Falldarstellung

Die Gruppenzeit der 2. Schulstufe beginnt heute mit 5 Kindern, die anderen sind nach der Versammlung (Morgenkreis) im Englischkurs. Kurt hat mit jedem Kind die anstehenden Aufgaben und Arbeiten besprochen. Die Kinder sind nun damit beschäftigt, ihre Plätze einzurichten und die jeweiligen Aufgaben zu begutachten oder mit der Arbeit zu beginnen.

Sandra sitzt im Nebenraum und bearbeitet ihr Gartenheft. Boris und Linus sitzen mit dem Arbeitsmaterial an ihrem Platz und unterhalten sich. Ihre Aufgabe ist es, gemeinsam ihre Geschichte zu ende zu schreiben. Tim blättert in den Lexika, die vor ihm an seinem Platz liegen. Er hat die Aufgabe, Informationen über bestimmte Länder mit Hilfe diverser Nachschlagewerke zu sammeln. Nur Benno weicht von der Absprache ab, nämlich nun sein Gartenbuch zu vervollständigen. Er holt sich einen Taschenrechner, der Aufgaben stellt und setzt sich damit mitten in den Gruppenraum und beginnt zu rechnen.

Zu Beginn der transkribierten Szene ist also das Thema für Tim mit Kurt bereits geklärt, nämlich Geographie machen. Es geht nun um die inhaltliche Fokussierung. Kurt gibt sie nicht vor, sondern überlässt Tim selbst die Aufgabe. Das dazu notwendige Material ist bereits in Tims Hand, nämlich ein Lexikon. Tim sagt, er möchte etwas über Länder erfahren. Auf Nachfrage von Kurt entscheidet er sich für Norwegen. Nun geht es darum, wie man etwas mit Hilfe eines Lexikons erfährt. Tim operrationalisiert die Fähigkeit, in einem Inhaltsverzeichnis das Land zu finden und dann die entsprechende Seite dazu aufzuschlagen. Durch das nun folgende Blättern im Lexikon eröffnen sich Tim verschiedene alternative Fragestellungen oder Themen. Er bleibt immer wieder bei einem Thema stehen, verbalisiert ohne direkten Ansprechpartner sein Erstaunen und blättert dann weiter, bis seine Aufmerksamkeit auf die ‚Planeten‘ gelenkt wird.

Parallel dazu ist Kurt mit anderen Kindern und deren Aufgabenstellung beschäftigt. Linus und Boris haben sich nach der Arbeitsanweisung von Kurt mit ihrem Material schon an ihre Plätze gesetzt, als Tim sie mit einem lautem Ausdruck des Erstaunens zu sich lockt. Er spricht zunächst nur Benno an, der jedoch bereits intensiv mit Rechnen beschäftigt ist. Dann stellt er Linus seine Frage, nämlich was wohl größer ist, der Mars oder die Erde. Er hat schließlich die Aufmerksamkeitsrichtung von drei Jungen auf seine Frage gerichtet, die sie schließlich gemeinsam bearbeiten.

(Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)

1 Tim: Boa Benno was is größer der Mars oder die Erde?

2 ((2 Sek., Benno reagiert nicht))

3 Benno!

4 ((2 Sek.))

5 Benno!

6 ((2 Sek, Benno reagiert nicht))

7 Linus? Was schätzt du is größer der Mars oder die Erde?

((Linus und Boris gehen zu Tim, der am Tisch auf seinem Stuhl sitzt vor sich und das Buch aufgeschlagen liegen hat. Sie stellen sich rechts und links hinter ihn und betrachten die aufgeschlagene Seite))

8 Linus: Ja ehm oh

9 Boris: Der Mars

10 Linus: / Die Erde

11 Boris: / Der Mars

12 Benno: / eh der Mars(!) is viel größer

13 Tim: / der Mars is kleiner als die Erde

14 Benno: ((verneinend)) eheh

15 Tim: Ja guck doch

16 Benno: wo steht’s

17 Tim: ((leise:)) der Mars

18 ((Auch Benno geht jetzt zu Tim. Alle stehen bei Tim und gucken in das Buch))

19 Tim: hier der is kleiner als die Erde

20 ((3 Sek.))

