Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die Unterrichtsequenz, die der folgenden Rekonstruktion zugrunde liegt, ist Teil der ersten Unterrichtsstunde einer ersten Klasse im zweiten Schulhalbjahr. Es handelt sich um Unterricht aus dem Jahr 2003 in einer städtischen Grundschule des Rhein-Main-Gebiets.

Zu Beginn der Schulstunde läutet die Lehrerin mit einem Glöckchen, welches sie mit ausgestrecktem Arm vor sich hält. Sie steht dabei anfangs vor der Tafel in der Mitte des Klassenraums und geht schließlich auch auf die einzelnen Tische zu, an denen sich die Schüler befinden, und läutet nochmals, bis die Schüler zur Ruhe gekommen sind und auf den Stühlen sitzen.

Wenn die Lehrerin die Schulstunde mit einem Glöckchen einläutet, gibt es entweder kein allgemeines Stundensignal an dieser Grundschule (was die Zurücknahme von Schule als formaler Organisation von Seiten der Schulleitung und ein gewisses Maß an Freiheit für Lehrer in der konkreten Unterrichtseröffnung und –beschließung bedeutete) oder das Signal – in der Regel ein Klingeln oder ein Gong – wurde von den Kindern und möglicherweise auch der Lehrerin selbst nicht beachtet. In beiden Fällen kann über das Handeln der Lehrerin gesagt werden, dass sie sich in diesem Eröffnungsritual des Unterrichts sehr geduldig und nicht streng zeigt. Sie fordert den Schülern noch nicht sehr viel verinnerlichte Selbstdisziplin ab, stellt deren Kindsein in Rechnung bzw. billigt dieses den Schülern zu.
Mit dem Glöckchen wählt sie ein Mittel der Aufmerksamkeitserheischung, das einerseits dezent ist und einen Kasernenhofton vermeidet, andererseits aber trotzdem durch seine klare Unterscheidbarkeit von den im Klassenraum zu hörenden menschlichen Stimmen und durch seine unzweideutige Bedeutung als Mittel der Aufmerksamkeitserheischung – nicht zuletzt aufgrund der Anlehnung an die in Schulen übliche Schulglocke – als gut geeignet erscheint. Es ist darüber hinaus ein dem Alter der Erstklässler adäquates Mittel. In der Wahl des Glöckchens reproduziert sich das schon im geduldigen Vorgehen der Lehrerin beim Klingeln mit dem Glöckchen zum Ausdruck kommende Bemühen um einen kindgerechten Unterricht. Das Eröffnungsritual verkörpert den Übergang von der informellen Sphäre der diffusen Sozialbeziehung zur formellen Sphäre der Rollenförmigkeit. Dieser Übergang ist für junge Schüler noch schwierig, wie sich an der relativ langen Dauer zeigt, die die Schüler hier dafür benötigen. Es reicht nicht aus, dass die Lehrerin in der Mitte des Klassenraums die Stunde mit dem Glöckchen einläutet, sondern sie muss auch noch auf die einzelnen Tische zugehen, bis die Schüler sich auf ihre Plätze setzen und ruhig werden. Die Lehrerin berücksichtigt geduldig die Schwierigkeiten der Schüler im Vollzug des Übergangs und wartet konsequent das Stillwerden der Schüler ab, bevor sie mit dem Unterricht beginnt. Auch in dieser Hinsicht erscheint die Eröffnungshandlung der Lehrerin als gelungen gegenüber dem kontrastiven Fall eines destrukturierenden Unterrichtsanfangs, bei dem die Lehrerin in das Reden und Hinsetzen der Kinder hinein einfach mit dem Unterricht beginnt.

L: so…

Diese Äußerung ist systematisch ambige, da sie sowohl etwas Vorangehendes schließt als auch etwas Folgendes eröffnet. Beschlossen wird die Phase des Sammelns und Aufenthaltes der Schüler im Klassenraum vor Unterrichtsbeginn und die Herstellung der Ruhe und Aufmerksamkeit. Eröffnet wird die eigentliche Unterrichtsinteraktion.

