Falldarstellung

In Form von Kleingruppen-Analysen wurde versucht, derartige subjektive Deutungen aufzuspüren. Zwei Gruppen von je drei Schülern, die zwischen 15 und – Jahre alt waren und zusammen die 8. Klasse eines Gymnasiums besuchten, wurde in einer außerschulischen Situation u. a. folgende Aufgabe vorgelegt:

Schaut Euch das mal an:
5 * 5 = 25

4 * 6 = 24

52 = 4 * 6 + 1

noch einmal:

7 * 7 = 49

6 * 8=48

72 = 6 * 8 + 1

a) Klappt das immer?
b) Könnt Ihr dafür eine einleuchtende Begründung finden?“

Nachdem die Schülerinnen Angela, Birgitt und Christiane der einen Gruppe die Aufgabe durchgelesen hatte, entspann sich ein Gespräch, das ausschnittweise wiedergegeben wird.

23 Angela: Probier’s mal.

24 Birgitt: Keine Ahnung, wie man das probieren soll.

25 Christiane: Probier das mal mit 19.

26 Birgitt: Probier das mal mit 12. Geht am einfachsten.

„Probier’s mal.“ So fängt die Bearbeitung dieser Aufgabe an. Dieser Imperativ, dass jemand anderes irgendetwas probieren bzw. rechnen soll, zieht sich durch den ganzen Text. Man vertraut den mathematischen Künsten des anderen mehr als seinen eigenen; ein Zirkelschluss, der zugleich Fehlschluss ist. Denn die entscheidenden Impulse dieses Gesprächsabschnittes entstanden durch Selbstbesinnung, Rückzug auf die eigenen Fähigkeiten.

Der erste Vorschlag kommt von Christiane: „Probier’s mal mit 19″ (25). Sie wollte wirklich ein schwieriges Beispiel angeben, weil sie wohl bei ihrer ersten Einschätzung die Aufgabe für falsch hält. Im Verlauf des weiteren Gesprächs kristallisiert sich bei ihr eine auf Misstrauen basierende, Fallen erwartende latente Sinnstruktur zur Mathematik heraus. So versucht sie wenig später, dieses „Ausprobieren“ zu blockieren, indem sie vorschlägt, das „unsinnige“ Zahlenbeispiel „Hundertmillionen mal Hundertmillionen“ zu nehmen. An noch späterer Stelle lassen sich sogar gewisse biographische Hintergründe vermuten, als sie in einer Phase des Konzentrationsabfalles und der Erschlaffung nahezu frei assoziierend bemerkt, dass bei Begründungsversuchen, die durch sogenannte „Warum-Fragen“ eingeleitet werden, auch ihre Mutter immer scheitere. Nicht genauer zu umreißende Probleme der Mutter-Kind-Beziehung weisen auf einen eng verwobenen lebensgeschichtlichen Kontext hin.

Kehren wir wieder zur obigen Textstelle zurück. Hier setzt sich zunächst Birgitt mit dem angeblich „einfachsten“ Beispiel 122 = 144 durch, an dem die Gruppe unversucht scheitert. Die Schülerinnen haben (noch) nicht erkannt, dass man – mathematisch gesprochen – die Zahl n2-1 als Produkt (n-1) * (n+1) darstellen soll. Wie sich in der folgenden Passage zeigt, ist Angela eher der Meinung, dass hier ein Zusammenhang zwischen n2 und n2+1 herzustellen ist.

34 Angela: oder eins Na, du mußt ja jetzt ’ne Zahl nehmen, die eins mehr hat weniger. Nee, eins mehr.

35 Birgitt: Also, nehmen wir. Nee, das geht nicht.

36 Angela: 3 mal 3 ist 9.

37 Christiane: Nimm mal 6 mal 6 ist

38 Angela, Christiane: 36.

39 Angela: Weißt du ’ne Zahl, wo 37 rauskommt?

Hier deutet sich eine Strategie bei Angela an, die man als einen Prozess zunehmender Deutungsfixierung beschreiben kann. Fixierte sie in einem ersten Schritt die vorkommenden Quadratzahlen, so markiert der zweite Schritt dieser Fixierung die – allerdings falsche – Einsicht in eine Teilstruktur des Problems. Neben n2 muss n2+1 vorkommen.

