Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Sinnstreben und Fragen der Kinder

Im Mittelpunkt der folgenden Darlegungen stehen die Fragen der Kinder. Dem Streben nach Sinn geht zwangsläufig die Frage nach dem Sinn eines Sachverhalts, eines Verhaltens, eines Umstandes voraus (RAUSCHENBERGER 1985, 765). Die Fragen der Kinder in Erfahrungs- und Lernsituationen gelten als eindeutiger Ausdruck ihres Sinnstrebens bei der Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten der Welt. Die pädagogische Bedeutung der Fragen der Kinder resultiert aus einem vielschichtig gegebenen Zusammenhang von entwicklungs- und lernpsychologischen Aspekten, von sozialen, kommunikativen und auch didaktischen Aspekten. Mit Bezug auf den „kindlichen Fragewillen“ (RÖHRS 1991, 179) und auf das „Anbahnen und Entwickeln einer Fragehaltung“ (RITZ-FRÖHLICH 1992, 63) als Zielperspektiven des Unterrichts ist immer auch didaktisches Handeln angesprochen, das die Fragen der Kinder als deren „geistige Suchhandlungen“ (a.a.O., 10) zum Ausgangspunkt des Lernens werden lässt.
Im Rahmen von Erkundungen in der Natur haben die Kinder (hier der Jahrgangsstufe 1) eine breite Palette von Fragen bzw. Fragerichtungen aufgeworfen, um für sich und ihr Handeln Orientierung zu gewinnen. Diese Fragen wurden während des Verlaufes der Untersuchung mit der Situation, in der sie jeweils entstanden, notiert und in Anlehnung an das Vorgehen von RITZ-FRÖHLICH (1992) analysiert. Deutlich wurde zunächst, dass die Kinder situationsgebundene Beobachtungen aufgreifen und diese mit Hilfe von Fragen und deren Beantwortung in das vorhandene Wissen einzuordnen versuchen. Ebenso lösten die aufgabenbezogenen Handlungen der Kinder Fragen aus.
Im umfassenden Sinnzusammenhang des Lebens von Pflanzen und Tieren dominierten Fragerichtungen in Bezug auf die Lebensweise (z.B. „Wie bewegt sich ein Igel?“, „Wo gehen die Nacktschnecken hin, wenn es trocken ist?“; „Wo kommen bei der Schlange die Eier ’raus?“), auf das Aussehen (vor allem hinsichtlich des Formen- und Farbenreichtums von Insekten, die den Kindern weitgehend unbekannt waren) sowie auf die Benennung der Arten.
Solche Fragen, die auf Klärung unbekannter Phänomene, auf Wissenserwerb und Erkenntnisgewinn gerichtet waren, stellen „… tastende Versuche dar, mit dem eigenen Denken … die komplexe Wirklichkeit zu gliedern und zu ordnen und sich im Beziehungsgeflecht der Phänomene Orientierung zu verschaffen.“ (RITZ-FRÖHLICH 1991, 11).
Mit dieser Prämisse haben die Typen von Fragen für didaktische Überlegungen im Schulversuch besonders interessiert. Etwa 50 % der von den Kindern artikulierten Fragen waren einfachen Informations- bzw. Faktenfragen zuzuordnen (z.B. „Was sind Rinder?“). Etwa 40 % der Fragen in der 1. Jahrgangsstufe zielten auf die Erklärung von Zusammenhängen und Entwicklungen.

Beispiel:
Während einer Erkundung im Wald zählt ein Mädchen die Jahresringe eines umgestürzten Baumes – fast 40 Jahre. Es stellt dann die Behauptung auf, dass Bäume leben und Lebewesen sind.

K1: „Na klar, die leben!“.
K2: „Ja, ja, ja.“ (ungläubig-kurze Pause) „Woran erkennt man denn das?“
K1: „Na, weil sie immer wachsen.
K3: ,;Wir wachsen ja auch – wir sind auch Lebewesen. Die Bäume brauchen die Luft, die wir nicht brauchen.“
K4: „Ja, die Bäume ziehen die schlechte Luft `rein und geben die gute wie­der `raus.“