…/außer den Mäppchen ist noch gaa- (.) verschwindet alles wieder im Schuulranzen (.)…

Der Sprechakt ist seiner Form nach eine Behauptung über ein beobachtbares Geschehen. Der Inhalt der Behauptung wird im zweiten Teil der Äußerung korrigiert. Vor einer Ausdeutung der Bedeutung dieser Korrektur wird zunächst der Satz ausgelegt, der von der Lehrerin mit der Korrektur hergestellt wurde: außer den Mäppchen verschwindet alles wieder im Schulranzen. Bei dieser Äußerung kann es sich trotz ihrer sprachlichen Form nicht um eine Behauptung handeln. Denn nicht nur ist das behauptete Geschehen eines, das äußerst merkwürdig, ja magisch wäre – auf geheimnisvolle Weise, wie von einer unsichtbaren Macht bewegt, verschwinden mit Ausnahme der Mäppchen alle Sachen der Schüler in ihren Schulranzen, ohne dass sie selbst dafür etwas tun müssten. Darüber hinaus wäre es merkwürdig, dass die Lehrerin dieses offensichtliche Geschehen, wenn es denn stattfände, den Schülern auch noch mitteilen würde. Aus dieser Auffälligkeit, der eigentlich ja überflüssigen Mitteilung von etwas, das, wenn es stattfindet, für alle Anwesenden sichtbar sein muss, lässt sich schon schließen, dass das Geschehen noch nicht eingetreten ist, sondern erst herbeigeführt werden soll. Es handelt sich also um einen Sprechakt, der nicht als direkter Sprechakt – als Behauptung – verstanden werden kann. Stattdessen handelt es sich um einen indirekt formulierten Befehl, indem der zukünftige, als Ergebnis der Befehlsbefolgung erst eintretende Zustand im propositionalen Gehalt des Sprechaktes „behauptet“ wird. Aber auch der Sprechakt als indirekter Befehl („Ich befehle, außer den Mäppchen verschwindet alles wieder im Schulranzen.) kann nicht wörtlich verstanden werden, da die Sachen auch auf diesen Befehl der Lehrerin hin nicht einfach wie bei einem magischen Geschehen im Schulranzen verschwinden. Dieses sachliche Nicht-Zutreffen der Äußerung gestattet zusammen mit der Tatsache, dass die Lehrerin diese Äußerung zu Unterrichtsbeginn vollzieht, den Schluss, dass es sich nicht um eine wörtliche Beschreibung eines beobachtbaren Geschehens handelt, die sich als direkte Behauptung an informationsbedürftige Schüler als Zuhörer richtet, sondern eben um eine nur indirekt formulierte Anweisung, die in nicht wörtlicher Auslegung als eine zu verstehen ist, die an die Schüler und nicht an irgendeine magische Macht adressiert ist.