Auch bei Birgitt lässt sich vage ein solcher Prozess der Deutungsfixierung ausmachen. Sie erkennt ansatzweise, dass in der Darstellung n2= a * b+1 sich die beiden Faktoren a und b um 2 unterscheiden müssen.

Diese Deutungsfixierung führt zu einer zunehmenden Einschränkung möglicher Aufgabeninterpretationen. In diesem Prozess des Fixierens spiegelt sich die inhaltliche Komponente der Situationsdefinition wider. Angela und Birgitt haben die Aufgabensituation als Problematisierung ihrer Identitätsbalancen definiert. Sie versuchen mit diesem Deutungsprozess eine neue Balance wiederherzustellen. Sie versuchen dabei sukzessive Teilstrukturen der Aufgabe zu erkennen und auf diese Weise sowohl die mathematische Aussage der Aufgabe zu erfassen als auch Hinweise für einen Beweis zu finden.

Durch die falsch erkannte Teilstruktur durch Angela erweisen sich deren Beweisversuche als fruchtlos. Hier tritt Christiane wieder stärker in den Vordergrund, die an diesem Prozess der Deutungsfixierung über das Elaborieren von Teilstrukturen nicht intensiv teilgenommen hat. Sie ist aufgrund ihrer misstrauischen Einstellung zur Mathematik eher daran interessiert, grundsätzlich erst einmal herauszubekommen, ob diese Aufgabe nicht eine Falle ist. Hierzu folgende Passage:

61 Angela: 7 mal 5 ist 35 plus 1 ist 36. Also geht’s.

62 Birgitt: Mmh. Ja, stimmt.

63 Angela: Mmh.

64 Christiane: Ja. Vielleicht geht’s nur bei dem noch mal.

Trotz dieser distanzierten Einstellung von Christiane erarbeitet sie als einzige einen Beweis. Dies gelingt ihr möglicherweise deswegen, weil sie an den teilweise falschen Deutungsfixierungen ihrer Partnerinnen nicht partizipierte. Dafür spricht ihr Beweisversuch, der keine der beiden oben wiedergegebenen Teilstrukturen berücksichtigt.
Ihr Beweis entspricht dem von ihr gelösten Beispiel 252= 625. Sie löste es wie folgt:

178 Christiane: Mach doch mal 2 mal 312 plus 1 zum Beispiel geht.

179 Birgitt: Was? (verständnislos)

180 Christiane: 2 mal 312 plus 1.

181 Angela: He? (entsetzt)

182 Birgitt: Wo hast’n die 312 her?

183 Angela: Ja? (unterstützend)

184 Christiane: 624 geteilt durch 2 …

185 Birgitt: Nee, aber das ist doch noch gar nicht.

186 Angela: Du meinst 312 zum Quadrat.

187 Christiane: Nee.

188 Birgitt: Wieso denn, wenn du nach dem Schema gehst, dann hast du erst ne Quadratzahl.

189 Angela: Ja.

190 Birgitt: die 5 mal 25.

191 Christiane: Ja, ja das sind, sind jetzt 625. Ah, sagen wir mal.

192 Angela: Du mußt doch was zum Quadrat nehmen. Hauptsache.

In dieser Passage wird vor allem die handlungsverengende Wirkung von Deutungsfixierung sichtbar. Angela und Birgitt spüren wohl schon das Ungewöhnliche von Christianes Lösung. Aber ihre Deutungsmuster können das Ungewöhnliche nicht fassen.

In Christianes Beweis dagegen wird dann doch die strukturelle Tatsache berücksichtigt, dass einer der beiden Faktoren in der Darstellung n2= a * b+1 gerade n-1 lautet. Dieser strukturelle Aspekt der Lösung wurde vor allem von Angela im Anschluss an Christianes Lösung zum Beispiel 252= 625 erarbeitet. Christianes Beweis lautet:

„Man kann jede Quadratzahl, von der man 1 abzieht, durch irgendetwas teilen, um die jeweils eins tiefere Zahl zu bekommen. Erst zieht man 1 ab, dann addiert man 1 zu und ist wieder auf der Quadratzahl.“ (347).

