffnung durch Kinder bis zur „Konfirmation der Grenze der Klassengemeinschaft“ (Göhlich/Wagner-Willi 2001, S. 131).

Am Beispiel meiner Begegnung mit dem fünfjährigen Joao, der Schüler einer Eingangsstufe war, kann der Status meiner Mitgliedschaft eindrucksvoll veranschaulicht werden. Joao hatte zum ersten Mal das Amt des Morgenkreiskindes inne. Ich zitiere aus meinem Protokoll:

Das Morgenkreiskind Joao zögert vor jedem neuen Schritt der Ausübung seines Amtes. Immer wieder legt er den Finger an den Mund, lächelt und schaut zur Decke. Für mich wirkt er verlegen, vielleicht ist es aber auch seine Art nachzudenken oder um Hilfe nachzusuchen. Die Lehrerin oder einzelne Kinder sagen ihm dann, was er als nächstes zu tun hat. Er scheint das Amt zum ersten Mal auszuführen. Dennoch habe ich den Eindruck, dass er gerne Morgenkreiskind ist. Als Joao rundgeht, um die Kinder im Kreis zu zählen, irritiere ich ihn. Er weiß nicht, ob er mich mitzählen soll, Die Verunsicherung ist so stark, dass er neu beginnen muss. Beim zweiten Versuch geht er an mir vorbei. Er hat sich inzwischen entschlossen, mich nicht mitzuzählen. Einige Kinder, die sein Problem wahrgenommen hatten, haben ihm dazu geraten. (Klasse U, Protokoll 21)

Das Zählen der Kinder gehört in manchen Klassen zu den Aufgaben des Kreiskindes oder Präsidenten. In allen anderen beobachteten Situationen war es selbstverständlich, dass die Lehrerin und ich nicht einbezogen wurden. Für Joao allerdings schienen die Grenzen der Klassengemeinschaft noch nicht klar bestimmt zu sein und er konnte auch noch nicht spontan zwischen einer Gastmitgliedschaft und einer festen Mitgliedschaft in der Gemeinschaft unterscheiden. Möglicherweise erkannte Joao in dieser Situation die Grenzen der Klassengemeinschaft. Das Ritual des Zählens ist hier nicht Kontrollinstrument sondern soziales Gestaltungsmittel, um Zugehörigkeit zu erkennen und zu festigen (vgl. auch Prengel 1999). Dieses Beispiel zeigt eindrucksvoll die sozialisatorischen Wirkungen der Kreissituation. In den Aushandlungen im Kreis werden die Kinder und kurzfristig auch die Besucherin durch aktive Auseinandersetzung zu einem Mitglied der Gemeinschaft. Es lassen sich vielfältige strukturierende Handlungen und Inszenierungen beobachten, die entweder von den Regieanweisungen und Ordnungsvorschlägen der Lehrenden ausgehen oder sich kinderkultureller Praktiken der Strukturierung bedienen.

Literatur

Göhlich, M./Wagner-Willi, M. (2001): Rituelle Übergänge im Schulalltag. In: Wulf, C. u.a.: Das Soziale als Ritual. Zur performativen Bildung von Gemeinschaften. Opladen. 119-204

Prengel, A. (1999): Vielfalt durch gute Ordnung im Anfangsunterricht. Opladen

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