Was bedeutet diese Struktur, die im pädagogischen Unterrichtshandeln immer wieder anzutreffen ist? 1.) Der Sprechakt behauptet wörtlich ein magisches Geschehen. Darin macht er die den eigentlichen Unterricht erst vorbereitende Handlung zu einer scheinbar interessanten, so als würden die Schüler anders zu einer solchen Handlung nicht zu motivieren sein. Die Schüler erscheinen in der Äußerung der Lehrerin also nicht als solche, die am Unterricht interessiert sind, die aus Einsicht in die sachhaltige Notwendigkeit zu einer Kooperation bereit sind. Sie erscheinen vielmehr als Schüler, die eine vorbereitende Aufgabe wie das Freiräumen der Tische aus eigenem Interesse am Unterricht nicht erledigen würden und daher einer solch realitätsfernen und unsachlichen Motivierung bedürfen. 2.) Die Schüler werden in der Behauptung dieses magischen Geschehens deautonomisiert. Sie werden zu Unterworfenen dieser magischen Kraft, da es ja letztlich nur die Schüler sein können, die die Handlung des Freiräumens der Tische vollziehen. 3.) Im Sprechakt der Lehrerin als einem indirekten Befehl sind die Schüler als ein Gegenüber der Lehrerin, das einen Befehl auch verweigern kann, überhaupt nicht vorgesehen. Es wird im Gegenteil so getan, als könnten die Schüler nicht anders, als diesem Befehl zu folgen, als würden sie eben tatsächlich einem magischen Zwang unterliegen. Darin erweist sich der Sprechakt als manipulativ. Der Gehorsam der Kinder wird also als unvermeidlich unterstellt und manipulativ hergestellt. Dieses Manipulative und Deautonomisierende des Sprechaktes hätte die Lehrerin leicht vermeiden können, indem sie eben eine direkte und wörtliche Anweisung erteilt – etwa in der Form: Räumt bitte außer den Mäppchen alles auf den Tischen in Eure Schulranzen. Sie hätte auf diese Weise auch eine Paradoxie ihrer Handlung vermeiden können, die in der außerordentlichen Komplexität des Sprechaktes gründet. Denn genau diese Komplexität, die den Kindern für eine erfolgreiche Befolgung des indirekten und nicht wörtlichen Befehls notwendig ein hohes Maß an Fähigkeiten und Wissen zum Verstehen dieses Sprechaktes zuschreibt, steht im Widerspruch zu dem Sachverhalt, dass die Schüler darin zugleich betont als klein und nicht autonom adressiert werden, sie zur Entschlüsselung dieses Sprechaktes eigentlich gar nicht in der Lage sein dürften. Den Kindern wird in diesem Sprechakt etwas Grundlegendes über ihre Schülerrolle mitgeteilt: Sie haben als Schüler bedingungslosen Gehorsam zu leisten. Diese zu erschließende Forderung ist mit dem pädagogischen Auftrag, Kinder zur Autonomie zu erziehen, natürlich nicht vereinbar. Sie widerspricht auch dem pädagogischen Selbstverständnis der modernen Schule und – wie man bis auf Weiteres unterstellen muss – auch dem Selbstverständnis der Lehrerin.
Inhaltlich geht es der Lehrerin darum, die Tische für den Unterricht vorzubereiten. Die Mäppchen als Behälter für die Schreibutensilien verweisen darauf, dass etwas geschrieben werden soll. Es fehlt noch das Papier, auf dem geschrieben werden kann, dessen Verteilung – beispielsweise in Form von Arbeitsblättern – im nächsten Schritt zu erwarten ist. Andernfalls wäre es erklärungsbedürftig, dass die Lehrerin nicht auch das Papier bzw. bestimmte Hefte erwähnt, die neben den Mäppchen auf den Tischen verbleiben dürfen.
Die vor der Korrektur anvisierte Äußerung der Lehrerin wird folgendermaßen lauten: Außer den Mäppchen is noch gaar nichts auf den Tischen bzw. auf dem Tisch. Auch hier handelt es sich um einen indirekten und nicht wörtlichen Befehl. Im Unterschied zur Äußerung, die sich durch die Korrektur ergibt, wird jedoch nicht der Akt des Aufräumens (das Verschwinden der Sachen) behauptet, sondern der Zustand des schon aufgeräumten Tisches (ist noch gar nichts auf den Tischen). Auch in diesem Sprechakt werden die Schüler nicht als ein Gegenüber angesprochen, das der Möglichkeit nach diesen Befehl auch verweigern könnte. Das darin liegende Moment der Deautonomisierung der Schüler ist also auch in dieser Äußerung schon enthalten. Zudem wird den Schülern ein Vorgriff unterstellt. Sie haben schon etwas auf die Tische gelegt, was dort noch gar nicht hingehört. Den Schülern wird also mitgeteilt, dass sie nicht so eigenmächtig vorgehen, sie nicht so weit vorausdenken sollen, obwohl darin zugleich vorausgesetzt ist, dass sie dazu eigentlich in der Lage sind. Die Lehrerin erweist sich hier als eine Pädagogin, die an einer didaktisch klar zergliedernden Vorgehensweise orientiert ist.
