Falldarstellung

Das Thema Schule ist eines der beherrschenden Themen familiärer Tischgespräche (neben Planungen, Medien, Essen, Hobbys, Freunden). Schule, meint hier zunächst den ganzen systemischen Zusammenhang von Lehrern, Mitschülern, Freunden, Unterrichtsformen, Projekten, Hausaufgaben etc. Dabei erscheint aus performativer Sicht interessant, wie sich Familien über die Schule und das Lehren und Lernen selbst wechselseitig belehren. Wie stark wirken die Anforderungen und Normen der Schule in die Familie hinein? Bildet die Familiengemeinschaft ein Gegenmodell zur Schulgemeinschaft? Welche ritualisierten Muster des Lehrens und Lernens werden in den Familien deutlich? Inwiefern übernehmen Eltern dabei lnteraktionsmuster von Lehrern, Kinder Handlungsmuster von Schülern?
Familie Zobel besteht aus den ca. vierzigjährigen Eltern, den 12jährigen Zwillingen Anna und Björn und der 9jährigen Carolin. Die Familie frühstückt jeden Morgen gemeinsam in der engen Küche ihrer ansonsten großzügigen Wohnung. Das Frühstück dauert durchschnittlich 40 Minuten.

Beispiel: Transkript, Familie Zobel, 14. 03. 1999, Sequenz: Lernen

Rekonstruktion und Interpretation

In dieser Passage wird die Differenz vom Lernen in institutionalisierten und normierten Mustern der Ausbildungs- und Berufskarriere und dem Lernen in den familiären, solidarischen Beziehungen bearbeitet. Im Mittelpunkt steht zunächst „Tim“, der schon vorher im Gespräch im Zusammenhang mit seiner Schwester erwähnt wurde; Episoden aus deren Kinderzeit wurden geschildert und sich dabei an eigene Erlebnisse (der Eltern) erinnert. Beide sind entfernte Verwandte der Mutter. Vor dieser Sequenz wurde das Alter von Tim geklärt (18 Jahre). Es wird seit ca. 14 Minuten gefrühstückt. Die Atmosphäre ist entspannt und die Stimmlage ruhig.

In den Zeilen 1-4: Der ironische Tonfall der Mutter in der ersten Zeile impliziert die Frage danach, was Tim jetzt wohl – wieder – will. Der Vater verbindet das Wollen von Tim ohne Zögern mit dessen Berufswunsch. Der Zweifel der Mutter (Z 3) könnte sich sowohl auf das Wollen qua konsequenter Verfolgung des angestrebten Berufswunsches, aber auch auf diesen selbst beziehen, insofern sie kaum Möglichkeiten für Tim sieht, diese Karriere einzuschlagen (vgl. Z 43 u. 44).
Ihre Replik ordnet dem Beruf keine bestimmten Inhalte zu, die Tim vielleicht nicht erfüllen könnte, sondern im Beruf ist die Erfüllung bestimmter Anforderungen notwendig, für die man gewappnet sein muss, subjektives Wollen muss mit den objektiven Leistungsanforderungen korrespondieren.

In den Zeilen 5-13 wird eine Bildungsvorstellung diskutiert, die darauf abhebt, dass die Bedingungen jeglicher Form von Bildung der subjektiven Fähigkeit bedarf, das Lernen zu lernen (Z 5). Dass dieser Vorgabe eine petitio principii innewohnt – die darin liegt, dass man, um das Lernen zu lernen, immer schon etwas gelernt haben muss, ist für den weiteren Verlauf des Geschehens weniger entscheidend als die Tatsache, dass die individuellen Voraussetzungen Tims nicht mit den objektiv vorgegebenen, institutionell erwarteten in Einklang zu bringen sind. In diesem Sinne ist auch der von Björn bestätigte Zweifel zu verstehen (Z 6), der dann vom Vater umgelenkt wird. Gut sein heißt für diesen, ein gesetztes Ziel zu erreichen (Z 7). Mit seinem Einwurf bewertet der Vater das Setzen eigener Ziele als positiv, und unterstreicht, dass Tim immer wieder Strategien findet, die institutionellen Anforderungen zu unterlaufen, um so doch zu seinem Ziel zu kommen – und auch das will gelernt sein. Die Mutter verschiebt dann den Diskurs auf die Ebene der Tugenden, indem sie das Klischee vom intelligenten, aber faulen Kind bemüht (Z 8). Ihre Kritik an Tims Faulheit wird überdeutlich: Die Faulheit ist so „wirklich“, dass man sie sogar riechen kann. Ihre Kritik an den typischen Lernfächern unter den Studienfächern bezieht sich auf alleiniges Auswendiglernen (Rechtsanwalt). Sie verschärft damit ihre Zweifel und ihre Kritik an der Intention Tims, denn aufgrund seiner objektiv geltenden Faulheit gäbe es kaum Möglichkeiten, den Leistungsanforderungen durch geschickte Manipulationen gerecht zu werden.

