Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

„Der Schüler“ in Kinderbüchern der DDR

In der Schule wird das Kind zum Schüler, so könnte man sehr verkürzt sagen, und in den Kinderbüchern spielt das Klassenkollektiv, das aus Mitschülern und Lehrern besteht, eine signifikante Rolle. So werden in „Ich bin die Nele“ und in „Den Wolken ein Stück näher“ Klassen dargestellt, die stark zusammenhalten und in denen es für neue Schüler schwierig ist, sich in die vorhandenen Strukturen, um nicht zu sagen Hierarchien, einzuleben:

„Aber nein, nicht einmal ein Kücken piepste, als Nele mit Konrad Würdinger (1) die Klasse betrat. Sofort standen alle auf. Ein Junge mit strohblondem Haar und sommersprossigem Gesicht trat eilig vor und meldete mit grimmiger Miene und in einem Tempo, als gälte es, einen Weltrekord im Schnellsprechen aufzustellen:
„DieKlasse5cistzumUnterrichtbereitallehabendieHausaufgabengemachtesfehltkeiner.“
„Danke. Guten Morgen.“
Donnernde Begrüßung durch die Klasse. Und wieder Stille. Es klappte wie auf einer Parade.
„Setzt euch.“
Da saßen sie auch schon. Kein Getuschel, kein Kichern, nichts. Nele sah nur eine Wand aufmerksamer und sie freundlich musternder Gesichter vor sich. Das alles beeindruckte sie so, daß sie augenblicklich ihre Sorge vergaß. Hier bin ich wohl in eine Musterklasse geraten, dachte sie mit leisem Schreck.
Konrad Würdinger räusperte sich und sofort gingen alle Blicke von Nele weg und richteten sich auf ihn.“ (2)

Die Kinder, die nicht immer so diszipliniert sind, wie man weiter im Buch erkennt, zeigen sich hier als Musterklasse. Das einzelne Kind verschwindet im Klassenkollektiv und ordnet sich diesem scheinbar unter. Auch in „Den Wolken ein Stück näher“ wird die Hauptfigur Klaus Teil einer Musterklasse, die ihren Lehrer Herrn Magnus verehrt:

„Magnus ist schwer in Ordnung.“(3)
„So?“(4)
„Glaubst du nicht, was?“
„Muß ich selber sehen“, sagte ich.
„Muß dir genügen, wenn ich dir sage, daß er schwer in Ordnung ist.“
Ich lachte. Das kam mir komisch vor, das war mir noch nie passiert.
„Lach nicht so blöd. Bei uns herrscht Ordnung. Verstanden!“[…]
„Laß es nicht darauf ankommen“, sagte er, „ich warne dich. Wir brauchen keine Querulanten bei uns.“(5)

Klaus ist der Neue in einer Klasse, in der jeder seinen Platz gefunden hat, und die für ihren Lehrer alles tun würden. Klassenlehrer Magnus ist vor allem für Mateja ein Vorbild und dieser lässt nichts auf ihn kommen. Das führt soweit, dass Klaus und Mateja sich noch vor der ersten Stunde am ersten Schultag prügeln:

„Ich trat einen Schritt vor, schob die Schulter vor und dadurch den überraschten Mateja einfach zur Seite.
Der knallte eine Faust an mein Kinn. Nun war das Überraschtsein meinerseits, das heißt, ich ruckte sogar ein Stück zurück, der Schlag zeigte Wirkung. […]
Es lachten welche, und sofort bildete sich ein Kreis um uns. […]
Das ging alles sehr schnell. Judo ist eine Sache der Schnelligkeit. Ich sah seinem Sturz zu und wußte genau, wie er fallen würde. Mit Staunen sah ich, wie er noch im Fallen versuchte seine Trompete vor Schaden zu bewahren. Das gelang ihm nicht ganz, sie fiel ihm aus der Hand, glitt über den Steinboden, schrammte an der Wand ein Stück entlang, bis sie liegenblieb.
Der Mateja raffte sich auf, hatte keinen Blick für mich, nur für die Trompete, die er aufhob.
Jemand rief halblaut: Magnus kommt.“(6)