21 Die sind alle auch kleiner ((zeigt dabei auf andere Planeten auf der Abbildung))

22 Linus: Pluto

23 Tim: das is die Sonne ((erhobene Stimme)) hier wenn das hier die Sonne

24 wär ((+)) dann könnten hier auch noch Planeten wenn die sich immer so 25 drehen (…) und da bleibt einer stehen

26 Benno: der Mars is größer

27 Linus: ((verneinend)) eheh der Mars is das

28 Tim: hier

29 Benno: / der Mars is aber nich größer

30 Linus: / eheh

31 ?: Nein

32 Tim: / Nein

33 Linus: der Mars is kleiner

34 ?: Guck!

35 Linus: Is ja wohl auch in Rudis Buch so ((Rudi ist der Bruder von Linus))

36 Boris: Der Saturn is aber noch größer würd ich sagen und der Jupiter auch

37 ((Lachen, Tim mit Boris))

38 Linus: ( ) und der Plutiter ehm Plu (…)

39 Benno: Pluto

40 Linus: / Pluto is kleiner als der Mars. Der Pluto is da der kleinste.

41 ?: ((zustimmend)) hm

42 Linus: Neptun is größer als die alle aber viel gä. ((aufgeregt)) Ich will mal

43 gucken wie groß das hier sein muss. Du kennst doch die ganze (Welt?)

44 Benno: Guck mal der is größer der is eins ( )

45 Tim: ich kenn se nich aber aber ((schnell)) stell dir mal vor wie groß das da ( )

46 Alle: ((aufgeregt durcheinander))

47 Tim: ( ) Landeautobahn

48 Benno: Tim guck ma

49 Tim: Ja

50 Benno: das is so ne Größe (-)

51 Linus: nee

52 Benno: Lehrer komma was bedeuten hier die Punkte?

53 Linus: Das sind keine Punkte

54 ((KURT stellt sich dazu und schaut auf die Buchseite))

55 Linus: Das sind keine Größen das sind ehm

56 Benno: sind das die Größen?

57 KURT: muss gucken

58 ((4 Sek))

59 ( ) müsst ihr lesen steht da

60 Tim: ach die das is die weitweg von der Sonne

61 KURT: / Nein

62 Benno: / Das sind die Größen

63 KURT: / Nein

64 Linus: / Nein

65 KURT: / Da steht nur

66 Linus: Das sind diese kleinen Teile diese kleinen Steinchen

67 KURT: / Nein (…..) Beschreibung lesen

68 ((Allgemeine Unmutsäußerung))

69 Linus: Ohmann

70 KURT: Was?

71 Linus: mach doch mal grad Platz

72 KURT: ich wart dass du jetz hier/ was du jetzt machen willst.

73 Tim: Halbmond

74 KURT: halt halt

75 ((durcheinander))

76 KURT: sag mal

77 Linus: hm meine Geschichte holen

78 Kurt: Hast du n Stift?

Interpretation

Auswertung 1: Kinder forschen

Die Begegnung mit Faszinierend – Neuem, das sowohl inhaltlich als auch methodisch (Anwendung von Schaubildern und Maßstäben für Größenverhältnisse) in das eigene Wissen überführt wird, vollzieht sich in diesem Beispiel mit Hilfe einer Anzahl von Erschließungsoperationen dem Neuen, Rätselhaften gegenüber. Motor dieser aktivierten Erschließungsoperationen ist die Schaffung einer neuen Gesamtvorstellung für Größenverhältnisse (einschließlich der eigenen Eingefangenheit in diese). Das auskristallisierte interaktive Handeln der Kinder – wie ich nun herausarbeiten werde – kann auch als ‚Entdeckungs- oder Forscherhandeln’ bezeichnet werden.