Björn äußert Unverständnis über die anhaltende Faulheit von Tim (Z 10). Die Mutter bezieht das Faulsein auf Leistungen bzw. Noten, die als objektive Daten das subjektive Faulsein von Tim dokumentieren (der „Blaue Brief“). Der Einwurf des Vaters, dass Tim nur dann lernt, wenn er wirklich muss (Z 13), lässt sich zwar als Entschuldigung für Tim verstehen, zugleich aber als Abgrenzung zu den eigenen Kindern begreifen: Was für Tim „normal“ ist, darf für uns kein Maßstab sein. Das Erreichen des Klassenziels wird dann seitens der Mutter positiv bewertet, da das kurzfristige Lernen dem Erreichen des Klassenziels dient und als praktikable Schlussfolgerung für Tim dient: das kurzfristige Lernen ist sein Prinzip.

In den Zeilen 14-20 kommen dann die Lernvoraussetzungen zur Sprache. Die Mutter macht ihre Kritik an Tims Faulheit zur Forderung an die Kinder, sich diese nicht zum Vorbild zu nehmen. Auf den folgenden Einspruch Björns, dass diese Art der Faulheit doch funktioniert, eröffnet die Mutter mit ihrer Frage die Möglichkeit einer Kritik an der Art des Erlernten, dass so nicht wirklich verstanden worden sein kann, was von Björn bestätigt wird. Daraufhin wiederholt die Mutter ihre Aufforderung als Feststellung, sich dieses Verhalten nicht zum Vorbild zu nehmen. Von Björn wird diese Aufforderung akzeptiert, womit er anerkennt, dass richtiges Lernen ein reflektierendes und reflektiertes Lernen ist.

Aus dem Blickwinkel des oben skizzierten pädagogischen Generationenbegriffs, der auf die mit der Einführung der Jüngeren in eine Kultur verbundenen Anforderungen und Unterstützungsleistungen der Älteren abhebt, werden hier die pädagogischen Leistungen der Eltern besonders deutlich. Das für das Lernen insgesamt und darüber hinaus für Bildungskarrieren relevante Lernmuster ist das Lernen des Lernens (Z 5), das gemäß institutionellen Standards (Z 11), als kontinuierliches Lernen (Z 14f.) und als reflektiertes und reflektierendes Lernen (Z 17) beschrieben wird. Deutlich wird an dieser Stelle, dass die ältere Generation, d.h. hier die Mutter, von den Kindern nicht bloßes Wissen lernen (Z 8f), und auch nicht primär – das auf das strategische Minimalziel des Erreichens institutioneller Vorgaben gerichtete – Können lernen (Z 14f.) und letztlich auch nicht prinzipiell auf das Leben lernen abzielt, sondern auf ein gründliches, kontinuierliches und reflektiertes Lernen. Damit stellt die ältere Generationen die Metaebene des Lernens heraus, die als durchgängiges Moment des Lernens selbst gelten kann; gleichzeitig erfolgt der Hinweis auf das Lernen lernen als ein Auf-Dauer-Stellen des Lernens selbst, da die rekursive Schleife des Lernen Lernens nicht zum Ende gebracht werden kann.

