Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Unterricht als Aufgaben-Lösen: Michael

Unterricht als Aufgaben-Lösen: Dirk

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Beispiel (B10): ‚Lehrer sind uninformiert’

Beispiel (B10): Michael

Kontext:

Im ersten Fall geht es nicht um einen konkreten, einzelnen Lehrer, sondern um eine Gruppe von Lehrern. Der Gymnasiast Michael berichtet von seinen Kurswahlen für das folgende Halbjahr, die in Zusammenhang mit seiner Wiederholung der zwölften Jahrgangsstufe stehen. Aus diesem Kontext stammt der folgende Ausschnitt:

( 1) Zum Beispiel gibt’s da auch ne Beschränkung,

( 2) wenn man vorher in’ner Elf nich’ Kunst gehabt hat,

( 3) dann kann man dann ab 12.1 nich’ mehr Kunst nehmen.

( 4) Ich hatte dat alles schon gewählt,

( 5) und dann bin ich gestern noch ma’ hingegangen,

( 6) . wollte da noch ma’ wat fragen,

( 7) guck’ da noch ma’ so durch und so,

( 8) und wollte wegen nem Leistungskurs irgendwie ne Abänderung haben. ( 9) Ja, auf einmal guckt er so (hoch),

(10) meint er: „Erdkunde dürfen Se sowieso nich’ nehmen!“ (11) Wär’ ich da nich’ noch ma’ hingegangen,

(12) hätt’ er dat alles eingetragen.

(13) Zack, wär ich nächstes Jahr hingekommen,

(14) hätte dann Erdkundekurs da genommen,

(15) hätt’ ich gar nich’ machen dürfen,

(16) also hätten se mir gar nich’/gar nich’ anrechnen dürfen, ne

(17) Hätt’ ich dann da gestanden, ne.

(18) Überleg dir dat doch ma’!

(19) (überleg ma’, du wärst da rein) theoretisch schuldig,

(20) dann wär’ ich dann ganzet Jahr da hingegangen,

(21) und der Leistungskurs war eigentlich – Zack! – (…).

(22) Nur wat dann passiert,

(23) dat möcht’ ich gern’ ma ‘ wissen.

(24) Wat se da machen wollen.

(25) . . Vom Gesetzlichen her dürfen se ja nich’ anrechnen.

(I/1) . Menschlicher Fehler oder so …

(26) Hätt’ ich da gestanden.

(27) ‘n Jahr wiederholen is’ ja auch nich’ drin. (28) Darf ich ja nich’.

(29) . . . Dat is bei uns so:

(30) Überhaupt diese Beratungslehrer da, ne.

(31) . . . Die kriegen da vielleicht son bißchen Zulage noch,

(32) und richtig informieren tun se sich auch nich’.

(33) . (Dat) hab’ ich bis jetzt bei jeder Wahl gemerkt,

(34) die haben immer irgendwo Scheiße gebaut, ne, überall, ne.

(35) . . Dann total falsch beraten so,

(36) auf einmal hat man keine Zweisprachigkeit für die gehabt, ne.

(37) . Rennt man erst ma’ zum anderen und fragt den, und der sagt: (38) „Natürlich hast’e die Zweisprachigkeit!“

(39) Rennst zu dem: „Ja, der hat gesagt, ich hab’ die Zweisprachigkeit.“ (( La­chen ))

(40) Treffen sich die beiden dann wieder, (41) und dann machen die einen aus,

(42) was jetzt richtig ist.

(43) Dann sind se beide am Zweifeln,

(44) dann gehen se zum Jahrgangsstufenleiter, (45) und der ist wirklich informiert, ne.

(46) Is’ auch der einzigste.

(47) Ich würd’ auch zu keinem anderen Beratungslehrer mehr da

hingehen.

(48) . Bringt nix.

(49) Bevor ich mir da irgendwie son Scheiß verkaufen laß, ne

(50) und damit auf’e Schnauze fallen kann.

(51) Da geh’ ich doch lieber zu dem selber, ne.

Paraphrasierende Ablaufbeschreibung

Der vorliegende Interviewausschnitt enthält eine Erzählung, eine Illustration sowie ein Resümee und kann in vier Abschnitte untergliedert werden.