An dieser Situation wird demonstriert, dass sich Erklärungsfragen zumeist auf einen Vernetzungsbereich beziehen und ein gewisses Vorwisssen voraussetzen. Die Kinder versuchen, Zusammenhänge und das „Aufeinander-Angewiesensein“ aufzudecken. Dazu wird geschlussfolgert. Das Kind 2 weiß, dass es zum Erkennen eines Lebewesens bestimmter Merkmale bedarf und möchte nun wissen, welche auf das angebliche Lebewesen „Baum“ zutreffen sollen. In der Antwort ist ein Analogieschluss zu bemerken: Weil Bäume wachsen, sind es Lebewesen. Wir wachsen auch, also sind wir auch Lebewesen. Die Vergleichsrichtung ist das eigene Leben, das eigene Dasein. Auf diesem Wege werden Bedeutungen gefunden und wird Sinn konstituiert.
Beim Betrachten von Wasserpflanzen erregten zum Beispiel Schlingpflanzen die Aufmerksamkeit der Kinder. So ergaben sich die Fragen, ob es auf dieser Welt überall und überhaupt Schlingpflanzen gibt und ob sich – Schlingpflanzen auch um Menschen schlingen können (- und würden – blieb unausgesprochen). Die Kinder wollten die Dimension dieses Naturphänomens in seiner Bedeutung für das Leben der Menschen und natürlich für das eigene Leben erfassen. Auf der Grundlage einer solchen subjektiven Deutung der Kinder hatte der Erwerb von Wissen über Wasserpflanzen (Lebensraum „Gewässer“) eine ausgesprochen orientierende Wirkung.
Etwa 10 % der Fragen richteten sich auf allgemeine Ursachen, auf das Begründen der Phänomene.

Beispiele:

  • Die Kinder werfen Holz in den See und wundern sich über die auftretenden Blasen auf dem Wasser. K1: „Warum kommen da lauter Blasen?“; K2: „Das ist vom Druck.“
  • Ein Junge sitzt auf dem Steg und hält seine Füße mit den Gummistiefeln in das Wasser. Er wundert sich: „Ist ja komisch, warum werden die Gummistiefel hier oben zusammengedrückt?“. Nach kurzer Überlegung antwortet er sich selbst: „Das ist die Kraft des Wassers.“

Auffällig war, dass diese Fragen zumeist an die Kinder der Gruppe oder auch im Selbstgespräch gestellt und beantwortet wurden. Die Lehrperson als „Wissende“ bzw. der Unterricht als „Institution“ für die Bearbeitung von Fragen hat im Bewusstsein dieser Kinder (noch?) keine Rolle gespielt. Und tatsächlich wurden die meisten der unaufgefordert gestellten Fragen der Kinder überhört. Sie passten nicht in den augenblicklich verfolgten „Gang“ der Erkundungen in der Natur. Die persönlichen Sinndeutungen, die subjektiven Deutungen und Fragen der Kinder sind jedoch zweifelsfrei Ergebnisse von konstruktiven und systematischen Denkbemühungen. Unter didaktischen Gesichtspunkten sind sie als notwendige Stufe und ständige Form der Durchdringung der Erscheinungen in der „Welt“ ernst zu nehmen und somit immer auch Gegenstand des Unterrichts (FROHNE/ TRÖSTER 1999, 11).

Sinnstreben und Handeln

Handlungsorientierter Unterricht, wie er derzeit in vielerlei Variation der Unterrichtsformen angestrebt wird, soll den Schülerinnen und Schülern Gelegenheit geben, sich in einen entwickelten Handlungs- und Sinnzusammenhang (BÖNSCH) mit ihrer ganzen Person einzubringen, sowohl die Planung als auch die Durchführung und Analyse des Ergebnisses wie des Arbeitsprozesses mitzubedenken, mitzugestalten, mitzuverantworten.
Dieser oft zitierte pädagogische Grundsatz korrespondiert mit dem Anliegen der „Partizipation“ (der Teilhabe) als Voraussetzung für eine „Bildung für Nachhaltigkeit“ (HAAN de 1999, 75 ff.) der Entwicklung auch in der Grundschule. „Die Partizipation, in der die Kinder selbst zu Vorschlägen kommen, womit man sich befassen sollte, schafft auch Raum für die Möglichkeit eigenständiger Sinndeutungen von Situationen und die Entfaltung eigener Lösungsmodelle …“ (a.a.O., 96). Von Bedeutung für Sinnorientierung im Sachunterricht sind somit Handlungszusammenhänge, in denen Sinnerfahrung sowie subjektive Sinndeutung auch stattfinden können. Daher ist die didaktische Aufmerksamkeit auf Handlungsstrukturen zu richten, die tatsächlich die Entfaltung vielfältiger Sinnrichtungen und Sinnangebote zulassen.
An dieser Stelle soll ein Beispiel immer noch verbreiteten Unterrichts ein solches didaktisches Anliegen illustrieren:
In einer weiteren Situation während der Erkundungen in der Natur haben die Kinder vor, an einem kleinen Wasserlauf festzustellen, ob auch in diesem „fauligen“ Wasser Pflanzen und vor allem Tiere leben. Sie entnehmen unter Anleitung einige Wasserproben. Es entwickelt sich der folgende Dialog:

L.: „Ihr könnt mal riechen.“
K.: „Äh, stinkt nach Sumpf!“
K1: „Nach Jauche, igittigitt!“
L.: „Was meint ihr, ist in Jauche Leben?“
K.: „Nein!“
L.: „Was müßten wir also erwarten?“
K2: „Kein Tier!“
K3: „Ich möchte auch `mal riechen!“ (interessiert sich erst jetzt)
L.: „Guckt `mal, hier!“
K3: „Ist ein kleiner Käfer.“
L.:  „Es gibt also Leben. Wir können den Käfer mitnehmen und unter dem Mikroskop anschauen. Vielleicht finden wir heraus, was es für einer ist.“

Die Gruppe der Kinder begibt sich auf den Rückweg.

Die Kinder verfolgten hier mit Interesse eine sachlich bestimmte Erkundung zum Leben im vorgefundenen Wasser, das ihren Vorstellungen und bisherigen Alltagserfahrungen nicht entsprach. Lernen durch Umformung, durch Reorganisation von Erfahrungen (DEWEY) konnte jedoch nicht stattfinden, weil die eigentliche Erfahrungssituation abgebrochen wurde. Die Feststellung des Lehrers zum Beobachtungsergebnis wurde „hingenommen“, weitere Lebewesen wurden nicht gesucht. Der Vermutung der Kinder ist nicht auf eine Weise nachgegangen worden, die zur weiteren Überprüfung der Vermutung auf der Grundlage eigenen Handelns geeignet gewesen wäre. In diesem Beispiel sind weder Bedeutungen noch Sinnzusammenhänge aufgedeckt worden.
Lehrerhandeln hat hier den Prozess auf unzulässige Weise verkürzt, so dass die Förderung der Wahrnehmungsmöglichkeiten unterblieb sowie die notwendigen sachlogischen, begründenden Strukturen nicht aufgebaut werden konnten, die einem erfahrbaren Sinnzusammenhang gedient hätten.
Das Gespräch der Kinder setzte sich jedoch auf dem Rückweg fort. Lebhaft widerspiegeln sich Deutungen und Sinngebungen, die für den Unterricht keine Rolle mehr spielten.

K1: „Der da sieht aus, wie ein Wasserskorpion.“
K2: „Die sind giftig!“
K3: „Ist der giftig oder kann man den essen? – Woher kanntest du den?“
K2: „Mein Vater hat schon `mal so einen gefangen – beim Angeln.“
K3: (hoffnungsvoll) „Wenn er groß wird, haben wir einen richtig großen Skorpion.“

 

Literaturverzeichnis

Bönsch, M.: Die Konstituierung von Sinn – das wichtigste schulpädagogische Problem. In: Sachunterricht und Mathematik in der Primarstufe, 1991, H.6, 240-242.

Haan, G. de: Von der Umweltbildung zur Bildung für Nachhaltigkeit. In: Baier et al. (Hrsg.):Umwelt, Mitwelt, Lebenswelt im Sachunterricht. Probleme und Perspektiven des Sachunterrichts, Bad Heilbrunn 1999, 75102.

Rauschenberger, H.: Kinderfragen – Entwicklung, Bedeutung und pädagogische Hermeneutik. In: Zeitschrift für Pädagogik, 1985, H.6, 759-771.

Ritz-Fröhlich, G.: Kinderfragen im Unterricht. Bad Heilbrunn/ Obb. 1992.

Röhrs, H.: Reformpädagogik und ihre Perspektiven für eine Bildungsreform. Hrsg. von J. Petersen und G.-B. Reinert. Donauwörth 1991.

Mit freundlicher Genehmigung des Klinkhardt Verlages.
http://www.klinkhardt.de/verlagsprogramm/0984.html

 

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