Schon bei den einfachsten Arbeitsvorgängen darf den Schülern nicht zu viel zugemutet werden. In einem ersten Schritt dürfen nur die Mäppchen mit dem Schreibgerät auf dem Tisch liegen, dann wird das Papier ausgeteilt, dann werden die Stifte aus dem Mäppchen genommen und dann wird gesagt, was die Schüler mit den Stiften auf dem Papier machen sollen etc. Die Schüler sollen ganz diszipliniert der taylorisierten Zerlegung der Arbeitsschritte folgen, da sie bei jedem anderen Vorgehen als einer solch zerlegenden schrittweisen Erklärung und Anweisung überfordert wären. Die in dem indirekten Sprechakt den Schülern unterstellte komplexe Sinninterpretationskompetenz widerlegt die Notwendigkeit eines solchen Vorgehens jedoch auf der Stelle. Die Lehrerin erweist sich in diesem Sprechakt also als eine Pädagogin, die von einer Tabula-rasa-Vorstellung ausgeht, wenn sich zu Unterrichtsbeginn mit Ausnahme des Mäppchens noch gaar nichts auf den Tischen befinden darf. Daran zeigt sich, dass für sie der Beginn der Schulstunde in der Herstellung einer aseptischen Tilgung von allen über den Unterricht auf das Alltagsleben der Schüler verweisenden Spuren besteht. Hätte die Lehrerin darauf bestanden, auch die Mäppchen von den Tischen zu räumen, obwohl diese in der Folge benötigt werden, wäre dies zwar einer noch klareren Trennung der informellen und formellen Sphäre dienlich gewesen, zugleich aber auch auf Schikane hinausgelaufen. Die Herstellung des aseptischen Raumes zu Beginn der Schulstunde zeigt die Hilflosigkeit der Pädagogin, da sie alles, was mit dem Alltag in irgendeiner Weise in Verbindung steht, nur als Störfaktor ansehen kann und demzufolge zurückdrängen muss. Zu Störfaktoren können die Spuren der informellen Sphäre jedoch nur dann werden, wenn die Kinder aus Sicht der Pädagogin über keine Autonomie und kein Eigeninteresse am Unterricht verfügen, so dass sie durch alles, was auf etwas anderes als das Pädagogische Lernziel verweist, nur von diesem abgebracht werden können. Zusammengefasst kann man an der vorliegenden Äußerung als erklärungsbedürftig konstatieren, dass die Lehrerin nicht alternativ das Unterrichtsvorhaben ankündigt und von diesem her begründet die Kinder in einer direkten Ansprache darum bittet, ihre Tische dafür vorzubereiten, wie dies für die formelle Eröffnung des Unterrichtes wichtig wäre, um zu einer schnellen Fokussierung und Aufgabenorientierung zu gelangen. Stattdessen präsupponiert sie in ihrer indirekten und nicht wörtlichen magischen Äußerung einerseits, dass die Schüler weder Willens noch in der Lage sind, den direkt ausgedrückten und sachlich begründeten Aufforderungen der Lehrerin Folge zu leisten und andererseits, dass sie ihre Aufforderungen zwar als sinnvoll betrachtet, den Kindern die Möglichkeit einer Einsicht in die sachliche Notwendigkeit jedoch von vornherein abspricht. Es wird hier also in einer spezifisch pädagogischen Weise die Eröffnung eines gemeinsamen Praxisraums vollzogen, bei der die Schüler zu kleineren und unwissenderen Kindern gemacht werden, als sie es tatsächlich sind, indem ihnen Unfähigkeit zur Einsicht in sachliche Notwendigkeit unterstellt wird, sie zu Unwilligen erklärt werden und damit auch zu Wesen, die normalerweise nicht aus Einsicht gehorsam sein, sondern nur mittels Manipulation zum Gehorsam gebracht werden können. Zugespitzt lässt sich das in der Formel ausdrücken, dass die Einrichtung des pädagogischen Handlungsraumes unter der Bedingung vorgenommen wird, dass die darin zu Unterrichtenden ihrer Vernunft zuvor beraubt worden sind.