Mateja, der als Klassenbester auch gleichzeitig so etwas wie die Leitfigur unter den Schülern ist, führt mit dem Neuen, Klaus, eine Art Rangkampf. Klaus soll sich dem schon bestehenden Kollektiv unterordnen, und damit auch Matejas Rolle als Anführer annehmen. Da Klaus das nicht gleich tut, wird er als Eindringling verstanden. Dass er die Prügelei gewinnt, ist unerheblich, es wird ihm sogar negativ ausgelegt, weil er sich schließlich gleich am ersten Tag mit dem Klassenbesten und Klassenanführer angelegt hat.
Obwohl es sich um eine Musterklasse handelt, die diszipliniert arbeitet, den Lehrern Respekt entgegenbringt und von den schulischen Leistungen eine der besten Klassen an der Schule ist, so gibt es doch neben dem offensichtlichen einen heimlichen Lehrplan.(7) Den Lehrern gegenüber verhalten sich die Schüler äußerst diszipliniert, aber im Hintergrund brodelt es im Klassenkollektiv, weil der Neue die vorhandenen Strukturen aufmischt.
Auch in dem Kinderbuch „Antennenaugust“ wird der „normale“, sprich geregelte, Schulalltag durcheinander gebracht. Allerdings nicht von einem neuen Schüler, sondern von einem Bussard:

„Wir hatten gerade Deutsch bei Frau Pallasch. „Was guckt ihr denn in einem fort zum Himmel? Es regnet doch bloß!“
„Sein August (8) ist weg!“ sagte Rico und wies mit einer Kopfbewegung in meine Richtung.
„Bei dem Regen? Das ist nicht möglich. Der sitzt irgendwo und kommt nachher wieder.“
Frau Pallasch war nur einmal am Zaun gewesen, um sich August anzusehen, und wußte nicht, daß er Regen besonders liebte und den schützenden Dachvorsprung mißachtet hatte, um sich richtig vollregnen zu lassen. Sie ermahnte uns, nicht mehr aus dem Fenster zu schauen.
Wir schauten trotzdem aus dem Fenster, nur waren wir vorsichtiger geworden, taten es, wenn sie uns den Rücken zuwandte und etwas an die Tafel schrieb.“(9)

Hier wird sichtbar, dass der heimliche Lehrplan eigentlich nur für die Lehrerin ein heimlicher ist. Die Kinder nutzen jede Gelegenheit, um nach dem für sie viel interessanteren Antennenaugust Ausschau zu halten. Kinder sind in der Schule eben nicht nur Schüler, sondern Kinder, die auch andere Themen als der aktuelle Unterrichtsstoff beschäftigt. Ähnlich geht es in den Kinderbüchern „Pianke“ und „Die Feuertaufe“ zu: In diesen Büchern besuchen die Hauptfiguren zwar die Schule, aber eigentlich handelt es sich dabei nur um die Kulisse für die nicht-schulische Geschichte der Protagonisten, in denen Probleme mit anderen Kindern etc. angesprochen werden. Auch in „Der kleine Zauberer und die große 5“ spielt der Schulunterricht an sich eine untergeordnete Rolle, dafür steht aber ein wesentlicher Bestandteil von Schule im Vordergrund: Noten. Durch das ganze Buch hindurch versucht die Hauptfigur Oliver mit allerhand Zauberkunst seine 5 in der Kontrollarbeit in eine bessere Note zu verwandeln:

„Erstmal mußte die dreimalverflixte Fünf verschwinden. Dann würde man schon weitersehen. Also nun auf zum Versuch römisch drei (III). Römisch drei war entschieden kitzeliger als alles vorher. Aber das half nun nichts. Er nahm wieder die rote Tinte und tröpfelte sie vorsichtig auf die Ziffer, die allmählich darin ertrank und endlich nicht mehr zu sehen war. Das heißt: noch nicht, aber gleich. Finger gespreizt, Sprüchlein gemurmelt, Fleck – verschwunden. Jaha, Fleck verschwunden – Fünf vorhanden. Tatsächlich. Der Fleck war weg, aber die Fünf war wieder oder noch da.“(10)

