Falldarstellung

Während der Unterrichtseinheit »gesundes Frühstück« waren die Kinder damit beschäftigt, in einem Arbeitsblatt zum Thema »Nährstoffe« in die Spalten »Eiweiß«, »Fett« und Kohlehydrate« auf demselben Arbeitsblatt aufgelistete Nahrungsmittel- und Getränkenamen einzutragen.

Dabei nahmen sie ein anderes Arbeitsblatt mit Abbildungen von Lebensmittelgruppen verschiedener Nährstoffe zur Hilfe. Murat und Sabri arbeiteten zusammen; in dem unten transkribierten Ausschnitt ist Sabri bei »Joghurt« angelangt:


Interpretation

In dem vorgestellten Ausschnitt arbeiten Sabri und Murat gemeinsam die Liste der vorgegebenen und einzutragenden Nahrungsmittel- und Getränkenamen nacheinander ab. Dabei verwenden sie fast ausschließlich das Türkische. Lediglich die Begriffe, die sie den beiden Vorlagen entnehmen, lesen und verwenden sie in deutscher Sprache (1).
Dies zeigt, dass die Kinder nicht das Bedürfnis haben, die Begriffe ins Türkische zu übersetzen und in der Lage sind, beide Sprachsysteme miteinander zu kombinieren. Darüber hinaus bestätigen weitere Unterrichtssequenzen, dass die Kinder durch die Verwendung von Arbeitsbegriffen in deutscher Sprache in Form von Zitaten einen »roten Faden« zum deutschsprachigen Unterrichtsgespräch herstellen (2).
In der vorgestellten Unterrichtssequenz ist es außerdem möglich, am Beispiel der Äußerungen der beiden Jungen, mit denen sie ankündigen, dass sie mit der Bearbeitung eines Begriffs fertig seien bzw. mit denen der eine den anderen fragt, ob er fertig sei, der Frage nachzugehen, wie die Lehrerin die Sprachwahl der türkisch-deutschsprachigen Kinder bestimmt. Murat und Sabri verwenden bis Z. 49 ausschließlich das türkische Verb »bitmek« (fertig werden) in der entsprechend konjugierten Form (z.B. Murat in Z. 17 zu Sabri: „Bitti mi?“ – auf Deutsch: „Fertig?“). Dies scheint eine geläufige Praxis der beiden Jungen zu sein, denn sie ist im aufgezeichneten Material mehrmals zu finden. Ganz zum Schluss der Arbeit ist Sabri zu hören, wie er diesmal auf Deutsch ankündigt, er sei fertig (Z. 67). Auch Murat schließt sich dem in derselben Sprache an (Z. 78). Durch diesen Wechsel ins Deutsche wird deutlich, dass die beiden Jungen die Übung abgeschlossen haben und dies der Lehrerin ankündigen wollen (3)“.
Es lässt sich also feststellen, dass die türkisch-deutschsprachigen Kinder sich beider Sprachen flexibel und strategisch bedienen. Sie verwenden zwar unter sich meist das Türkische, schalten jedoch ins Deutsche um, wenn Äußerungen der Lehrerin potentiell zugänglich gemacht werden sollen. Die Schülerinnen und Schüler nehmen die Lehrerin in ihrer Funktion als Kontrollinstanz wahr und treffen die entsprechende Sprachwahl, um für sie wichtige Äußerungen, in diesem Falle, dass sie mit der Übung fertig sind, ihr zugänglich zu machen. Es zeigt sich, dass die Kinder die sprachlichen Anforderungen der verschiedenen Situationen des Unterrichts erkennen und ihre Sprachen entsprechend einsetzen können.
Die geschilderten Untersuchungsergebnisse lassen die Schlussfolgerung zu, dass mehrsprachige Kinder die Fähigkeit haben, ihre Sprachen je nach Situation kreativ zu mischen oder voneinander getrennt zu verwenden. Es zeigt sich, wie von Pierre Bourdieu (1990) formuliert, dass der Prozess des Spracherwerbs sich nicht nur dadurch auszeichnet, dass der Mensch von klein an sprachliche Elemente im engeren Sinne (z.B. Wörter und syntaktische Elemente) aneignet, sondern darüber hinaus dadurch, dass er die „soziale Fähigkeit zur adäquaten Anwendung dieser Kompetenz in einer bestimmten Situation“ (ebd.: 12) erwirbt. Im Klassenzimmer setzen die beobachteten Kinder den Regeln der jeweiligen Unterrichtssituation entsprechend strategisch ihre beiden Sprachen ein. Sie sind in der Lage zu erkennen, welche Sprache in welcher Situation mit welchem Gesprächspartner sinnvollerweise verwendet werden darf. (…)
Insgesamt lässt sich sagen, dass sprachliche Äußerungen von Kindern nur unter Berücksichtigung ihres Entstehungskontexts verstanden und beurteilt werden können. Der abwechselnde Gebrauch mehrerer Sprachen ist zumeist nicht Indiz einer »doppelseitigen Halbsprachigkeit«, sondern kreativer, gekonnter Umgang mit mehreren Sprachen in verschiedenen Kontexten.

Fußnoten:

(1) Sabri spricht zu Beginn des Ausschnitts das Wort „Joghurt“, das auf der Liste steht und dessen Eintragung er in Angriff nehmen möchte, in der türkischen lautlichen Form [yo’urt] aus. Dies stellt in diesem Ausschnitt eine Ausnahme dar und beruht vermutlich auf der einander lautlich stark ähnelnden Formen der betreffenden Wörter in den beiden Sprachen, zumal „Joghurt“ eines der wenigen Lehnwörter aus dem Türkischen ist.

(2) Auer (1980) stellte fest, dass italienische Migrantenkinder als „in-group-Sprache“ das Deutsche verwendeten, aber ihre Eltern bzw. andere italienische Erwachsene im (tatsächlich stattgehabten oder gedachten) Originalgespräch in italienischer Sprache zitierten (vgl. ebd.: 260). Auch in der Untersuchung der außerschulischen und außerfamiliären sprachlichen Interaktion im Rahmen des Projekts »Bilinguale Kinder in monolingualen Schulen« wurde beobachtet, dass mehrsprachige Kinder Äußerungen in der Sprache zitieren, in der sie ursprünglich gemacht worden waren (vgl. Dirim 1997: 233).

(3) Hier ist es möglich, dass die Kinder sich durch die Verwendung des Deutschen nicht nur an die Lehrerin, sondern auch an die anderen, nicht türkischsprachigen Schülerinnen und Schüler in der Klasse wenden. Im Besprochenen beschränke ich mich jedoch auf die Beziehung zwischen den Kindern und der Lehrerin.

Literatur

Auer, Peter (1980): Konversationsanalytische Aspekte von ‚Code Switching‘ in einer Gruppe italienischer Gastarbeiterkinder. Konstanz.

Bourdieu, Pierre (1990): Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs. Wien. S. 11 -70

Dirim, Inci. (1997): Außerschulische und außerfamiliäre Sprachpraxis mehrsprachiger Grundschulkinder. In Gogolin, Ingrid; Neumann, Ursula (Hrsg.): Großstadt-Grundschule. Eine Fallstudie über sprachliche und kulturelle Pluralität als Bedingung der Grundschularbeit. Münster. S. 217 – 250

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