Das Lernen zu lernen wird hier als Aufforderung eingeführt, die das Wissen, Können und Leben lernen durch seine illokutionäre Struktur (Austin) umgreift: Indem ich Wissen, Können und Leben lerne, lerne ich auch etwas über das Lernen selbst, vollziehe ich diese diversen (oftmals nur analytisch trennbaren) Lernvorgänge implizit oder explizit mit. Über den Sachverhalt hinaus, dass das Lernen lernen als Metaform die anderen Lernformen immer schon performativ umgreift, fordert die Mutter hier einen bewussten, expliziten und nachhaltigen Umgang mit dieser Lernform.
In den Zeilen 21-25 folgt eine Belehrung der jüngsten Tochter Carolin über richtiges Benehmen bei Tisch durch die Mutter. Eingefordert wird hier ein korrektes Verhalten, das sich durch die zweimalige Verwendung von „bitte“ (Z 22, 24) ausdrückt. Während in der schulischen Laufbahn mithin Selbstdisziplin mit Bezug auf ein Lernen des Lernens erforderlich ist, wird im familiären Umgang auf Höflichkeit (Zurückhaltung) Wert gelegt. Die Mutter verschafft dieser Norm einen gewissen Nachdruck, wenn sie statt des üblichen Kosewortes für ihre jüngste Tochter hier das offizielle „Carolin“ verwendet (Z 24).

Wie man auch immer das Bitten hier verstehen kann: als Höflichkeitsform, bestimmte Vorstellungen zu äußern und diesen zu praktischen Wirkungen zu verhelfen, als Aufforderungsform, sich den Anforderungen entsprechend zu verhalten, oder auch als Befehlsform, die Äußerungen direkt und konkret umzusetzen – die Bitte ist vor allem ein performativer Akt, eine exerzitive (und eine konduktive) Äußerung, die darin besteht, sich für ein bestimmtes Verhalten zu entscheiden (vgl. Austin 1985, S. 169ff). Mit exerzitiven Äußerungen übt man Macht und Einfluss auf sein Gegenüber aus, und versucht diesen, auf ein bestimmtes Verhalten festzulegen; man übt damit Recht aus oder macht – wie hier – Gebrauch von seiner Autorität – als Mutter. Diese Äußerung richtet sich hier auf ein spezifisches Können, sie ist eine Aufforderung, sich an praktischen familiären Umgangsformen zu orientieren.

Als Kontrastmodell zu Tim wird dann in den Zeilen 26-28 „Kerstin“ (Tims Schwester) ins Gespräch gebracht. Als Kontrastmodell kann Kerstin insofern gelten, als sie im Unterschied zu Tim als leistungsfähige Schülerin bezeichnet wird, die das Abitur schon erreicht hat, wenn auch nicht – und darin besteht eine Parallele zu Tim – auf einem kontinuierlichen Weg (Z 27). Mit dieser Replik der Mutter wird die Auffassung deutlich, dass eine „wirklich“ gute Schülerin keine schlechte Lernphase hat, und deshalb war Kerstin eben nur „ziemlich“ gut (Z 27).

In den Zeilen 29-42 wird deutlich, dass Tim wohl einmal „sitzen geblieben“ ist (Z 32) bzw. von sich aus die Klasse noch einmal wiederholt hat (Z 33). Hier steigt Anna richtig ins Gespräch ein und erzählt, bestätigt und unterstützt von Björn, eine unwahrscheinliche Geschichte von Tims Lehrer, was die seltsame und bisher als negativ bewertete Lerneinstellung Tims unterstreicht (Z 34-39). Und wiederum ist der pädagogische Kommentar der Mutter auf die charakterlichen Eigenschaften von Tim gerichtet (Z 40f.). In einer ironischen Form greift sie das Thema der Wahrnehmungsschwierigkeiten des Lehrers (Hörprobleme) auf und wendet es auf eine fundamentale Differenz der Selbst- und Fremdwahrnehmung von Tim an, so dass deutlich wird: dieser, nicht der Lehrer, hat noch „nicht verstanden“ (Z 38), worauf es wirklich ankommt.