„Boa“ – dieser laute Ausdruck des Erstaunens, im Sinne von: das hätte ich nicht gewusst, leitet die ‚Veröffentlichung’ von Tims Beschäftigung mit dem Lexikon ein. Seine Entdeckung soll geteilt werden, zunächst vorzugsweise mit dem Freund Benno. Lambrich und Scholz haben in ihren Beobachtungen an Freien Schulen und einer Regelschule eine Besonderheit gemeinsamen Tuns unter Kindern als ‚gemeinsames Forschen’ identifiziert: „Es beginnt in der Regel damit, dass ein Kind etwas entdeckt, was es überrascht und in dem es eine Vielfalt von Handlungsmöglichkeiten findet… Jede derartige Entdeckung, die wir beobachten konnten, hatte unmittelbar zur Folge, dass ein oder mehrere Kinder hinzugeholt wurden. Wenn man so will, muss diese Entdeckung publik gemacht werden“ (Lambrich/ Scholz 1992:297f).

„Was ist größer der Mars oder die Erde?“ Mit dieser, als Wissensfrage formulierten Aufforderung an Benno wird es Tim möglich, eine für ihn offenbar überraschende Erkenntnis ins Gespräch zu bringen.

Er versucht dies dreimal bei Benno, ohne ihn dabei anzusehen – Benno sitzt hinter ihm. Der Freund und Wunschteilhaber(-partner) an seiner Erkenntnis ist jedoch so intensiv mit den Rechenaufgaben beschäftigt, dass er sich dadurch (noch) nicht ablenken lässt.

Linus, der mit den Vorbereitungen seiner Arbeit beschäftigt ist, wird als nächster von Tim namentlich angesprochen und aufgefordert, eine Antwort zu geben, nun spezifiziert als ‚Schätzung’. Hiermit wird ein quizähnliches Spiel initiiert, bei dem man gewinnen kann, indem die richtige Antwort geraten oder geschätzt wird. Zusammen mit dem Thema ‚Planeten im Universum’ – per se ein spannendes Rätsel – hat Tim das Interesse von drei Kindern geweckt.

Boris und Linus versammeln sich vor Tims Objekt des Interesses, betrachten die graphische Darstellung und stellen Vermutungen an oder Behauptungen auf. Die gegensätzlichen Hypothesen von Linus, Benno und Boris geben zunächst Tim die Chance, seine (neue) Erkenntnis auszuspielen: „der Mars ist kleiner als die Erde“. (Anm.: Vermutlich hat er auf die Viking 1-Fotos in der Fußleiste der Lexikonseite geschaut. Diese Fotos fallen unterschiedlich groß aus; ihre Größe entspricht nicht den faktischen Größenverhältnissen. Das Mars-Foto ist zufällig besonders groß. D.h. Benno hat den Unterschied zwischen einer maßstabsvergleichenden Abbildung und einem möglichst detailgetreuen Foto (das absolut gesehen wird) noch nicht erkannt.) Benno stellt diese Antwort erkennbar nicht zufrieden, er bezweifelt sie. Eine potentielle Lernsituation ist hergestellt; die systematische Vertiefung in die Materie kann beginnen.

Die visuelle Repräsentation fungiert als empirischer Ausgangspunkt für eine gemeinsame Erforschung verschiedener Phänomene des Planetensystems. Dadurch, dass Benno die Rolle eines Opponenten beibehält, werden unterschiedliche methodische Verfahren des Belegens einer Tatsachenbehauptung angewandt:

1. Das Zeigen auf die Abbildung zur Demonstration der Richtigkeit:
hier der ist kleiner als die Erde“. Die Abbildung wird als Beweismittel verwandt.
„Benno: der Mars ist größer/ Linus: (verneinend) eheh der Mars ist das“ . Tim bestätigt Linus noch einmal: „hier“.

2. Die Unterscheidung größer/ kleiner wird auf einen größeren Zusammenhang erweitert und erprobt: „die sind alle auch kleiner“.
Die Chronologie der Argumentation weist darauf hin, dass Benno diese methodischen Verfahren überzeugt haben. Er bekennt, wenn auch auf etwas ungewöhnliche Art, dass er sich hat „belehren“ lassen: „der Mars ist aber nicht größer“ (Z.31).