…/nach der Pause nehmen wir uns ganz viel Zeit für (.) für die Babys (lacht) S: jaaa (2)

Vor dieser Äußerung wurde gerade erst die Unterrichtsstunde eröffnet, da wird mit dem Verweis auf die Pause schon deren Schließung thematisiert. Das ist umso auffälliger, wenn man hinzunimmt, dass mit der vorausgehenden indirekten Aufforderung an die Schüler, außer den Mäppchen nichts auf dem Tisch zu belassen, schon eine Vorbereitungshandlung für den folgenden Unterrichtsinhalt vollzogen wurde, die eigentlich erwarten ließe, dass nun zu diesem Unterrichtsinhalt übergegangen wird bzw. dieser Unterrichtsinhalt jetzt auch bekannt gegeben wird. Stattdessen wirft die Lehrerin erst noch einen Blick auf das, was nach der Unterrichtsstunde kommt. Die Deutung, dass dieser Ausblick auf Späteres einer sachlich erforderlichen Unterrichtsplanung dient, würde nicht erklären, warum dieser Ausblick unmittelbar nach der Zuwendung zu einem konkreten Unterrichtsgegenstand erfolgt. Diese Tatsache legt vielmehr den Schluss nahe, dass der Ausblick gerade in dieser Zuwendung motiviert ist und es sich bei dem betreffenden Unterrichtsinhalt um etwas Unliebsames handelt, das nur zu ertragen ist, wenn man sich die Zeit danach vergegenwärtigt. Im Rahmen dieser Lesart behandelt die Lehrerin den Gegenstand des Ausblicks als etwas für die Schüler erfreuliches und über das Unangenehme des bevorstehenden Unterrichtsinhaltes hinwegtröstendes. Das Objekt, auf das sich der Ausblick richtet, sind Babys. Dass sich Babys in der Nähe befinden, die bis nach der Pause auf die Schüler zu warten haben, um dann als Demonstrationsobjekte benutzt zu werden, scheidet aufgrund der darin implizierten Inhumanität als Lesart aus. Auch Tierbabys kommen als Deutung nicht in Frage, da auch sie in der Zwischenzeit irgendwo beaufsichtigt werden müssten. Außerdem passen Tiere als Überträger von Krankheitserregern nicht in den von der Lehrerin bereiteten aseptischen pädagogischen Raum. Es kann sich daher nur um Symbolisierungen von Babys in Form von Puppen oder Bildern handeln. Die Lehrerin stellt also den Schülern in der nächsten Unterrichtsstunde ganz viel Zeit für die Beschäftigung mit diesen symbolischen Objekten in Aussicht. Nimmt man an dieser Stelle als Kontextwissen hinzu, dass die Schüler an diesem Tag auf Anweisung der Lehrerin Fotos von zu Hause mitgebracht haben, auf denen sie jeweils als Baby zu sehen sind, wird die Frage aufgeworfen, warum die Lehrerin diese Fotos hier als Objekte nicht direkt beim Namen nennt, sondern stattdessen sachlich unangemessen und irreführend von die Babys spricht. Indem sie sich so ausdrückt, wird die Tatsache, dass es sich bei den in Rede stehenden Babys um die