Implizit besteht hier die Aufforderung darin, Eigen- und Fremdwahrnehmung nicht divergieren zu lassen. Wer den Leistungsanforderungen gerecht werden will, muss Selbst- und Fremdwahrnehmung idealiter miteinander in Übereinstimmung bringen. Diese pädagogische Forderung erscheint an der von Mead und dem symbolischen Interaktionismus ausgearbeiteten Figur, I und Me oder personale und soziale Identität in Einklang zu bringen, orientiert zu sein, und verweist somit auf eine balancierte Form von Identität, die aufgrund ihrer (geforderten) reflektierten Struktur die eigenen Erwartungen mit denen der anderen in ein ausgewogenes Verhältnis setzen kann. Anders formuliert geht es der Mutter darum, dass bei einem Auseinanderfallen der jeweiligen Perspektiven und Ansprüche die Eigenwahrnehmung nicht die ausschlaggebende sein kann.

Darüber hinaus unterstreicht sie im nächsten Abschnitt (Zeilen 43-51) die Schwierigkeiten einer solchen Lerneinstellung mit dem Problem des Alters. Zu einem vorgegebenen Bildungsweg gehört ein adäquates Alter und die „Hauptaufgabe“ (Z 51) für einen angehenden Zwanzigjährigen mit den bekannten Ambitionen besteht nun einmal im Lernen.
Neben der Orientierung an den institutionellen Erwartungen (Z 40f.), wird hier durch die ältere Generation an am Lebenslauf orientierte Zeitpunkte abgehoben. Die Mutter fordert das Einhalten zeitlicher Normen im Lebenslauf, in denen man seine „Hauptaufgabe“ zu erfüllen habe. Hierin kommt eine klassische, der Pädagogik der Aufklärung verpflichtete Theorie des Lernens zum Ausdruck, in der das pünktliche Lernen im Mittelpunkt steht. Die Pünktlichkeit, die sich seit dem Mittelalter im Prozess der Zivilisation herausgebildet hat, ist Ausdruck eines Selbstzwangs, der den Willen und die Kompetenz voraussetzt, sein Leben an einer abstrakten Zeit auszurichten und systematisch sein Leben zu führen, indem man die anstehenden Aufgaben konsequent und vollständig erledigt (Zirfas 1999). Am Ende – Zeilen 52-54 – zeigt sich die zuvor (Z 22-25) von der Mutter zurechtgewiesene Tochter als gelehrige Schülerin und als gleichberechtigte Teilnehmerin am Familiengespräch.

Familie als performative Gemeinschaft der Generationen

Lässt man diese Gesprächspassage Revue passieren, so ergibt sich folgende Dramaturgie: Ausbildungsziel, charakterliche Eignung, Lernvoraussetzungen, praktische Belehrung, Kontrastmodell, individuelle und institutionelle Beurteilungen, Zeitlichkeit in institutionellen Kontexten, die Belehrung der Belehrer. Dieses Gespräch stellt eine Belehrungssituationdar, in der – ausschließlich – die Mutter ihre Kinder einerseits über die aus ihrer Perspektive richtigen Prinzipien institutionellen Lernens aufklärt: Korrespondenz von individuellem Wollen und objektiven Anforderungen, Lernen können (Z 5), Fleiß und Selbstdisziplin (Z 8), Reflexivität (Z 9, 17), Kontinuität (Z llf., 27), Koinzidenz von Selbst- und Fremdwahrnehmung (Z 40f.), adäquates Alter (Z 43), Berufsorientierung (Z 46) und das Setzen der Aufgabe als Priorität (Z 51). Andererseits erzieht die Mutter Carolin zum richtigen Verhalten in der Familie. Beide Belehrungssituationen haben für die Familie eine gemeinschaftsfördernde Wirkung. Einerseits verständigt man sich über die für eine Ausbildungssituation gültigen Normen und Werte und schafft somit eine solidarische Grundlage für die Bedingungen schulischer Laufbahnmuster. Andererseits ist Erziehung immer auch der Ausdruck einer gemeinschaftsbildenden Macht (vgl. Arendt 1996, S. 31).