3. Durch Bennos Formulierung mit einem Widerspruch markierenden ‚aber’ scheint Linus davon auszugehen, dass Benno bei seiner bisherigen Meinung geblieben und noch nicht überzeugt ist, so dass die Dynamik der Klärung in Gang bleibt. Ein drittes Verfahren wird angewandt, indem zusätzliche Evidenz formuliert wird: „Linus: ist ja wohl auch in Rudis Buch so“ (Z.37).
Der Hinweis auf den ‚Stand der Wissenschaft’ ist eine nochmalige Bestätigung der These, über deren empirische Evidenz kein Zweifel mehr besteht. Klar erscheint den Beteiligten, dass die Abbildung demnach als Mittel genutzt werden kann, um ‚empirische’ Fragen der Größenverhältnisse von Planeten zu klären.

Durch die parallel erfolgende Verschiebung des Interesses von der spezifischen Frage der Größenverhältnisse von Mars und Erde auf die Größen allgemein, ergibt sich eine schrittweise Kontrastierung, in der (bis auf Uranus) alle abgebildeten Planeten einbezogen und einander zugeordnet werden:

a) diejenigen Planeten, die alle kleiner sind als die Erde (Z.21)
b) diejenigen, die größer sind (Saturn, Jupiter) (Z.36)
c) Pluto, der kleiner ist als der Mars (Z.40)
d) Pluto als der kleinste (Z.40/ 41)
e) Neptun, der viel größer ist, als die alle (Z.42)

Die Kinder wenden ihr geteiltes und gemeinsam erzeugtes Wissen an: „Der Saturn ist aber noch größer (…) und der Jupiter auch“ „Pluto ist kleiner als der Mars“ „Neptun ist größer als die alle aber viel“.

Schließlich ergeben sich weitere explorative Möglichkeiten aus der Gestalt der Abbildung: Tim verweist auf eine „Landeautobahn“ (Z.47), vermutlich auf die Abbildung der Saturnringe bezogen. Benno bringt, nachdem er zuletzt noch bei den Größenvergleichen war („der is größer der is eins“(Z.44), das Gespräch auf etwas, das er auch als ‚ so ne Größe’ bezeichnet (Z.50). Jetzt verneint Linus, daraufhin bezieht Benno den ‚Lehrer’ ein (Z.52).

Benno hat dadurch die Aufmerksamkeit auf eine nach einer anderen Systematik erstellten Illustration auf der selben Seite gelenkt. Die erarbeitete Deutungsmethode macht jedoch Schwierigkeiten. Ihre Anwendung führt zum Widerspruch bei den anderen. Um dieses Sachproblem zu lösen, will Benno offenbar einen Experten hinzuziehen. Zugleich hat sich Linus auf die Opponentenrolle ‚eingeschossen’, er widerspricht der Implikation von Bennos Frage nach Punkten und der Vermutung, dass es sich um Größen handele. (Z.55) Benno formuliert auch dies, ohne die Antwort auf seine erste Frage (Z.52) abzuwarten, als Frage an den Experten. (Z.56)

Damit wird ein weiteres methodisches Element in den Forschungsprozess eingeführt: die Expertenbefragung. Sie erscheint angezeigt, wenn eine Forschergruppe auf eine Frage stößt, die sie aus eigener Kompetenz nicht beantworten kann. Allerdings bietet auch Tim, bislang ‚Hüter’ der Autorität des Buches eine Antwort an: „ach die das is die weitweg von der Sonne“ (Z.60) (Damit scheint zumindest für uns als Beobachterinnen klar, dass die Rede von dem als ‚Sonnensystem’ beschriebenen Teil der Abbildung ist.)

Der Experte, in diesem Fall Kurt, der Lehrer, sieht sich unvermittelt mit einem Thema und mit einer komplexen Abbildung konfrontiert, ohne darauf vorbereitet zu sein. Um die Frage zu beantworten, muss er sich selbst in die Materie vertiefen. Unterdessen reagiert er auf drei Vorschläge der Kinder jeweils mit ‚nein’ (Z.61, 63, 67), versucht aber anscheinend, den Text kurz zu überfliegen: „Da steht nur“ (Z.65), fordert dann die Kinder auf, ihm dies nachzutun: „Beschreibung lesen“ (Z.67)