Hier passiert genau das Gegenteil zu dem oben genannten Geschehen im „Antennenaugust“: Die Schule hält Einzug in das nicht-schulische Leben Olivers, und er nutzt jede freie Minute dazu, sein schulisches Problem zu lösen. Kinder sind also nicht in der Schule Schüler und Zuhause Kinder. Sie sind je nachdem was gerade wichtig für sie ist, mehr das eine oder andere. Noch stärker ausgedrückt kann man sagen, dass sich Schule und Freizeit in den Kindheitsdarstellungen nicht voneinander abgrenzen, sondern ineinandergreifen; nicht nur nebeneinander laufen, sondern miteinander und gleichzeitig vorhanden sind.
Kaule, aus dem gleichnamigen Kinderbuch, bringt seine Freizeitbeschäftigung selbst in sein Schulleben hinein: Für den Kindertag, der mit einem Fest begangen werden soll, plant Kaule einen Auftritt seiner Ziege Julka, und malt dafür ein Bild für die Wandzeitung der Klasse:

„Lehrer Knittel betrachtet die Zeichnung. Sehr eingehend besieht er sie sich. Lehrer Knittel verzieht kein Miene. „Wie lange hast du daran gesessen, Kaule?“
„So an die drei Stunden können es gewesen sein. Was, Karola?“
„Drei Stunden.“ Eine solche Ausdauer hat Herr Knittel Kaule nie zugetraut. Am besten gefallen ihm die Ziegenhörner. „Da zeichnest du also gerne?“
„Erst seit einer Woche, Herr Knittel. Ich zeichne mit Karola zusammen. In jeder freien Minute zeichnen wir.“(11)

Auch hier findet eine Verschränkung von Freizeit und Schulzeit statt, die auch verbunden mit der Freundschaft zu Karola ist. Kaule und Karola verbringen ihre Freizeit miteinander; gleichzeitig sind sie auch Schulkameraden. Beides ergänzt sich in der Form, dass Kaule mit seiner Freizeitaktivität – in diesem Fall das Zeichnen – in der Schule Anerkennung erhält und in die Klassengemeinschaft und das Klassengeschehen stärker einbezogen wird, als das vorher der Fall war. Kaule, für den die Schule vorher nicht so wichtig war, erfährt hier Zuwendung, die er vorher nicht kannte, und wird dadurch umgänglicher.
Die Geschichte in „Käuzchenkuhle“ findet in den Sommerferien statt, also zu einer Zeit, in der für die Kinder das Thema Schule eigentlich in weiter Ferne liegt. Doch die Jungengruppe um Protagonisten Jampoll will Lehrer Lenz helfen, um einen Anbau an der Schule finanzieren zu können, wie im Kapitel 5.1 in dieser Arbeit schon erwähnt wurde.

„Lenz war bei Nennung der Summe(12) zusammengezuckt. Er zog das Kinn an, als ob er schlecht Luft bekäme. Schon die ganze Zeit hatte er auf dem Sprung gestanden, wieder in die Verhandlungen einzugreifen. Drängend wollte er von Schraube wissen:
„Werdet ihr die Schrott-Sache nun erledigen?“
„Wir könn uns das Zeug nich aus den Rippen schneiden!“
„Warum stellst du dich so sperrig an, Werner(13)?“ brach Lehrer Lenz ungehalten aus. „Niemand befiehlt dir mitzumachen. Das ist klar. Aber es handelt sich um eine technische Angelegenheit, und da weißt du am besten Bescheid…“
Schraube schwieg, die Hände auf dem Rücken, breitbeinig.
„Ich möchte da ganz klare Verhältnisse, Werner!“ fuhr Lenz fort. „Ich habe dich nicht sitzenlassen wollen, und du bist auch nicht sitzengeblieben. Aber viel hätte nicht gefehlt. Wer ist schuld?“(14)

