Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Jeder Schüler hat seinen Platz in der Klasse. Er besteht aus folgenden Elementen: ein Stuhl, die Hälfte eines Tisches und eine bestimmte Position im Raum: vorne/hinten, linke/rechte Seite; innen/außen. Mit diesen Positionen verbinden die Schüler bestimmte Affekte, die ihre Basis in der räumlichen Distanz zur Lehrperson (nah/fern) und zu bestimmten Schülern haben (Nachbarn, die ‚hautnah’ zu spüren sind). Der Klassenraum wird parzelliert und Schüler werden – im Sinne M. Foucaults (1977) – „elementar lokalisiert“. Schüler ‚sitzen’ gewissermaßen auf den Stühlen fest. Das Beispiel zeigt die Verletzung der Regel:
Beispiel(1)
S: ((steht auf, bewegt sich um seinen Tisch herum in den Teilraum, den das Karree bildet))
L: was machst du denn da?
S: mir ist grad was hingefallen
L: ( )
Sn: (…) (Getuschel)
L: Also …
Die Lehrperson unterbricht ihren inhaltlichen Diskurs, als sie bemerkt, dass ein Schüler, der unter den Kolleginnen schon als unruhiger Schüler gilt, von seinem Platz aufsteht. Durch ihre Nachfrage unterbricht sie die ‚Stoffbearbeitung’ und markiert das Tun des Schülers als ein Handeln, das einer besonderen Legitimation bedarf, da es aus den vorgesehenen Bewegungsmodi herausfällt. Auf ihre Nachfrage legitimiert der Schüler sein Handeln mit einer Ursache (etwas ist hingefallen), die er selbst – absichtlich oder nicht – erzeugt hat. Auf die Rechtfertigung des Schülers folgt keine verbale Belehrung der Lehrperson, sondern ein ostentatives Schweigen, das von Getuschel anderer Schüler untermalt wird. Dieses Schweigen mag mit der ambivalenten Situation zusammenhängen, denn die Dinge auf den Schülertischen, über die Schüler verfügen (müssen), und die Störung des Unterrichts eben durch die (Un-) Ordnung dieser Dinge liegen eng beieinander. Mit ihrem Schweigen wartet die Lehrperson, die weiterhin über das Sprecherrecht verfügt, ab und markiert auf diese Weise die Nebenhandlung des Schülers als eine Störung. Die Lehrperson kann, indem die „Stoffbearbeitung“ nur für Sekunden unterbrochen wird, mit ihrem „also“(2) fast übergangslos an das Thema wieder anknüpfen. Für die anderen Schüler wird aber deutlich markiert, dass ‚keiner rumrennen darf, wie er will’.
Diese Regel ist Bestandteil all derjenigen Vorgaben, die die körperlichen Bewegungen der Schüler strukturieren – wie pünktlich sein, still sitzen, nicht aufstehen, nicht ‚rumrennen’ und geziemende Wortmeldungen.(3) Gegen und am Ende der Schulstunde, dann, wenn die Schülerinnen in die Pause „entlassen“ werden, brechen diese Vorgaben auf und werden zu Beginn der folgenden Stunde wieder in Kraft gesetzt.
Fußnoten
1) Es werden folgende Transkriptionszeichen verwendet: L= Lehrer; S = Schüler; Sn = mehrere Schüler; ‚Schule‘ = leise; SCHULE = laut; Schule = betont; Schu — Abbruch einer Äußerung; … = Auslassung in der Transkription; (…) = unverständlich; ((…)) = Kommentar des Transkribenten; [ ] = Beginn/Ende einer Überlappung; „_“ = unmittelbare Fortsetzung; Dehnung; (P) = kurze Sprechpause; (9) = Angabe der Pause in Sekunden.
2) Es handelt sich hier um ein „framing word“ oder einen Kontextualisierungsschlüssel (wie „so“, „okay“, „gut“), mit denen Lehrpersonen Transitionsräume markieren und zeigen, dass jetzt mit dem Unterrichtsthema fortgesetzt wird (vgl. Dorr-Bremme 1990).
3) Zinnecker (1978, S. 110) weist zu Recht darauf hin, dass reformpädagogische Bemühungen seit der Jahrhundertwende v.a. auch die „Bewegungsordnung“ im Klassenraum auf die Agenda gesetzt haben.
Literatur
Dorr-Bremme, D. W.: Contextualization cues in the classroom: Discourse regulation and social control funetions. In: Language in Society 19 (1990), S. 379-402.
Focault, M.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. 1977.
Zinnecker, J.: Die Schule als Hinterbühne oder Nachrichten aus dem Unterleben der Schüler. In: B. Reiner/J. Zinnecker (Hrsg): Schüler im Schulbetrieb. Reinbek 1978, S. 29-121.
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