Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung

Lassen wir nun den Tisch als Unterrichtsfläche hinter uns und widmen uns dem Tisch als Requisit klasseninterner Beziehungen, so sind hier zumindest drei unterschiedliche Aspekte erkennbar. Die Tische werden von den Schülern im Übergang von der Pause zum Unterricht zum einen als Treffpunkt, etwa im Sinne eines Kaffeehaustisches oder eines Tresens, zum anderen als Bühne eingesetzt, wobei in letztgenannter Variante zugleich mit dem Tisch als Besitzterritorium gespielt wird. Diese Varianten werden im Folgenden an je zwei Szenen exemplarisch vorgestellt und erörtert.

Am Tisch stehen und klönen:

Klasse 4y, 15.03.1999, 10h25

Alle Schüler der Klasse 4y befinden sich nach der Hofpause wieder im Klassenzimmer. … Binol, Cennet und Andre stehen an den Tischen von Andrea, Lore, Sybille und Hanna diesen gegenüber. Sie unterhalten sich.

Klasse 4y, 25.03.1999, 10h29

Binol kommt mit einem reich bebilderten (Comic?) Buch bzw. Heft von rechts hinten (vom Bücherregal?) zu seinem Tisch, setzt sich hin und schaut das Buch bzw. Heft an. Martin schaut von seinem Sitzplatz aus zu ihm hinüber, steht auf, geht zu Binol, stellt sich neben ihn und schaut über dessen Schultern das Buch bzw. Heft mit an. Binol und Martin unterhalten sich (offenbar über das Heft, jedenfalls deuten sie beim Sprechen darauf).

Interpretation

Die Szenen zeigen zwei Varianten einer Interaktionsform unter Kindern, die immer wieder im Übergang von der Pause zum Unterricht zu beobachten ist: das Am-Tisch-Stehen und Klönen. In beiden Situationen ist die Lehrerin abwesend, in beiden Situationen ist der Unterricht noch nicht offiziell (z.B. durch ein plenares Begrüßungsritual oder durch eine an alle gerichtete Aufgabenstellung) eröffnet. In beiden Varianten wird der Tisch als raumstruktureller Anhaltspunkt genutzt, im ersten Beispiel eher vertikal, außer als Treffpunkt auch zur Stiftung einer smalltalk-geeigneten Minimaldistanz, im zweiten Beispiel eher horizontal, als Unterlage und Präsentationsfläche für Gegenstände, die dann gemeinsam beschaut und über die als gemeinsames Drittes kommuniziert wird.

Während im zweiten Beispiel eine Dyade zweier Kinder gleichen Geschlechts, jedoch unterschiedlicher ethnischer und kultureller Herkunft zu sehen ist, zeigt das erste Beispiel eine ganze Gruppe von Klassenkameraden beider Geschlechter wie auch verschiedener ethnischer und kultureller Herkunft. Beide Varianten tragen zur Konstituierung der Klassengemeinschaft bei. Der Klassenraum wird als Interaktionsraum mit spezifischer, durch institutionell sanktionierte Zuordnung spezifizierte Partnerauswahl genutzt, die spezifische Klassenzusammensetzung dabei akzeptiert und in Gemeinschaft überführt.

Insbesondere gilt dies für die im ersten Beispiel erkennbare Form. Es handelt sich, wie aus anderen Beobachtungen (z.B. auf dem Pausenhof) erkennbar ist, bei diesen sieben Kindern keineswegs um eine „echte“, über längere Zeit stabile Peergroup. Den Beobachtungen zufolge sind Peergroups in diesen Klassen meist monogeschlechtlich und häufig auch ethnisch geprägt, nämlich nur aus deutschen Kindern oder nur aus Kindern zwar verschiedener, aber allesamt nicht-deutscher Herkunft zusammengesetzt und entsprechend dichotom orientiert. Umso bemerkenswerter ist die Interaktionsform des ersten Beispiels. Hier gehen sieben Kinder, also mehr als ein Viertel der Klasse, und zwar (fünf) Mädchen und (zwei) Jungen, (fünf) deutsche und (zwei) Migrantenkinder im Klassenraum aufeinander zu, finden zueinander und bleiben zumindest eine Zeit lang zusammen. So konstitutiert sich Klassengemeinschaft, besser gesagt: eine Gemeinschaft, die nicht die Option ethnischer und geschlechtlicher Dichotomie aufgreift, sondern die Option, die schulorganisatorische Zuordnung ethnisch und geschlechtlich verschiedener Kinder zu ein und derselben Klasse in integrative Peer-Praxis umzusetzen.

Klar ist, dass der Tisch bei diesen Interaktionen – ähnlich wie der Esstisch in der Familie (siehe oben das Kapitel von Kathrin Audehm und Jörg Zirfas) als Requisit dient, das das räumliche Verhältnis der Beteiligten in eine kommunikationsdienliche Nahdistanz bringt und dort fixiert. Ob solche Interaktionen angesichts ihrer alltäglichen Wiederholung als Ritualisierungen bezeichnet werden können, bleibt hingegen offen. Je deutlicher die Beteiligten in ihrem Tun auf die besondere kommunikationsstiftende Bedeutung des Tisches hinweisen, ihn vom profanen Mobiliar zum heiligen Symbol der kommunikativen Verbindung aufladen, desto eher wird man die Interaktionen der Kinder als Ritualisierungen bezeichnen.

Literaturangabe:

Audehm, K./Zirfas, J.: Familie als ritueller Lebensraum. In: Wulf, Christoph (Hrsg.): Das Soziale als Ritual. Zur performativen Bildung von Gemeinschaften. Leske + Budrich 2001 (jetzt VS-Verlag), S. 37-114.

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