Abschnitt I: (s1) – (s28)

Der erste Abschnitt enthält die Erzählung einer am Vortag selbsterlebten Geschichte im Zusammenhang der aktuellen Kurswahlen. Kurswahlen finden zu Be­ginn eines jeden Halbjahres statt und bedeuten für die Oberstufenschüler, sich unter Beachtung vorgegebener Bedingungen aus dem allgemeinen Kursangebot ihre individuelle Stundentafel zusammenzustellen. In den Segmenten (s1) bis (s3) führt der Sprecher zur Orientierung eine einschränkende Bedingung ein, die er bei sei­ner Wahl zu beachten hat. Die szenisch-vorführende Wiedergabe der folgenden Ereigniskette in den Segmenten (s4) bis (s10) beinhaltet die Aufdeckung eines Fehlers bei der Kurswahl, der für den Fall, dass er unentdeckt geblieben wäre, schwerwiegende Konsequenzen für den Schüler nach sich gezogen hätte. Die Pointe der Geschichte liegt nicht in dem Fehler selbst, sondern in der Tatsache, dass er nur durch einen Zufall aufgedeckt wurde. Denn wäre der Schüler nicht noch einmal wegen einer anderen Angelegenheit zu einem Beratungslehrer gegangen, dann wäre die Fehlwahl nicht entdeckt worden, weil er seine Kurswahl bereits abgeschlossen hatte. Diese Pointe, in der das Erzählenswerte der Geschichte liegt, verdeutlicht der Erzähler ausführlich in den Segmenten (s11) bis (s16). Die Pointe impliziert, dass die Fehlwahl auf den Beratungsfehler eines Lehrers zu­rückzuführen ist.

In den Segmenten (s17) bis (s28) erläutert Michael die Tragweite des zufällig entdeckten Fehlers, die in möglicherweise schwerwiegenden Nachteilen für ihn, wie Nichtanerkennung eines Kurses und Gefährdung seiner Abiturzulassung, gele­gen hätte. Die teilweise repetitive Darstellung des Sachverhalts, seine empha­tisch-erregte Ausdrucksweise: „Zack!“ (s13), und der Versuch, die Interviewerin auf seine Seite zu ziehen: „Überleg dir dat doch mal’!“ (s18) zeigen die persönli­che Betroffenheit des Schülers.

Abschnitt II: (s29) – (sS4)

Die  Abschnitte II und III beinhalten eine thematische Generalisierung der erzähl­ten Geschichte. Waren bisher der aktuelle Fehler bei der Kurswahl und seine möglichen Folgen Gesprächsgegenstand, so sind es im Folgenden allgemein die Beratungslehrer. Die jeweils dreisekündigen Pausen zu Beginn der Segments (s29) und (s31) sind Indiz für eine mentale Planungstätigkeit zur Vorbereitung dieses Themenwechsels. In den Segmenten (s29) und (s30) kündigt Michael die Generali­sierung des mit der Geschichte bereits implizit angesprochenen Problems an, wie insbesondere der Ausdruck: „Überhaupt diese Beratungslehrer da“ in Segment (s30) zeigt. Denn sowohl „überhaupt“, dass das mit ‚im allgemeinen’ oder ‚im großen und ganzen’ umschrieben werden kann, als auch die demonstrativ generalisierend ge­brauchten deiktischen Mittel „diese“ und „da“ verdeutlichen, dass Michael in den Beratungslehrern ein allgemeines Problem sieht.

Die Vermutung über eine finanzielle Zulage für Beratungslehrer in Segment (s31) zeigt, worin Michael die Motivation für deren Tätigkeit sieht. Es folgen Be­hauptungen über mangelnde Kompetenz der Beratungslehrer, die er in den Seg­menten (s32) bis (s35) mit sehr allgemeinen Hinweisen auf eigene Erfahrungen un­termauert. Diese Behauptungen enthalten schwere Vorwürfe gegen die Beratungs­lehrer, die er mit Hilfe der folgenden Illustration belegt.