Obwohl Ferien sind, nutzt der Lehrer Lenz Schraubes schulische Leistungen als Argument, um ihn zum Schrottsammeln zu animieren. Dadurch drängt er Schraube in eine untergeordnete Stellung, die ich in diesem Zusammenhang als Schülerrolle bezeichne. Während Schraube im Wald oder auf dem See mit seinen Freunden ein sehr extrovertierter Junge ist, verhält er sich in Gegenwart des Lehrers sehr zurückhaltend und defensiv.
In einigen der 15 untersuchten Kinderbücher werden Kinder als besonders wissbegierig dargestellt. Im Kinderbuch „Trini“ lernen beispielsweise Trini und andere Jungen aus verschiedenen Indianerdörfern bei dem Städter Mario Puentes, der eines Tages bei Trinis Onkel Jeronimo auftaucht. Die Indianer sind bis dahin überhaupt nicht schulisch gebildet worden, können weder lesen noch schreiben, so dass sie von den Herren, denen das Land gehört, oft auch falsch ausgezahlt werden. Bei Mario gibt zwar kein Schulgebäude und auch keine Stundenglocke, doch er gibt Unterrichtsstunden mit Büchern und Heften, in denen den jungen Menschen vor allem Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht wird, allerdings heimlich, damit die Gutsherren davon nichts erfahren. Mario geht auch gegen den Aberglauben vor, und erklärt seinen Schülern, wie beispielsweise Krankheiten entstehen, und wie moderne Medizin diese Krankheiten heilen kann. Seine Schüler hält Mario an, in ihren Dörfern ebenfalls andere junge Menschen in diesen Dingen zu unterrichten, damit sich das Wissen unter den Indianern weiter verbreiten kann.

„Die ersten, die ihn(15) wirklich sahen, war eine Gruppe von vier Jungen, die einen Streifzug zu dem abgebrannten Gutshof machte. Sie fand den Mario gerade dabei, wie er Braulio und Trini laut aus einem Buch lesen ließ. Da sie untereinander indianisch sprachen, war ihr Spanisch nicht besonders gut, und Mario mußte ihnen den Sinn mancher Worte erklären.
Die Jungen waren in einiger Entfernung stehengeblieben. Was war das für ein geheimnisvolles Buch? Auch der sonderbare Tonfall, mit dem der ihnen bekannte Trini da sprach, ließ sie etwas Geheimnisvolles vermuten. Daß alle Kinder in allen Schulen so lesen, konnten sie nicht wissen, weil sie noch nie in der Nähe einer Schule gewesen waren. Sie beschlossen, möglichst unsichtbar weiterzubeobachten.
Unterdessen begannen Braulio und Trini etwas Neues. Sie knieten vor der Bank nieder, die sonst zum Sitzen diente. Darauf legten sie weißes Papier und stellten dazwischen eine schwarzglänzende Sache. Dahinein steckte Braulio ein rotes Stäbchen und zog es wieder heraus. Dasselbe tat Trini. Mit den Stäbchen schienen sie das Papier zu ritzen, während Mario langsam etwas sagte, was den Lauschern unverständlich war.“(16)

Hier wird eine typische Unterrichtsstunde von Mario beschrieben, in der die Jungen Lesen und Schreiben üben. Vorher wird in der Geschichte klar gemacht, dass die Jungen unbedingt von Mario etwas lernen wollen. Die Kinder wollen also von sich aus etwas lernen und geben sich deshalb auch Mühe, die Aufgaben zu erfüllen, die Mario ihnen gibt – in dieser Szene das laute Vorlesen und danach das Schreiben eines Diktates. Sie arbeiten konzentriert und diszipliniert an den Aufgaben, und fordern von Mario auch immer wieder, dass er ihren Wissensdurst stillt und ihnen Sachen erklärt.
Kristian im Kinderbuch „Käuzchenkuhle“ ist ebenfalls ein sehr wissbegieriger Junge, der seinen Freunden dieses Wissen auch weitervermitteln will:

„Bermudas?“ fragte Schraube ungewiß. „Was für ‘ne Drehe is ‘n das?“
„Westatlantik! Schon bald nach Kuba runter zu Fidel Castro!“
„Da gibt’s doch eher Haie und solche Brocken?!“ Schraube zweifelte. „Du hast dir wieder was ausgedacht vor Phantasie!“
„Alles wissenschaftlich erwiesen, Ehrenwort!“ schwor Kristian. „Bei Lehrer Lenz habe ich’s nachgelesen.“(17)

Kristian wird durch die ganze Geschichte hindurch als an allem interessiert und schlau dargestellt. Er erforscht seine Welt und nutzt auch die Wissenschaft, um sich seine Welt zueigen zu machen. Dabei referiert er immer darauf, dass seine Aussagen nicht von ihm allein ausgedacht, sondern „wissenschaftlich erwiesen“(18) sind. Kristian kann man daher als den Prototypen des wissbegierigen Kindes sehen, der auch ein sehr guter Schüler ist und über den Unterrichtsstoff hinaus Wissen erwerben will.
Zusammenfassend kann man sagen, dass in den untersuchten Kinderbüchern das Schülerbild so konstruiert wird, dass das Klassenkollektiv ein zentrales Element jeder Klasse darstellt. In diesem Kollektiv steht vordergründig die Disziplin an erster Stelle, doch im Hintergrund werden Probleme untereinander nicht so diszipliniert und regeltreu geklärt. Der Unterrichtsstoff und das Schulgebäude spielen für die Kinderfiguren oft nur eine untergeordnete Rolle, da die Schulsituationen für die Kinderfiguren in ihr außerschulisches Leben eingeflochten sind: Freizeit und Schule sind keine voneinander abgegrenzten Bereiche, sondern im Leben der Kinder miteinander verschränkt. Trotzdem ist erkennbar, dass die Kinder in bestimmten Situationen in eine Schülerrolle rutschen und sich dementsprechend auch anders verhalten, als sie das in einer anderen Umgebung tun würden. Es gibt aber auch Kinderfiguren, deren zentrales Ziel das Erwerben von Wissen ist, und die sehr diszipliniert dafür arbeiten.

„Kinder als Lehrer“ in Kinderbüchern der DDR

Kinder treten in den untersuchten Kinderbüchern nicht nur als Schüler, sondern auch als Lehrer auf. Wie oben schon erwähnt, sollen beispielsweise die Kinder, die Mario im Kinderbuch „Trini“(19) unterrichtet, ihr Wissen an andere weitergeben. Aus jedem Dorf kommen zwei junge Menschen, die in der Gärtnerei unterrichtet werden sollen. Da Mario sie nicht allein unterrichten kann übergibt er seinen früheren Schülern die Neuen zum Unterricht:

„Mario hatte den Neuen gerade zwei Tage Unterricht gegeben, als sechs weitere eintrafen.
Er rief Rosa. Sie kam in ihrer linkischen Weise an und schien ihm unbegabter als je. Weil er sie aber gerufen hatte, wollte er sie nicht wieder fortschicken und sagte: „Du wolltest doch unterrichten? Nimm die beiden von Tuxpam! Ich fange inzwischen mit den sechs Neuen an.“
Sie nickte nur und ging fort zu denen von Tuxpam.
Während des Unterrichts bei den Neuen vergaß Mario Rosa und dachte erst wieder nach einigen Stunden an sie.
Sie hockte noch bei den beiden und ließ sie schreiben. Er blickte in die Hefte und sah sofort, daß Rosa genauso unterrichtete, wie sie es bei ihm gesehen hatte. […]
„Ich habe große Pläne“, sagte Mario. „Jetzt unterrichte ich nicht mehr Schüler, sondern Lehrer – freilich noch sehr junge. Ich werde ihnen sagen: Jeder von euch bekommt nur unter der Bedingung Unterricht, daß er mindestens zwei anderen Kenntnisse weitergibt. Dabei muß er jeden seiner Schüler wieder verpflichten, mindestens zwei andere zu unterrichten. Du weißt, dass es niemals nur zwei sind, sondern daß stets mehr dazu kommen. Wie sich das verbreiten wird! Wenn wir das eine Zeitlang fortsetzen, gibt es bald in allen Dörfern junge Lehrer!“(20)