Damit bringt er eine neue Dimension der Aneignung der Abbildung ins Spiel, mit der die Kinder sich bisher kaum beschäftigt haben. Ihr Fokus lag deutlich auf dem (optischen) Verstehen der visuellen Elemente. Die allgemeinen Unmutsäußerungen und Linus ‚artikuliertes „Ohmann“ (Z.69) wird auf dem Hintergrund des bisherigen Situationsverlaufs verständlich: es ging mit der Anfrage an Kurt nicht darum, einen Hinweis auf die Existenz erklärender Texte zu bekommen, sondern den gemeinsamen Prozess der forschenden Bearbeitung weiterzuführen, indem eine strittige Frage zügig geklärt wird. Kurt verweigert aus ihrer Sicht offenbar diese Rollenübernahme. Der weitere Verlauf lässt dabei den Rückschluss zu, dass er dies mit Blick auf die Vereinbarungen mit den Kindern tut, nämlich ihre Arbeiten wie kurz zuvor abgesprochen, fortzuführen.

Ihm scheint es in dieser Situation um die Erhaltung der Kontinuität in den Lernprozessen zu gehen, die ‚offiziell’ vereinbart wurden. Hier passiert etwas Erstaunliches: die unterschiedlichen Situationsdefinitionen der vier Jungen auf der einen Seite und Kurt auf der anderen Seite erzeugen einen nur angedeuteten Konflikt. Als Kurt Linus nach seiner ursprünglichen Aufgabe fragt, weiß dieser sofort, worum es geht: „meine Geschichte holen“. Alle Kinder wenden sich daraufhin wieder ihren Vorhaben im Rahmen der ‚Gruppenzeit’ zu. D.h., die beteiligten Kinder ratifizieren nochmals die zuvor getroffenen Vereinbarungen und machen so auch für sich diese kleine Lernsituation zu einer unscheinbaren Unterbrechung ihres ‚offiziellen’ Lernens während der Gruppenzeit.

Verlaufsstruktur Planetenszene
I. EIN FORSCHER MACHT EINE ENTDECKUNG (Z. 1–7)1. Situationsaufbau: Forschersituation2. Interaktionsformat: Herstellung der Aufmerksamkeitsrichtung3. Handlungsabsichten: Tim macht eine Entdeckung und will sie teilen. Sie ist ihm noch rätselhaft; deswegen stellt er den anderen ein Rätsel. Er fordert sie auf, Behauptungen aufzustellen
II. MITFORSCHER BIETEN LÖSUNGEN AN (Z. 8–13)1. Situationsdefinition: die anderen Kinder betrachten das Phänomen und beantworten seine Frage2. Interaktionsformat: Wettstreit, Quiz; die Kinder stellen Behauptungen auf
III. BEWEISE WERDEN GEFORDERT (Z.14–35)1. Situationsdefinition: widersprüchliche Behauptungen fordern eine sachliche Klärung durch Belege2. Interaktionsformat: Argumentationsschema, Benno wird zum Opponenten, die empirische Basis wird geklärt, Benno revidiert seine Meinung und bleibt dabei dennoch Opponent3. Handlungsabsichten: Benno hat etwas gelernt. Es fällt ihm vielleicht leichter, als das explizit zuzugeben, trotzdem die Opponentenrolle beizubehalten.
IV. FORSCHER GENERALISIEREN IHR NEUES VERSTÄNDNIS (Z. 36–50)1. Situationsdefinition: Kinder wenden ihr Wissen an2. Interaktionsformat: Wechsel des Interaktionsformates, Beschreibungsaktivität wird dominant; die Kinder generalisieren ihre Operation. Sie strukturieren ihr Wissen um, wenden es auf vergleichbare Phänomene an. Verfahren, die hierbei angewendet werden, sind: Serien bilden, Linien ziehen, Vergleiche machen.
V. EIN KLÄRUNGSPROBLEM – Ein Experte wird hinzugezogen (Z.51–66)1. Situationsdefinition: Ein Sachproblem taucht auf2. Interaktionsformat: ArgumentationsschemaVermutungen werden als Fragen an den Experten formuliert
VI. SCHLUß (Experte verweigert die Antwort) (Z. 67–78)1. Situationsdefinition: der Experte verweigert eine Antwort2. Interaktionsformat: Schlussaktivitäten – Ermahnung seitens des Lehrers und der folgende Schlagabtausch zwischen Kindern und Lehrer beenden die Situation3. Handlungsabsicht: der Lehrer möchte die Kinder wieder zu ihren „ursprünglichen“ Aufgaben zurückbringen

Auswertung 2: Situiertes Lernen

Durch den mikroskopischen Blick auf die innere Logik von zweieinhalb Minuten Gespräch im Übergang von der Festlegung zur Bewältigung einer ‚offiziellen’ Lernaufgabe ergeben sich neue Möglichkeiten, Lernen als situierte Praxis zu verstehen.