Abschnitt III: (s35) – (s46)

Der Beginn der Illustration ist aufgrund des fließenden Übergangs zwischen all­gemeinen Behauptungen und Darstellung eines fiktiven Beispiels nicht eindeutig zu bestimmen. Neben der dreisekündigen Pause zu Anfang des Segments (s35) spricht jedoch auch die thematische Spezifizierung dieses Segments dafür, an dieser Stelle den Beginn der Illustration anzunehmen. Denn zusammen mit Segment (s36) wird hier ein vager Illustrationsraum etabliert, bestehend aus den typischen Ele­menten der Standardsituation Beratung. Die handelnden Personen sind zwei nicht näher identifizierte Beratungslehrer, ein Jahrgangsstufenleiter sowie ein Schüler. Handlungsraum sind jeweils die Orte, an denen sich die Beteiligten aufhalten. Als Zeit der Handlung wird kein bestimmter Zeitpunkt genannt, sondern allgemein auf den Typ Schulzeit verwiesen.

In der Illustration schildert der Sprecher eine fiktive Beratung, die die mangelnde Kompetenz der Beratungslehrer anhand eines offensichtlichen Beratungsfehlers belegen soll. Gegenstand der Beratung ist die Wahlvoraussetzung „Zwei­sprachigkeit“, mit der die Bedingung gemeint ist, dass die Schüler bis zu einem bestimmten Schuljahr parallel zwei Fremdsprachen belegen müssen. Auslegungs­probleme können sich daraus ergeben, dass der Status von freiwillig belegten Fremdsprachenkursen unklar ist. In Segment (s36) bringt der Erzähler zum Aus­druck, dass der Schüler im Gegensatz zum Lehrer der Auffassung ist, seine Kurs­wahl erfülle das Kriterium „Zweisprachigkeit“. Diese Auseinandersetzung ist des­halb von Bedeutung, weil eine wichtige Funktion der Beratung darin besteht, den Schülern korrekte Kurswahlen zu ermöglichen und diese auch durch den Bera­tungslehrer feststellen zu lassen. Die folgenden Segmente (s37) bis (s44) geben den Verlauf der Auseinandersetzung wieder.

In der Folge fragt der Schüler zunächst einen weiteren Beratungslehrer um Rat und zeigt damit, dass er der Auskunft des ersten nicht traut. Die Antwort des zweiten Lehrers widerspricht inhaltlich der ersten Auskunft. Der nächste Schritt des Schülers besteht darin, den ersten Lehrer mit der im Widerspruch zu seinem Rat stehenden Antwort des zweiten zu konfrontieren. Durch die Wieder­gabe dieser Schritte führt der Sprecher vor, dass einer der beiden Lehrer offen­sichtlich unrecht haben muss. Diese Gegenüberstellung zweier sich widersprechen­der Auskünfte ist der erste Beleg für die von Michael behauptete mangelnde Kompetenz der Beratungslehrer. Das Lachen am Ende des Segments (s39) könnte Indiz sein für den Triumph, den der Schüler noch bei der Schilderung dieses Er­eignisses verspürt. In den Segmenten (s40) bis (s44) folgt ein weiterer Beleg für die Inkompetenz der Lehrer. Denn die illustrierten Handlungen zeigen, dass die Lehrer nicht imstande sind, das Problem alleine zu lösen. Ihnen bleibt am Ende nur die Erkundigung an höherer Stelle, beim Jahrgangsstufenleiter, der – laut Mi­chael – als einziger richtig informiert sei.

Als besonderes Element weist die Illustration eine durchgängige Banalisierung der dargestellten Handlungen auf, um so das Typische des Sachverhalts noch deutlicher hervorzuheben und die Inkompetenz der Beratungslehrer zu entlarven.

Die Banalisierung führt die Lehrer in besonderer Weise als dumm und inkompe­tent vor, wie die folgenden Elemente zeigen:

  1. (31) Die kriegen da vielleicht son bißchen Zulage noch.