Die Kinder lernen also nicht nur das Wissen, sondern schauen sich auch vom Lehrer ab, wie man unterrichtet. Rosas Beispiel zeigt das sehr deutlich: Sie gibt den Neuen nicht nur einfach das Wissen weiter, sie nutzt auch die bei ihrem Lehrer Mario gesehenen Methoden, um das Wissen auch richtig und nutzbringend weiter zu geben.
Auch im Kinderbuch „Kaule“ gibt ein Kind einem anderen Unterricht. Nachdem Karola durch einen Unfall Zuhause bleiben muss, bringt ihr der Schulkamerad Otto die Hausaufgaben, und erklärt ihr, was im Unterricht gelernt wurde.

„Otto hat die Schultasche unter dem Arm. Alle Tage bringt er Karola die Hausaufgaben.
„Nun, wird sie es zuwege bringen mit den Trapezen, Otto?“(21)
Otto zupft vorsichtig ein Blatt aus dem Atlas. Auf dem Blatt ist ein großes Trapez zu sehen. Das Trapez ist säuberlich mit roten und blauen Strichen gezeichnet.
„Doch, doch!“ sagt Kaule. „Mit Farbstrichen begreift sie es noch einmal so schnell“(22)

Otto bringt Karola also nicht nur einfach die Hausaufgaben vorbei und lässt sie allein damit, nein, er hat sich vorher schon Gedanken gemacht, wie er Karola den im Unterricht drangenommenen Stoff erklären und beibringen kann. Dazu hat er im Falle des Trapezes eine eigene Methode entwickelt – die bunten Markierungen – mit deren Hilfe Karola schneller lernen soll.
In dem Kinderbuch „Pianke“ geht das kleine jüdische Mädchen Rachel, das Piankes Vater heimlich aufgenommen hat und als dessen Cousine Irma ausgibt, nicht zur Schule. Piankes Vater hat Angst, dass sie sich durch ihre Ausdruckweise ausversehen als Jüdin verraten und dann abtransportiert werden würde. Deshalb muss Pianke, der die Schule besucht, Irma alles beibringen, was er in der Schule lernt.(23)

„So kam es, daß Pianke Lehrer wurde. Jeden Tag nach dem Mittagessen versuchte er, Irma beizubringen, was er gerade selbst gelernt hatte. Sie begriff erstaunlich schnell. Im Kopfrechnen überflügelte sie Pianke sogar. Er ärgerte sich darüber, denn wo gab es so was, daß der Schüler besser war als der Lehrer.
Große Schwierigkeiten bereitete Irma die Rechtschreibung. Sie hatte in der ersten Klasse gerade das Alphabet gelernt. Pianke, der ebenfalls keine große Leuchte auf diesem Gebiet war, triumphierte, denn besser als Irma war er allemal. „Ich habe nie im Leben ein Haus mit ß gesehen. So ein Hauß gibt es vielleicht bei deiner Oma in Jehupetz. Aber hier werden Häuser anders geschrieben.“
„Mit z“, sagte Irma.
„Mit z!“ rief Pianke und krümmte sich vor Lachen. „In dein Hauz schlägt bestimmt der Blitz ein!“
„Na gut, dann eben mit s!“
Obwohl Pianke seinen Klassenlehrer nicht leiden mochte, verfiel er nun darauf, ihn nachzuahmen.
„Warum denn nicht gleich so, wenn ich fragen darf?“(24)