anwesenden Schüler als Babys handelt, geradezu getilgt. Die Babys erscheinen vielmehr als von den Schülern unterschieden, so als ob sich die Schüler zusammen mit der Lehrerin diesen Babys als realen Objekten zuwenden und dabei vom Säuglings-Charme affiziert werden könnten. Beim bloßen Betrachten von Baby-Fotos kommt der Säugling naturgemäß viel weniger zur Geltung. Das Motiv für die auffällige Ausdruckweise wird also darin bestehen, das gemeinsame Betrachten der Babyfotos um den Preis der Sachhaltigkeit künstlich aufzuwerten und rhetorisch zu versüßen. Selbst bei diesem Bonbon bedient sie sich also manipulativer Mittel, um die Schüler zu motivieren. Indirekt entwertet sie dadurch zugleich das angebotene Bonbon. Am Ende lacht sie schließlich über ihren manipulativen Trick, anstelle von Babyfotos von Babys zu sprechen. Das zeigt, dass ihr die pädagogische Selbstdementierung, die sie darin vollzieht, nicht bewusst ist.
Die Hervorhebung der großzügig bemessenen Zeitressourcen für den Zweck des Betrachtens der Fotos (ganz viel Zeit) bekräftigt die bisherige Ausdeutung: Diese Hervorhebung ergibt nur einen Sinn, wenn die Lehrerin das Betrachten der Baby-Fotos als etwas Schönes anpreist, auf das sich die Schüler freuen können. Das Versüßen mit pädagogischen Bonbons präsupponiert wiederum den Unwillen der Schüler und die Aussichtslosigkeit, diese mit Gründen davon überzeugen zu können, dass der bevorstehende Unterrichtsinhalt die Mühe lohnt. Die Lehrerin unternimmt gar nicht erst den Versuch, Quellen einer intrinsischen Motivation zu mobilisieren, sondern setzt vielmehr direkt auf extrinsische Stimuli. Darin liegt eine pädagogische Selbstdementierung, eine Herabsetzung der Sache, um die es im pädagogischen Handeln geht. Diese zeigt sich auch in dem folgenden Umstand. Sie formuliert ihre Äußerung so, dass sie sich in das Betrachten der Babyfotos einschließt (nach der Pause nehmen wir uns ganz viel Zeit …). Sie hätte stattdessen auch sagen können: Nach der Pause gebe ich Euch ganz viel Zeit zum Betrachten der Baby-Fotos. Sie schlägt sich also auf die Seite derjenigen, für die der eigentliche Unterrichtsinhalt etwas Unangenehmes und das Betrachten der Babyfotos etwas über dieses Unangenehme hinwegtröstendes ist, auf das man sich freuen kann.
Das Betrachten der von den Schülern mitgebrachten Babyfotos bedeutet für die Schüler eine Konfrontation mit sich selbst im Babyalter. Die Lehrerin wird die Schüler durch diese Vergegenwärtigung der auf dem Weg zum Erwachsenendasein bereits zurückgelegten Wegstrecke vermutlich ermutigen wollen. Ein Schüler reagiert begeistert auf das von der Lehrerin in Aussicht gestellte Bonbon des Betrachtens der Babyfotos.