Das Segment, das eine Vermutung über eine geringe Zulage für die Beratungstätigkeit der Lehrer enthält, gibt Hinweise auf die angenommene Motivation der Beratungslehrer. Der Sprecher unterstellt den Lehrern mit seiner Vermutung fi­nanzielle Gründe für ihre Beratungstätigkeit, die ihr Handeln als von eigenen ma­teriellen Vorteilen bestimmt erscheinen lässt. Den Lehrern gehe es nicht um die Schule, sondern ums Geld. Die Banalisierung liegt in diesem Fall in der Reduk­tion Motivation für die der Beratungstätigkeit auf ihren (möglicherweise) finan­ziellen Vorteil für die Lehrer.

2. (s41) und dann machen die einen aus,

    (s42) was jetzt richtig ist.

In diesen beiden Segmenten illustriert der Sprecher die Problemlösungsstrategien der Beratungslehrer. Er unterstellt ihnen, in Zweifelsfällen nach sachfremden und nicht nachvollziehbaren Kriterien zu entscheiden. Denn „einen-ausmachen“ bedeu­tet, unter Umgehung objektiver Gesichtspunkte nach persönlichem Dafürhalten eine Sache zu entscheiden. Hier banalisiert er die Handlungen der Lehrer, indem er ihre institutionsspezifische, d.h. an Erlassen orientierte, Entscheidungsgrundlage anzweifelt und ihnen stattdessen unsachgemäße Erwägungen unterstellt.

3. (s43) Dann sind se beide am Zweifeln,

    (s44) dann gehen se zum Jahrgangsstufenleiter.

Mit der Wiedergabe dieser beiden Handlungsschritte führt der Sprecher die Inkompetenz der Beratungslehrer quasi szenisch vor. Das der englischen continuous-­form nachempfundene ‚sie sind am Zweifeln’ veranschaulicht die Zweifel und Hilflosigkeit der Lehrer. Ihre Nachfrage beim Jahrgangsstufenleiter kommt in den Augen Michaels einem öffentlichen Eingeständnis ihrer Unwissenheit gleich. Damit sind die Handlungen der Lehrer endgültig als banal und sie selbst als inkompetent entlarvt.

Zusammenfassend kann man sagen, die besondere Leistung dieser Illustration besteht darin, nicht nur durch die Auswahl der dargestellten Handlungselemente, sondern vor allem durch die Art ihrer Darstellung das Typische des Sachverhalts herauszuarbeiten, und das liegt für den Schüler in der mangelnden Beratungskom­petenz der zuständigen Lehrer. Die durchgehende Banalisierung der Lehrerhand­lungen veranschaulicht die von Michael unterstellte Inkompetenz der Lehrer in Beratungsfragen, indem er ihre Tätigkeiten auf simple Alltagsmuster reduziert.

Abschnitt IV: (s47) – (s51)

Den Abschluss der Sequenz bildet ein Resümee, das sich unmittelbar an die Illustration anschließt. Es enthält eine Lehre, die der Sprecher für sich aus der erzählten Geschichte und insbesondere dem illustrierten Sachverhalt für die Zukunft zieht. Er will in Zukunft für Beratungen nicht mehr die zuständigen Beratungs­lehrer aufsuchen, sondern stattdessen direkt zum Jahrgangsstufenleiter gehen, den er in Beratungsfragen als einzigen für kompetent hält. Auf diese Weise will er Nachteile vermeiden, die sich für ihn aus falschen Beratungen ergeben können. Die Realisierung eines solchen Vorgehens würde das Umgehen institutioneller Verfah­rensabläufe bedeuten, weil zunächst einmal die Beratungslehrer – wie schon der Name sagt – für die Beratungen zuständig sind.

Rekonstruktion des Aktantenwissens in (B10): das Verhältnis von

partikularem zu systematisiertem Wissen

Ich möchte anhand des vorliegenden Interviewausschnitts primär das Verhältnis unterschiedlicher Wissenstypen zueinander erläutern. Denn wir haben mit dem Beispiel (B10) den Fall vorliegen, dass ein Sprecher von einem Einzelfall ausgehend sein komplexes Wissen zu diesem Objektbereich verbalisiert. Seine diskursive Bearbeitung des Themas ist wesentlich geleitet durch die Organisation seines Wis­sens zu diesem Thema. Erste Hinweise auf die Wissensstruktur gibt bereits die Abfolge der sprachlichen Muster, auf die der Sprecher in dieser Sequenz zurück­greift. Denn die Ablaufbeschreibung hat gezeigt, dass hier eine Erzählung, eine Illustration sowie ein Resümee vorliegen. Anhand dieser verwendeten drei Sprachmuster werde ich im Folgenden das dokumentierte Wissen rekonstruieren.

