Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung

Während oben die provokative Infragestellung der territorialen Zuordnung des Sitzplatzes in der Auseinandersetzung zweier Schüler eine Rolle spielte, zeigt das nächste Beispiel eine Aushandlung zwischen Schülerin und Lehrerin hinsichtlich des Geltungsbereichs der Regel der Sitzordnung.

Der Ausschnitt ist jener Phase des Übergangs von der ersten großen Pause zum Unterricht entnommen, in der die Lehrerin Frau Kasek bereits anwesend ist, die meisten Schüler der Klasse ihre Sitzplätze eingenommen haben und sich am Tisch mit Lesen, Malen oder ähnlichem selbst beschäftigen sollen – um (laut Erläuterung der Lehrerin) von den Pausenaktivitäten zur Ruhe zu kommen. Die Kinder reden zum Teil miteinander, so dass insgesamt ein vergleichsweise hoher Geräuschpegel herrscht. Einzelne Jungen kommen nach und nach in den Raum.

Klasse 5y (Sitzordnung ), 24.2.00, Übergang Pause – Unterricht, 10h27:34 – 10h28:14

Die Lehrerin geht zügig vom hinteren Fensterbereich durch den Mittelgang nach vorn zum Tafelbereich. Als sie an der Tischgruppe von Claudia vorbeikommt, unterbricht Claudia ihre Malarbeit, steht auf, nimmt das DinA3-große bemalte Papier, das vor ihr auf dem Tisch liegt, in die Rechte und folgt der Lehrerin nach. Auf dem Weg noch ruft sie: „Frau Kasek!“ Claudia bleibt vor der Lehrerin, die sich wieder zur Klasse umgewandt hat, stehen, blickt sie an und sagt: „Ich möchte hierhin. Wenn ich (dir Arbeit) schreibe, geh ich wieder an meinen Platz!“ Dabei deutet sie mit der linken Hand zuerst auf den leeren Platz an dem kleinen Tisch, der am Lehrerpult angrenzt und von niemandem besetzt ist und dann auf ihren eigenen Sitzplatz. Frau Kasek deutet mit dem rechten Zeigefinger auf Claudias Sitzplatz und sagt kurz etwas (unverständlich). Claudia geht einen Schritt auf den von ihr gewünschten Sitzplatz zu, deutet auf diesen erneut, während sie ausruft: „Ja ich will mich hier vorne aber hinsetzen!“ Sie lässt die Hand auf den Oberschenkel fallen, wackelt auf dem Aßenspann ihrer breitbeinig gestellten Füße hin und her und blickt einen Moment auf den Boden. Die Lehrerin deutet nachdrücklich mit dem Zeigefinger auf den Sitzplatz von Claudia und ruft aus: „Du sitzt auf Deinem Platz“. Mit einem leichten Raunen wendet sich Claudia ab, kehrt zügig zu ihrer Tischgruppe zurück und setzt sich auf ihren Sitzplatz, den Blick auf die Tischseite am Fenster gerichtet. Sie ruft den Namen ihrer Tischnachbarin (außerhalb Kamerabild), lehnt sich zurück, während sie ihre rechte Hand, die Finger fast zur Faust geballt, zurückzieht. Erneut ruft sie: „Hallo, hallo!“ und wartet einen Moment ab.
Gleichzeitig ertönt die kleine Handglocke mehrmals, die die Lehrerin kurz zuvor vom Pult genommen hat. – Claudia singt gemeinsam mit der Tischnachbarin in kurzen abgehackten Tönen: „Na-na-ua-na-na“ und macht bei der letzten Silbe ein Papiersymbol mit der Hand. Dann wehrt Claudia gestisch ab: „Hey ich hab .jetzt doch nicht …“, rückt ihren Stuhl zurück, nimmt einen Stift und wendet sich erneut dem bemalten Papier zu, das sie wieder auf ihren Tisch gelegt hat.

Interpretation

Die anwesenden Kinder, die wie Claudia einer Malarbeit nachgehen, vollziehen jenen, durch die Lehrerin vorgegebenen, überleitenden Schritt hin zur Unterrichtsbereitschaft der individuellen Selbstbeschäftigung am Sitzplatz. In dieser Szene unternimmt Claudia nun einen Versuch, über diese Vorgabe zu verhandeln: Sie steht auf und bittet die Lehrerin gestisch und verbal darum, sich auf einen anderen Platz setzen zu können. Indem sie bereits Arbeitsmaterial (Malpapier) mitnimmt, markiert sie ihre Bereitschaft, an diesem anderen Sitzplatz die der Vorgabe entsprechende Handlung Malen/Selbstbeschäftigung fortzuführen. Gleichzeitig verdeutlicht es ihre Erwartung, dass ihrem, auf einen spezifischen Platz gerichteten Bedürfnis entsprochen wird. Claudia schränkt ihr Anliegen ein: zu einem späteren Zeitpunkt, „wenn ich … schreibe“ – d.h. wenn wesentliche Unterrichtshandlungen vollzogen werden, wenn also das Regelwerk des Organisationssystems Unterricht vollständig Geltung besitzt – dann werde sie wieder auf ihren Sitzplatz gehen, also auf den Platz, der ihr gemäß Sitzordnung wiederkehrend zugeordnet ist.
Die Eröffnung der Aushandlung verdeutlicht zweierlei: Zum einen ist zu Unterrichtszeiten der Sitzplatz in seiner personellen Zuschreibung festgelegt, während er zu solchen Übergangszeiten wie derjenigen von der Pause zum Unterricht noch als – zumindest potentiell in der Perspektive der Schülerin – austauschbar gilt. Zum anderen wird diesem Handlungsbedarf der individuellen Selbstbeschäftigung bei Anwesenheit der Lehrerin bereits das Regelwerk des Unterrichts insoweit zugesprochen, als es der Legitimation durch die Lehrerin bedarf, wenn von der Sitzordnung abgewichen wird.