Wir beenden an dieser Stelle die Darstellung der Rekonstruktion dieser Unterrichtssequenz. Es stellt sich nun die Frage, welche Motive der rekonstruierten Handlungsstruktur zugrundeliegen. Was führt dazu, dass die Lehrerin nicht auf das Sachinteresse der Schüler, auf deren Neugier setzen kann? Was motiviert sie stattdessen dazu, die Schüler mit manipulativen Mitteln zu einer Unterrichtsbeteiligung zu bewegen, so dass sie genau darin im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung den Unterricht erst zu etwas macht, in dem die Sache als etwas, das um seiner selbst willen interessant ist und das die Schüler zu einer Erschließung reizt, gar nicht mehr vorkommt? Wären die Lehrer professionalisiert, würden sie wie selbstverständlich davon ausgehen, dass Kinder neugierig sind. Warum geht die Lehrerin also trotz dieses offensichtlichen Sachverhaltes nicht davon aus und greift zu manipulativen Mitteln? Auf diese Frage muss ein theoretisches Modell der Struktur pädagogischen Handelns eine Antwort geben können. Mit der Oevermannschen Professionalisierungstheorie lässt sich diese Frage beantworten: Es ist die gesetzliche Schulpflicht, die den Kindern per se eine Teilnahme am Unterricht auf der Basis naturwüchsiger Neugier und eines Bestrebens, erwachsen zu werden, abspricht, genauso wie sie den Eltern pauschal unterstellt, die Bedeutung der Schulbildung für das Leben ihrer Kinder nicht zu erkennen.(1) Die Schulpflicht lässt es als Erfordernis erscheinen, die Schüler erst neugierig machen und sie gegebenenfalls mit manipulativen Mitteln bei der Stange halten zu müssen. Diese institutionelle Verfasstheit der Schule stellt sich demnach als zentraler Hinderungsgrund der Professionalisierung von Lehrern dar. Die fehlende Professionalisiertheit des Lehrerberufs ist also nicht ein Versäumnis dieses Berufsstandes, der sich in seiner langen Geschichte um Professionalisierung bloß noch nicht genügend bemüht hat, sondern die Folge der durch die Schulpflicht von der politischen Gemeinschaft (unter den gesellschaftlichen Bedingungen des 19. Jahrhunderts) gesetzten institutionellen Rahmenbedingungen der Schulbildung und ihrer Restriktionen. Wenn diese Erklärung tatsächlich zutrifft, reichen die gegenwärtigen Bemühungen um eine Reform der Lehrerbildung zur Professionalisierung des Lehrerberufs nicht aus, weil sie dann das Haupthindernis der Professionalisierung – die gesetzliche Schulpflicht – unangetastet lassen.
Eine den Schülern selbstverständlich unterstellte Neugier müsste eine ganz anders geartete Adressierung und Ansprache zur Konsequenz haben. Man könnte den Schülern darlegen, warum das Unterrichtsvorhaben ihrer Neugierde adäquat ist. Die Schüler würden aus Selbsteinsicht tun können, wozu sie im vorliegenden Material manipulativ aufgefordert werden. Der Normalfall pädagogischen Handelns wäre, dass vom Lehrer ein Problem aufgespannt wird, an dem die Schüler etwas lernen können, an dem sie eine Einsicht in die gegenständliche Welt gewinnen können, so dass sie sich vor diesem Hintergrund wie selbstverständlich freiwillig, autonom am Unterricht beteiligen. Stattdessen behandelt die untersuchte Lehrerin ihre Schüler von vornherein als unwillige, zur Vernunfteinsicht unfähige Subjekte, deren vorhandene Autonomie sie beschneidet, statt sie zu befördern. Sie behandelt die Schüler zudem so, als seien diese äußerst schwer von Begriff, wenn sie diese zu Anfang erst dazu auffordert, den Tisch zu räumen und bis auf die Mäppchen alle Gegenstände in den Schulranzen zu stecken, damit ein aseptischer, von jeglichen Spuren der außerschulischen Praxis gereinigter Praxisraum entsteht, in dem sie die Schüler dann Schritt für Schritt zur Ausführung von Arbeitsschritten anweisen kann, die diese nicht vorauseilend ausführen dürfen. Obwohl dies dem pädagogischen Auftrag der Erziehung zur Selbständigkeit und Autonomie eigentlich widerspricht und obwohl die Lehrerin – wie ihr mildes, geduldiges Vorgehen beim Klingeln mit dem Glöckchen zur Unterrichtseröffnung zeigt – keine strenge oder gar sadistische Lehrerin ist, verschwindet in ihrem pädagogischen Handeln die Sache als interessante. An deren Stelle rückt die Frage des Gehorsams oder Ungehorsams in den Mittelpunkt. Der Nicht-Anerkennung der Autonomie der Schüler korrespondiert dabei der Umstand, dass Lehrer staatliche Beamte sind und einer Behördenpflicht unterliegen, so dass auch ihre Autonomie im Rahmen der Schulbürokratie beschnitten ist. Die Einrichtung eines von der kindlichen Neugier ausgehenden Arbeitsbündnisses zwischen dem Lehrer einerseits und dem Schüler und seinen Eltern andererseits, wie es für die Professionalisierung des Lehrerberufs unverzichtbar ist, kann in diesem institutionellen Rahmen von vornherein nicht zustande kommen. Denn für ein Arbeitsbündnis ist natürlich die Geltung der Autonomie der Beteiligten konstitutiv. In der gegenwärtigen institutionellen Verfasstheit der Schulbildung gilt aber weder die Autonomie der Schüler, noch die ihrer Eltern, und auch die Autonomie der Lehrer ist erheblich eingeschränkt.

Fußnoten:

(1) Oevermann 2003; 2004

Literatur:

Oevermann, Ulrich: „Brauchen wir heute noch eine gesetzliche Schulpflicht und welches wären die Vorzüge ihrer Abschaffung?“ Pädagogische Korrespondenz, Jg. 30, 2008, S. 54-70.

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