Subjekt des Wissens ist der Schüler Michael, Objekt des Wissens sind die Beratungslehrer der Oberstufe. Bevor wir zur Rekonstruktion des Gewussten über diesen Objektbereich kommen, möchte ich zum besseren Verständnis zunächst das System der reformierten Oberstufe skizzieren. Die Oberstufe ist gekennzeichnet durch ein Kurswahlsystem, das Anfang der 70er Jahre in NRW als Reformmodell eingeführt wurde. Seine Grundelemente bilden die Auflösung der Klassenverbände zugunsten von Kursen, die Zusammenstellung des individuellen Stundenplans durch die Schüler entsprechend bestimmter Wahlbedingungen, der systematische Einbe­zug der Zensuren aus den Klassen 12 und 13 in die Abiturnote und die Ersetzung der Noten von sehr gut bis ungenügend durch ein 15-teiliges Punktesystem. Auf­grund einer Vielzahl von Änderungen und neuen Erlassen im Laufe der Jahre, die auf politischen und wirtschaftlichen Druck hin erfolgten, ist das Oberstufenmodell heute durch seinen hohen Verwaltungsaufwand und eine entsprechende Komplexi­tät gekennzeichnet. Die ursprüngliche Reformidee, der nach Neigung und Eignung differenzierten schulischen Bildung, gerät zunehmend aus dem Blick aller Betei­ligten. In der alltäglichen Praxis bedeutet das System für Schüler und Lehrer einen enormen Organisations- und Verwaltungsaufwand, der wegen des Lehrerman­gels in den Schulen und der damit verbundenen hohen Belastungen der betreffen­den Lehrer nur unzureichend bewältigt werden kann. So kann es immer wieder zu Fehlern bei der Planung und Information kommen, deren tieferliegende Ursachen weniger bei den Lehrern als vielmehr in der Komplexität des Systems zu suchen sind. Für unseren Zusammenhang ist es wichtig zu wissen, dass es zu systembe­dingten Fehlern kommen kann.

Die Erzählung des Abschnitts I dokumentiert ein partikulares Erlebniswissen über die selbsterlebte Geschichte einer falschen Beratung. Zum Gewussten gehört in diesem Fall die einmalige Ereigniskette, die mit der zufälligen Aufdeckung ei­nes folgenschweren Fehlers bei der Kurswahl endet. Zwei Aspekte des Gewussten sind dabei für die weitere Wissensrekonstruktion von besonderer Bedeutung:

a) Der Schüler weiß, dass der Fehler für ihn erhebliche Nachteile bei der Abiturzulassung hätte mit sich bringen können. Dies zu erkennen setzt ein Wissen besonderer Art voraus, nämlich das Wissen über die genauen Wahlbedingungen, das Teil des Institutionswissens 2. Stufe ist. Die eigenständige Kurswahl der Oberstufe bedeutet für die Schüler, sich einen Teil des Wissens 2. Stufe anzu­eignen, das eigentlich den Agenten (Lehrern) vorbehalten ist. Dieses Wissen ist notwendige Voraussetzung zum Handeln in der Oberstufe und besteht aus einer einfachen Übernahme der betreffenden Erlasse.

b) Die Erzählung dokumentiert darüber hinaus ein Wissen über die Beratungslehrer, das für das Verhältnis der verschiedenen Wissenspartikel von Bedeutung ist. Die Pointe der erzählten Geschichte, bestehend aus der zufälligen Entdeckung eines gravierenden Fehlers, macht auf der kommunikativen Ebene das Erzäh­lenswerte der Geschichte aus, auf der Wissensebene beinhaltet sie das Wis­senswerte der Geschichte. Sie dokumentiert in diesem Fall den Teil des Ge­wussten, der die kausalen Zusammenhänge der Ereigniskette betrifft. Michael sieht in den Beratungslehrern die Verursacher bzw. Schuldigen für die falsche Kurswahl. Denn die Geschichte bzw. die Pointe impliziert, dass es der zuständige Beratungslehrer versäumt hat, eine unzulässige Kurswahl zu beanstanden.