Die Lehrerin lehnt die vorübergehende Suspendierung der Sitzordnung im Falle von Claudia ab. Der wiederholte, in seiner Expressivität, verbal wie körpersprachlich, gesteigerte Versuch der Schülerin, diese doch durchzusetzen, misslingt. In ausdrücklicher Gestik und mir knapper Verhaltensanweisung entsprechend der Regelung der Sitzordnung („Du sitzt auf Deinem Platz“) beendet die Lehrerin die Aushandlung. Die Kommunikation zwischen Lehrerin und Schülerin erweist sich als eindeutig asymmetrisch. Das sichtbare Machtgefälle hat seinen wesentlichen Bezugspunkt in dem institutionellen Regelwerk des Unterrichts, dessen Inkrafttreten oder Suspendierung hier in der Gewalt der Lehrerin liegt. Während Claudia der Anweisung Folge leistet – sie setzt sich wieder auf ihren Sitzplatz – äußert sie körpersprachlich einen leichten Widerstand (Raunen). Indem sie anschließend vorübergehend nicht der Handlungsaufforderung der individuellen Selbstbeschäftigung am Sitzplatz nachkommt, sondern stattdessen sich einer Tischnachbarin zuwendet und mit ihr ein durch Gesang begleitetes Spiel vollzieht, führt sie den leichten Widerstand fort. Die Hinwendung zur Tischnachbarin in Verbindung mit diesem Spiel mit Handsymbolen („Klick-Klack-Kluck“, wie es die Kinder nennen) reaktiviert implizit eine Pausensituation und demonstriert bei gleichzeitiger, regelorientierter Sitzplatzeinnahme eine Abwendung vom Kontext Unterricht. Gleichwohl ist diese Umorientierung nicht von Dauer. Claudia wendet sich von dem Spiel wieder ab und rückt – nachdem die Lehrerin mit einer kleinen Glocke als deutlichem Markierer für den Unterrichtsbeginn geläutet hat – ihren Stuhl zurecht, d.h. korrigiert ihre räumliche Positionierung, ihre Haltung. Dem folgt die Wiederaufnahme der Malarbeit, der individuellen Selbstbeschäftigung, die Rückkehr zum Prozess der Herstellung einer Unterrichtsbereitschaft.

Die personengebundene Sitzordnung, das Sitzen mit spezifischer räumlicher Positionierung in wiederkehrender Anordnung stellt offensichtlich eine der wesentlichen Bedingungen für den Unterricht, ein Grundelement des Übergangsrituals dar. Ihre Suspendierung aufgrund individueller Bedürfnisse auf Schülerseite gefährden das schulische Regelwerk. Dies führt, wie in obigem Beispiel, zu einer Spannung dort, wo diese Bedürfnisse reklamiert und von Lehrerseite trotz regelorientierten Signalen des Schülers abgewiesen werden. Ein Weg, diese Spannung im Nachhinein aufzulösen, liegt in einem performativen Akt des – wenn hier auch nur ansatzweisen – Widerstandes, der mit der situativen Abwendung von dem institutionellen Ablaufschema verbunden ist.

Diese Szene thematisiert ähnlich wie die erste die Einnahme des Sitzplatzes, die Verpflichtung auf die Wiederkehr der räumlichen Positionierung via Sitzordnung. Gleichwohl unterscheidet sie sich von der vorangegangenen: Während in ersterer im Rahmen der Sitzordnung die Übernahme der Sitzhaltung als solche und mit ihr die soziale Identität des Schülers auf spielerische Weise in Frage gestellt wurde und als Aufhänger zur zwischengeschlechtlichen Interaktionsverwicklung diente, wird in dieser Szene in Anerkennung des institutionellen Regelwerks eine vorübergehende Suspendierung der Verpflichtung angestrebt. Während im ersten Fall ein Eingriff der institutionellen Autorität ausbleibt, lediglich droht, wird hier diese explizit als diejenige Person angesprochen, die zu einer Legitimierung autorisiert ist. Gleichwohl ist der Rahmen, innerhalb dessen die Thematisierung stattfindet, die liminale Phase von der peergroup-strukturierten Pause hin zum schulisch-institutionell strukturierten Unterricht, ein gemeinsamer. Diese Phase beinhaltet Möglichkeiten des Spielens mit oder des Aushandelns über den partiellen Aufschub dieser Struktur. In letzter Szene wird der Schwellencharakter auch daran deutlich, dass nach Ablehnung des Gesuchs die Schülerin Claudia auf Interaktionsformen der Peergroup – das gemeinsame Spiel – zurückgreift.

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