Was zunächst wie ein belangloses, den geordneten Ablauf einer schulischen Lernzeit störendes Gerede aussah, erweist sich bei näherer Betrachtung als ein ebenfalls in sich geordnetes Bruchstück einer Lernsituation, als Musterbeispiel eines ‚Lernens vom Kinde aus’ (Zur Reformulierung des Hentigschen Prinzips des „Lehrens vom Kinde aus“ in ein „Lernen von Kindern aus“ siehe Scholz 1990:192). Ausgehend von einer spontan organisierten Störung werden vier Kinder in einen Interaktionszusammenhang verwickelt. Sie beschäftigen sich mit einem Lerngegenstand, den sie im Vollzug ihrer Interaktion erst konstituieren. Er ist, ganz anders als bei didaktisch vorbereiteten Lehrereignissen, weder vorbestimmt, noch ist der Prozess seiner Aneignung an einem vorab definierten Ziel orientiert (‚Kennenlernen der Planeten unseres Sonnensystems und ihrer Größenverhältnisse’). Erst im Nachhinein, durch unsere Rekonstruktion wird klar, wie sich das Lernen vollzogen hat. Das Wie der methodischen Gestaltung erzeugt die Differenz, die ein zufälliges Gespräch in eine soziale Lernsituation transformiert.

Folglich geht es bei der Analyse von Lernsituationen immer um zweierlei: Wie ist die Situation systematisch beschreibbar und welche Handlungen (Lernoperationen) der Teilnehmer werden sichtbar, die auf eine Annäherung an Themen und Gegenstände des Wissens verweisen? Grafik 2 veranschaulicht die lokalen Handlungsressourcen der Lernsituation, sowie die Interaktionsmodi der Akteure. Hier wird die Chronologie der Situation als Lernsituation, in der die Kinder ein neues Verständnis erzeugen, durch ihre Beiträge und Handlungen rekonstruiert.

Im analysierten Beispiel ist bis zur Weigerung des Lehrers, seinen ihm zugeschriebenen Beitrag als Experte zu liefern, durch die beteiligten Kinder eine situationssensitive Methodik etabliert worden, mit der sie einen unbekannten und rätselhaften Gegenstand identifiziert und geklärt haben. Zusammenfassend werde ich die entscheidenden Schnittstellen dieses Lernprozesses noch einmal hervorheben.

Tim motiviert den Lernprozess durch seine Methode, das Thema spannend zu machen. Dieses Thema wird nun kollektiv erweitert, ohne dass einem der Beteiligten ein Wissensprivileg zugesprochen wird, das a priori die Gültigkeit seiner Aussage garantiert. Die Bearbeitung des Themas mit den in der Situation entfalteten Handlungsmustern (s.o.) scheitert an einem Punkt. Ob dieses Scheitern notwendigerweise passiert, da die Kinder alleine nicht in der Lage sind, das Sachproblem zu lösen, oder ob in dem Fall Benno selber das Scheitern durch die Einbeziehung des Experten, auf den er sich von da an ausschließlich bezieht, auslöst, ist letztendlich wohl nicht zu klären. Ein gemeinsames Generieren nach dem vorherig etablierten Handlungsschemas ist jedenfalls nicht mehr möglich. Die Handlungslinie ‚Gruppenzeit-Machen’ wird nun wieder dominant. (…)

Darstellung der lokalen Handlungsressourcen der Lernsituation sowie der Interaktionsmodi der Akteure. Veranschaulicht wird die Chronologie, in der die Kinder durch ihre Beiträge und Handlungen forschend ein neues Verständnis erzeugen.

Mit freundlicher Genehmigung des Klinkhardt Verlages

Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.