Für die weitere Wissensrekonstruktion können wir an dieser Stelle festhalten, dass die Erzählung in Abschnitt 1 ein partikulares Erlebniswissen über eine selbster­lebte falsche Beratung dokumentiert mit dem Gewussten, dass hierfür der oder die Beratungslehrer verantwortlich sind.

Kommen wir nun zu den Abschnitten ll und lll, in denen der Sprecher auf der diskursiven Ebene eine Generalisierung der singulären Geschichte aus Ab­schnitt I vornimmt. Auf der Wissensebene kann man hier von einer Systematisie­rung des Wissens sprechen, die sich exemplarisch an den folgenden Äußerungen des Abschnitts II belegen lässt:

(33) . (Dat) hab’ ich bis jetzt bei jeder Wahl gemerkt,

(34) die haben immer irgendwo Scheiße gebaut ne, überall ne.

Das Gewusste bezieht sich nicht mehr nur auf einen Einzelfall, sondern auf einen allgemeinen Sachverhalt. Die pragmatischen Quantoren „ein“ und „einmal“ werden ersetzt durch „alle“, „immer“ und „überall“. Das Gewusste über Beratungslehrer trifft also nicht nur in einem Fall auf einen konkreten Lehrer zu, sondern gilt immer und für alle Beratungslehrer. Diese Typisierung ist nicht misszuverstehen als empirische oder logische Allaussage, sondern sie ist zu verstehen als Bestand­teil des Alltags- oder Institutionswissens 1.Stufe des Schülers, das systematisch Ausnahmen von solchen Allaussagen vorsieht (vgl. hierzu auch §2.1.3 und die Re­konstruktion des Illustrationswissens weiter unten). Formal liegt hier ein Wissen des Typs Bild vor.

Damit wird das partikulare Wissen, das sich in der Erzählung dokumentiert, eingebunden in das hoher systematisierte Bild-Wissen über Beratungslehrer. Die Systematisierung erlaubt eine Verlängerung des Wissens in die Zukunft, weil der Wissende davon ausgehen kann, dass die Beratungslehrer auch in Zukunft Fehler machen werden. Das Bild-Wissen über Beratungslehrer bleibt in Abschnitt ll noch recht allgemein und undifferenziert. Erst in der Illustration des Abschnitts III zeigt sich eine für das Wissen insgesamt wichtige Differenzierung, die ich im Folgenden darstellen werde.

In der Illustration wird das fiktive Beispiel einer Beratung mit dem Problem „Zweisprachigkeit“ geschildert. Die generalisierende Darstellung, d.h. die Abstrak­tion von einem Einzelfall zeigt, dass der Sprecher das Beispiel exemplarisch versteht. Sie erlaubt daher eine differenzierte Rekonstruktion des Bild-Wissens zum Thema Beratungslehrer. Das Gewusste des Schülers beschränkt sich nicht auf die allgemeine Aussage, dass die Lehrer Fehler machen, sondern es umfasst auch die differenzierte Kenntnis, worin sich die Fehler typischerweise äußern. Als typisch, d.h. wiederholt auftretend betrachtet Michael die illustrierten Lehrerhandlungen wie ‚Widersprüchliche-Aussagen-machen’, ‚An-den-eigenen-Aussagen-zweifeln’ und ‚Sich-Rat-holen’. Sie sind für ihn aus diesem Grund Indizien für eine generelle Inkompetenz und nicht nur einmalige Handlungen als Folge von Unwissenheit in einem Einzelfall. Er sieht in den illustrierten Lehrerhandlungen typische Reaktio­nen auf eine allgemeine Inkompetenz. Das Gewusste gilt somit immer und für alle Beratungslehrer.