So lässt sich das in dieser Sequenz von der Mutter geforderte Lernmodell auch als generationelle Problematik verstehen. Die Identität Erwachsener wird von ihrem Beruf bestimmt und von den Anforderungen der Institution, in der sie das Berufsziel erreichen wollen. Der Beruf ist das Zeichen für das Wollen Erwachsener/Volljähriger. Zum Erwachsenensein gehören auch das Setzen von Zielen und die Sorge darum, diese Ziele zu erreichen. Dabei pädagogisiert die Mutter die Zielsetzung Tims und nutzt den von ihr geschaffenen Raum, um ihr Lernmodell zu erläutern. Die Bewertung von Lernverhalten folgt moralischen Kriterien. Hier setzt die Mutter Normen und erklärt sie als für die Kinder verbindlich.

Dabei wird sie schlussendlich von ihrer eigenen Setzung durch Carolin eingeholt. Die von ihr nicht ganz korrekte, doch umgangssprachlich höchst gebräuchliche Kurzform „Abi“ (Z 43) wird durch Carolin in „Abitur“ (Z 54) korrigiert. Hier bemüht sich die jüngste Tochter, wie von der Mutter gefordert, um ein korrektes Ausdrucksverhalten und übernimmt die von der Mutter für außerfamiliäre Ausbildungsmuster propagierte Norm der Arbeit an sich selbst und wendet diese konkret an, indem sie nun die Mutter zurechtweist. Und sie stellt die Koinzidenz von familialem und schulischem Lernverhalten her, denn Carolin hat verstanden, dass die Norm der Selbstdisziplin allgemein und für alle in gleicher Weise gilt. Als die von der Mutter über sprachliche Umgangsformen Belehrte schlägt Carolin diese mit ihren eigenen Waffen, gewissermaßen belehrt sie die Aufklärerin über die eigenen Forderungen. Auch Vorbilder können noch etwas lernen. Gleichzeitig erhebt sie damit den Anspruch, ein vollwertiges und kompetentes Familienmitglied zu sein, denn als jüngste Tochter durchkreuzt sie ihren bisherigen Ausschluss durch den Hinweis auf ihr Verstehen: Sie weiß in einem praktischen Sinn, worum es im Gespräch geht und worauf es implizit ankommt und stellt sich dann schließlich als gelehrige Tochter dar. Im performativen Blickwinkel versichert und belehrt sich so die Familie wechselseitig, wenn auch nicht symmetrisch, über die notwendigen und hinreichenden Bedingungen außerfamiliären und familiären Lernens.

Wir möchten an dieser Stelle den Begriff der performativen Gemeinschaft einführen (vgl. Audehm/Zirfas 2000). Dieser Begriff verweist nicht auf eine vorgängige, organische oder natürliche Einheit (Tönnies 1991), eine emotionale Zusammengehörigkeit (Weber 1995), auf ein symbolisches Sinnsystem (Turner 1989) oder auf einen kollektiven Wertekonsens (Kommunitarismus), sondern auf die (rituellen) pattern der Interaktion. Gemeinschaft erscheint damit weniger als homogener, strikt integrativer und authentischer Nahraum, sondern als prekäres Erfahrungsfeld von Spannungen, Grenzziehungen und Aushandlungsprozessen. Unter einer performativen Gemeinschaft verstehen wir in diesem Sinne einen ritualisierten Handlungs- und Erfahrungsraum, der sich durch inszenatorische, mimetische, ludische und Machtelemente auszeichnet (Wulf u.a. 2001). Kontrastiert man den hier präsentierten kleinen Ausschnitt eines Familiengesprächs mit anderen Essenssituationen bei Tisch (vgl. Audehm 2006), so wird deutlich, dass die Entdifferenzierung der Generationen dann im Mittelpunkt steht, wenn die Tischgespräche vor allem die Gemeinschaftlichkeit der Familie bearbeiten. Diese Passagen unterstreichen die konjunktiven und konnektiven Ritualfunktionen. Wenn es um die Familie als (Erziehungs-) Institution geht, dann steht die Differenz der Generationen im Vordergrund und diese Passagen unterstreichen die identifikatorisch-transformatorischen Ritualfunktionen. Insofern lassen sich die auf Sozialität gerichteten sozialen Sequenzen von den (pädagogischen) intergenerationellen Ritualisierungen der Familie analytisch trennen. Unter dem Blickwinkel der Familie als Gemeinschaft sind moderne Familien in ihrem alltäglichen Leben vor die Aufgabe gestellt, ein Gleichgewicht zwischen gemeinsamer und individueller Bedürfnisbefriedigung herzustellen (Macha/Mauermann 1997). Biografisch und sozial ergibt sich daraus die Notwendigkeit, im gegenseitigen Aufeinander-Einwirken eine Balance zwischen Stabilität und Wandel zu gewährleisten. Rituale erscheinen in dieser Perspektive als geeignete Rahmen, die den familiären Interaktionen die dafür nötige Kohärenz und Sicherheit verleihen. Dies umso mehr, als Familien gegenwärtig in ihren institutionellen Rahmungen (wie der Ehe) und in ihren Funktionen einen grundlegenden Wandel erfahren, der die Selbstverständlichkeit traditioneller Bezüge und Werte außer Kraft setzt (Hettlage 1998, S. 48ff.). Das Familienleben verlangt zunehmend nach der kommunikativen Erzeugung und Bestätigung von Zugehörigkeit und Gemeinsamkeit, die nach innen und außen stabilisierend wirkt und dennoch wandelbar ist.