Es ist gar nicht so leicht, diesen Beweis zu formalisieren. Die zugrundeliegende Sinnstruktur, die den Beweis Christianes „logisch“ erscheinen lässt, ist das Modell eines Ausgleichs. „Erst zieht man 1 ab, dann addiert man 1 zu und ist wieder auf der Quadratzahl.“ Diese Ausgleichsargumentation muss für die ganze Gruppe eine überaus zwingende Überzeugungskraft besitzen. Denn sie überdeckt die mangelnde Kenntnis des Distributivgesetzes in Z. Sie argumentiert in ihrem Beweis, dass es möglich ist, einen Teiler t von n2-1 zu finden, so dass (n2-1) : t = n-1. In der Tat, ihn gibt es: t = n+1. Aber diese Existenzproblematik wird von den Schülerinnen nicht thematisiert. Christiane meint weiter, dass man durch den Übergang von n2 auf n2-1 auch einen der beiden gleichen Faktoren n des Quadrats n2 um 1 erniedrigen kann. Man könnte es vielleicht so andeuten:

n2 = n * n

n2 – 1 ist gleich (n – 1) * n

n2 ist wieder (n – 1) * n + 1

Interpretation

Die Verwendung eines Arguments des Ausgleichs ließ sich in den beiden Gruppen viermal bei insgesamt 3 Aufgaben wiederfinden. Dabei kann nur ein Beweis als richtig angesehen werden. Dennoch hatten die auf solchen Ausgleichsmodellen basierenden Argumentationen für die Schüler „Beweiskraft“. Die Gründe für die große Plausibilität solcher Argumente müssen in der spezifischen Eigenart der Schüleridentitäten gesucht werden.

Im Rahmen einer kognitiven, entwicklungspsychologischen Beschreibung von adoleszenten Identitäten könnte man zur Klärung dieses Phänomens auf das Strukturierungsmerkmal des „adoleszenten Egozentrismus“ im Sinne Piagets zurückgreifen. Er ist gleichsam anfällig gegen Gedankengänge, in denen sich vollständig reversible Operationen, wie sie in den Ausgleichsmodellen vorkommen, wiederfinden. Die Sinnstruktur dieser Ausgleichsmodelle ist weiterhin auch in dem Sinne egozentrisch, als sie die Möglichkeit einschränkt, dass das gedachte Ausgleichsmodell unangemessen ist. Im Rahmen einer mehr tiefenpsychologischen Analyse von Identitäten Jugendlicher könnte man die latente Sinnstruktur der Ausgleichsmodelle unter ein „Gerechtigkeitsempfinden“ subsumieren. Die von den Schülern gefundenen Ausgleichsmodelle besitzen aufgrund ihrer insgesamt positiv und konstruktiv gerichteten Situationsdefinition eine Abwehrfunktion gegen das Gefühl, sich eine „negative Identität“ zuschreiben zu lassen. Die auf Ausgleichsargumentationen basierenden Beweise erscheinen den Schülern „logisch“ und plausibel, weil sie zum einen einem elementar-archaischen Gerechtigkeitsempfinden“ des gegenseitigen Ausgleichs genügen und weil damit zum zweiten eine in diesem Sinne „stimmige“ Argumentation gefunden worden ist, die den Verfall in eine negative Identität unmöglich machen soll. Die Ausgleichsmodelle stellen die Balance her zwischen einer noch von der Elterngeneration abhängigen Bewertung der eigenen Leistung (eventuell als negative Identität) und den Versuchen, selbständig zu sein und eine eigene, auch intellektuell überzeugende Identität darzustellen. Insofern ist die Artikulation von Ausgleichsmodellen als das unmittelbare Bemühen um Identitätsbalance zu begreifen.

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