Das systematisierte Bild-Wissen hat für den Wissenden grundsätzlich folgende Funktion: Singuläre Ereignisse wie die o.a. Geschichte werden als partikulares Erlebniswissen gespeichert, das einerseits schnell vergessen wird und das andererseits wegen seiner Singularität wenig geeignet ist, handlungspraktische Konse­quenzen daraus zu ziehen. Das Bild-Wissen erlaubt es dem Wissenden nun, Einzel­ereignisse in dieses höher systematisierte Wissen einzuordnen und sichert damit einen längerfristigen Zugriff auf das Wissen.

Die Illustration erlaubt darüber hinaus die Rekonstruktion einer weiteren Differenzierung des Bild-Wissens über Beratungslehrer. Sie besteht in einer systema­tischen Ausnahme der Gültigkeit des Gewussten, die sich in den folgenden Seg­menten dokumentiert:

(45) und der <Jahrgangsstufenleiter> ist wirklich informiert, ne.

(46) ls’ auch der emzigste.

Für Michael sind die Jahrgangsstufenleiter im Gegensatz zu den Beratungslehrern in Beratungsfragen als einzige kompetent. Für das Wissen bedeutet das, der Schüler nimmt die Jahrgangsstufenleiter systematisch von seinem Wissen über Be­ratungslehrer aus. Er suspendiert die Gültigkeit seiner Allaussage über Bera­tungslehrer für den Fall, dass es sich dabei zugleich um einen Jahrgangsstufenlei­ter handelt, indem er die beratenden Lehrer in Beratungslehrer und Jahrgangsstu­fenleiter unterteilt. Ob diese Differenzierung in der Realität gerechtfertigt ist, mag zweifelhaft sein, kann aber an dieser Stelle nicht entschieden werden. Ent­scheidend für uns ist die Frage nach der Funktion einer solchen Differenzierung. Einerseits suspendiert sie den Satz vom Widerspruch für den Fall, dass eine kom­petente Beratung durch einen Jahrgangsstufenleiter erfolgt. Denn eine solche Er­fahrung widerspricht dem Bild-Wissen deshalb nicht, weil es sich nicht um einen Beratungslehrer im engen Sinne handelt. Das Bild-Wissen kann also unwiderlegt in Kraft bleiben, und es tritt kein wissensmäßiger Widerspruch auf, der schwerer zu verarbeiten wäre. Andererseits ist die systematische Differenzierung Vorausset­zung für die Ausbildung einer Handlungsmaxime, wie sie im Resümee des Ab­schnitts IV dokumentiert ist.

In seinem Resümee formuliert der Schüler eine eindeutige Maxime für das schulische Handlungsmuster Beratung. Im Rahmen weiterer Kurswahlen, die in je­dem Halbjahr anstehen, muss er sich auch in Zukunft beraten lassen. Für diese Fälle liefert die Maxime eine Entscheidung, welcher Lehrer dann aufzusuchen ist. Michael sieht dafür grundsätzlich zwei Alternativen: Er kann entweder – wie vorgesehen – zu einem Beratungslehrer oder – wie es nicht üblich ist – zum Jahrgangsstufenleiter gehen. Die Maxime trifft aus diesen beiden Möglichkeiten eine eindeutige Auswahl zugunsten der zweiten Alternative, die für die hypothetischen Fälle zukünftiger Beratungen Gültigkeit hat, wie der in Segment (s47) verwendete Konjunktiv: „Ich würd’ …“ zeigt. Die Maxime leitet sich her aus den negativen Erfahrungen des Schülers in der Vergangenheit, die er in Form des Bild-Wissens über Beratungslehrer gespeichert hat. Das Bild-Wissen mit seiner Differenzierung der Beratungslehrer in zwei Gruppen bildet die Grundlage für die Generierung der Maxime.

Bei der Funktion der Maxime muss man danach unterscheiden, welche Funk­tion sie subjektiv für den Schüler und welche sie objektiv für die Institution Schule hat. Für den Schüler hat die Maxime die Funktion, zukünftig Nachteile aus falschen Beratungen für seine Person zu vermeiden. Das ergibt sich aus der Begründung der Maxime in den beiden folgenden Segmenten:

(49) Bevor ich mir da irgendwie son Scheiß verkaufen la/3, ne

(50) und damit auf’e Schnauze fallen kann.