Verbindendes Element dieser unterschiedlichen kommunikativen Strategien ist die gegenseitige Anerkennung der Familienmitglieder untereinander, und zwar im Bezug auf gemeinsam erzeugte und geteilte Werte und Normen. Dabei erscheint elterliche Autorität solange als nicht-hierarchische, solange die Grenzen der Gemeinschaft oder die Regeln des Rituals nicht thematisiert werden. Diese zwar asymmetrische, aber nicht hierarchische Autorität erfordert Kompetenz und Legitimation durch alle Beteiligten. Autorität wird eher gegeben als (sich) genommen und dies wird in partnerschaftlich orientierten Familien selbsttätig von den Kindern ein- und ausgeübt. Ihr Einsatz und Rückgriff auf Normen außerfamiliärer Institutionen stellt eine Verbindung zwischen außerfamiliären Autoritäts- und familiären Anerkennungsbeziehungen her. Beim Tischgespräch können dabei unterschiedliche kommunikative Strategien eingesetzt werden, die Generationendifferenz wird allerdings auch als pädagogisierte institutionelle Differenz (Bildungsbiographie) gemeinschaftlich bearbeitet, wobei die Mutter (die Eltern) die Performanz der Bearbeitung vorgibt.

Dabei soll hier nicht unterstellt werden, dass die ältere Generation (die Eltern) mit der jüngeren (den Kindern) einen identischen, homogenen Erfahrungsraum aufweist, oder dass zwischen den Generationen ein qualitativ unterschiedliches Erfahrungsgefälle besteht. Festhalten lässt sich allerdings, dass die Erziehung, die von der älteren Generation initiiert wird, vor allem die Art und Weise betrifft, wie gelernt werden soll. Wichtig erscheint hier die Differenz zwischen den von der älteren Generation (der Mutter) intentional eingeforderten Lernnormen, die die Kinder zu einem bestimmten Verhalten auffordern und der intentionalen, aber impliziten performativen Erziehungsform, die zur Unterstützung der Belehrung dieser konkreten Lernformen dient. Die generationelle Unterstützung erfolgt in unserem Beispiel performativ in Form einer durch die Mutter gelenkten reziproken und gemeinsamen Verständigung über die zentralen Formen des institutionellen Lernens. Die Perspektive des Performativen verweist hier auf den prozesshaften Charakter von Ritualen, dessen ästhetische Dimension nicht zu unterschätzen ist. Unter dem Blickwinkel des Performativen zusammengefasst, erscheinen Rituale als stabile Rahmen, die auch innerhalb von Gemeinschaften – wie der Familie – Grenzen ziehen und Differenzen bearbeiten. Wiederkehrende Probleme werden dabei mit wiederkehrenden Mustern bearbeitet. Dabei bildet sich ein spezifischer ritueller Stil heraus. Dies geschieht ganz wesentlich über mimetische Angleichungen und die Ausbildung von Körper- und Sprachstilen. Unmittelbare und entscheidende Wirkungen auf die rituellen Interaktionen haben Raum- und Zeitstrukturen sowie szenische Arrangements.