Pianke bringt also der um einige Jahre jüngeren Irma bei, was er in der Schule gelernt hat. Dabei ist er äußerst missmutig, wenn er merkt, das Irma etwas besser kann, Kopfrechnen zum Beispiel, und im Gegenzug kostet er es richtig aus, wenn Irma etwas nicht so schnell lernt und Fehler macht. Er macht sich sogar lustig über sie, als sie das Wort Haus immer wieder falsch schreibt. Ähnlich wie schon im Kinderbuch „Trini“ nutzt auch hier das Kind, das als Lehrer agiert, das Auftreten, das bei den eigenen Lehrern gesehen wurde. Pianke übernimmt eine gesamte Phrase, die er sich bei seinem Klassenlehrer abgeschaut hat: „Warum denn nicht gleich so?“(25).
Die Kinder in diesen Kinderbüchern geben ihr Wissen freiwillig an andere Kinder weiter. Dabei nutzen sie Methoden, die sie bei ihren eigenen Lehrern gesehen haben, oder denken sich eigene Methoden aus, um den Unterrichtsstoff zu veranschaulichen. Man könnte also von einer Methodenkompetenz bei diesen Kinderfiguren sprechen. Diese Kinder begeben sich dabei in die Rolle des Lehrers, die auch unter Kinder von Autorität gekennzeichnet ist. Zu Konflikten kann es dabei kommen, wenn die Schüler besser und schneller werden, als ihre jungen Lehrer.

Fußnoten

(1) der Klassenlehrer

(2) Ich bin die Nele (1975), S. 60.

(3) das sagt Mateja

(4) das sagt Klaus

(5) Den Wolken ein Stück näher (1975), S. 19-21.

(6) Ebd., S. 24.

(7) Zur Bildung der Schüleridentität und zum heimlichen Lehrplan vgl. bspw. Dieter Nittel (2001).

(8) der Bussard

(9) Antennenaugust (1988), S. 50.

(10) Der kleine Zauberer und die große 5 (1985), S. 42f.

(11) Kaule (1962), S. 125.

(12) Summe des Voranschlags für einen neuen Eisenträger

(13) eigentlicher Name von Schraube

(14) Käuzchenkuhle (1980), S. 78.

(15) Mario

(16) Trini (1965), S. 130f.

(17) Käuzchenkuhle (1980), S. 89.

(18) Ebd.

(19) Die Inhaltsangabe zu diesem Buch findet sich im Anhang dieser Arbeit.

(20) Trini (1965), S. 146f.

(21) Das sagt Kaule.

(22) Kaule (1962), S.63f.

(23) Vgl. die Inhaltsangabe der Geschichte im Anhang dieser Arbeit.

(24) Pianke (1985), S. 34f.

(25) Ebd. S. 35.

Literatur

Abraham, Peter (1985): Pianke. Berlin: Volk und Wissen Verlag.

Beseler, Horst (1980): Käuzchenkuhle. 1.Taschenbuchauflage. Berlin: Der Kinderbuchverlag.

Brock, Peter (1975): Ich bin die Nele. 4. Auflage. Berlin: Der Kinderbuchverlag.

Carqueville, Isabel (2008): Schüler, Pionier, Rebell. Kindheitskonstruktionen in Kinderbüchern der DDR. Kassel: Grin-Verlag.

David, Kurt (1988): Antennenaugust. 7. Auflage. Berlin: Der Kinderbuchverlag.

Görlich, Günter (1975): Den Wolken ein Stück näher. Berlin: Der Kinderbuchverlag.

Kant, Uwe (1985) Der kleine Zauberer und die große 5. 9. Auflage. Berlin: Der Kinderbuchverlag.

Renn, Ludwig (1965): Trini. Schulausgabe. Berlin: Der Kinderbuchverlag.

Wellm, Alfred (1962): Kaule. Berlin: Der Kinderbuchverlag.

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