Neben der Funktion, eine Entscheidungshilfe für den Schüler zu sein, übernimmt die Maxime für die Institution Schule die Funktion, widersprüchliche Erfahrungen handhabbar zu machen. Der Schüler hat die Beratungen mehrfach als widersprüchlich erfahren und diese Erfahrungen in Form eines Bild-Wissens (Inkompe­tenz der Beratungslehrer) systematisiert. Die Maxime erlaubt es dem Schüler, mit diesen Widersprüchen handlungspraktisch umzugehen. Indem er für Beratungen nur bestimmte Lehrer aufsucht, ist es ihm möglich, weiterhin in dem System zu han­deln, ohne das System als Ganzes in Frage zu stellen. Die Funktion der Maxime besteht also auch darin, einen praktischen Umgang mit den institutionellen Wider­sprüchen zu ermöglichen, ohne sie jedes Mal zu thematisieren.

Als Ergebnis der Wissensrekonstruktion bleibt Folgendes festzuhalten: Die Sequenz ist ein Beispiel dafür, wie Schüler die von ihnen erfahrenen Widersprüche des schulischen Alltags auf den verschiedenen Wissensebenen verarbeiten. Die wissensmäßige Verarbeitung widersprüchlicher Erfahrungen erfolgt dabei eindeutig aus der Perspektive des betroffenen Aktanten, wie die differenzierte Wissens­struktur zum Thema Beratungslehrer zeigt. Beginnen wir mit dem partikularen Erlebniswissen, das sich in der Erzählung der selbsterlebten Geschichte dokumen­tiert. Die gesamte Geschichte wird aus der Perspektive des Aktanten erzählt, den daran im Wesentlichen zwei Aspekte interessieren: zum einen die nachteiligen Konsequenzen, die sich für ihn aus der falschen Beratung hätten ergeben können, und zum anderen die Frage nach dem Verantwortlichen bzw. Schuldigen. Über die Gründe, die zu solchen fehlerhaften Beratungen führen, weiß er nichts. Indiz da­für ist das Fehlen jeglicher Übernahme der Agentenperspektive. Die Ursachen für fehlerhafte Beratungen reduziert er auf die Frage nach den Schuldigen, die er in den Lehrern sieht.

Diese aktantenspezifische Perspektive findet sich auch in dem Bild-Wissen des Schülers über Beratungslehrer. Er sieht in ihrer Inkompetenz die Ursache für fehlerhafte Beratungen. Nach den möglichen Ursachen für die Inkompetenz fragt er nicht, denn sie sind ebenfalls Bestandteil seines systematischen Nicht-Wissens. Die Ausbildung eines solchen eingeschränkten Wissens ist verständlich, wenn man sich die Handlungsperspektive der Schüler vor Augen führt. Es sind die Lehrer, die die konkreten Fehler machen, von denen die Schüler betroffen sind. Ein Wis­sen über die Ursachen der erfahrenen Inkompetenz auszubilden, entspricht nicht den institutionellen Interessen der Schüler, weil es an den nachteiligen Konse­quenzen der Fehler nichts ändern würde. Aus diesem Grund ist es konsequent, wenn die tieferliegenden Ursachen zum systematischen Nicht-Wissen der Aktanten gehören.

Die Folgen eines Bild-Wissens über die Interaktionspartner, das die Gründe für deren Handlungen systematisch ausklammert, kann man umschreiben als Schwund gegenseitiger Anerkennung, den Ehlich (1980) als bezeichnend für schuli­sche Kommunikationsprozesse hinstellt. Im vorliegenden Beispiel zeigt sich das an der von Michael ausgebildeten Maxime. Die Entscheidung, in Zukunft bei Bera­tungen bestimmte Lehrer zu meiden, ist Ausdruck eines weitreichenden Vertrau­ensschwundes, der nicht auf dieses eine Handlungsmuster beschränkt ist.

 

Mit freundlicher Genehmigung des Peter Lang Verlages
http://www.peterlang.com/index.cfm?vID=41422&vLang=D&vHR=1&vUR=2&vUUR=1

 

 

 

 

 

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