Unter dem Blickwinkel der Erziehung bilden Rituale das Medium der Herausbildung von Identitäten, Rollen und Fähigkeiten (Audehm/Zirfas 2001). Das Innovationspotential von Ritualen liegt in ihrem kommunikativen, symbolisch-performativen Charakter, in ihrer kreativen und wirklichkeitserzeugenden Seite, die Dispositionen und Fähigkeiten der Beteiligten hervorzubringen in der Lage ist. Rituale können gleichsam Bildungskatalysatoren für soziale und kulturelle Erneuerungen sein. Denn nach dem Ritual gibt es andere, neue Erwartungen an die Beteiligen, die diese zu einem anderen Verhalten auffordern. Rituale drücken diese Erwartungen aus, indem sie diese vorführen und dadurch die Beteiligten zum gewünschten Verhaltensmodus verführen (Audehm/Wulf/Zirfas 2005).

So erscheint in unserem Beispiel – das natürlich nichts darüber aussagt, ob die Beteiligten das diskutierte Lernschema tatsächlich übernommen haben – Lernen als Umstrukturierung eines Erfahrungs- und Erwartungshorizonts innerhalb der Performanz einer gemeinschaftlichen Beratung (Göhlich/Zirfas 2001). Pädagogisch erscheint der Generationenbegriff aus der Sicht einer Familienethnographie daher dort sinnvoll, wo es um die Vermittlung eines bestimmten Ethos im Umgang mit sich, den anderen und der Welt geht, wo spezifische Erwartungshorizonte eröffnet und Ansprüche eingefordert werden. Die Tatsache, dass dabei auch noch die ältere Generation von der jüngeren etwas lernen kann, wird hier vom jüngsten Mitglied der Familie nachhaltig in Erinnerung gerufen und kennzeichnet das Generationenteamwork: Nobody is perfect, die Solidarität der gemeinsam Lernenden ist hergestellt.

Literatur

Arendt, H.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München/Zürich 1996

Audehm, K.: Erziehung bei Tisch. Zur sozialen Magie eines Familienrituals. 2006 (Diss., im Erscheinen)

Audehm, K./Wulf, Ch./Zirfas, J.: Familienrituale. In: Ecarius, J./Merten, R. (Hrsg.): Familie. Ein erziehungswissenschaftliches Handbuch. Wiesbaden 2005 (im Erscheinen)

Audehm, K./Zirfas, J.: Performative Gemeinschaften. Zur Bildung der Familie durch Rituale. In: Sozialer Sinn 1. Jg. (2000), H. 1, Opladen, S. 29-50

Göhlich, M./Zirfas, J.: Kommunikatives Handeln in der Lebenswelt. In: Wulf, Ch./Göhlicli, M./Zirfas, J. (Hrsg.): Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln. Weinheim/München 2001, S. 47-74

Hettlage, R.: Familienreport. Eine Lebensform im Umbruch. München 1998

Macha, H./Mauermann, L. (Hrsg.): Brennpunkte der Familienerziehung. Weinheim 1997

Tönnies, F.: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt 1991

Turner, V.: Das Ritual. Struktur und Antistruktur. Frankfurt am Main/New York 1989

Wagner-Winterhager, L.: Jugendliche Ablösungsprozesse im Wandel des Generationenverhältnisses. In: Deutsche Schule 82 (1990), S. 452 ff.

Weber, M.: Schriften zur Soziologie. Hrsg. v. M. Sukale. Stuttgart 1995

Wulf, Ch./Göhlich, M./Zirfas, J. (Hrsg.): Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln. Weinheim/München 2001

 

Mit freundlicher Genehmigung von Budrich-Unipress
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