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Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

1. Interview Rainer 2. Passage (Noten, Leistungen: Orig.: S. 9 38-S. 10 35)

I: (lacht) hm . hm du hast erzählt am anfang du es warn dann eigentlich so alle tage so perfekt oder toll ne und dann haste aber so auch zwei drei tage . da da war die äh da haste geheult oder da war da wars nich so schön .
R: na geheult einfach n bisschen weil das hätt ich aber wirklich besser machen können also . das eine mal das war in mathe da war da hatte ich in der einen arbeit ne zwei geschrieben . ich hatt ja vorhin schon gesagt es ist im grunde meine schlechteste zensur //hmm// in mathe das verhalten zählt jetzt nich dazu ich weiß nich ob ich je . ne schlechtere note in verhalten hatte als ne zwei in mathe ähm wir schreiben jedes jahr oder dritte und vierte klasse //hm// so ne . ähm . ä arbeit von land sachsenanhalt von m.-stadt //hm// äh . ne- ne ververgleichsarbeit (langsam gesprochen) //ach// um zu sehen wie sind die leistungen der schüler sind die angangemessen //hmm// und in deutsch hat ich da ne eins //hm// ähm auch mit null fehlern //hm// und mathe hat ich halt ne zwei //hmm// was bei mir hochinteressant ist . ich sag mal in achtzig prozent (betont) meiner arbeiten in mathe hat ich immer ne eins //hm// es gab aber nochaber in null prozent (betont) meiner arbeiten in denen ich eine eins hatte . hat ich null fehler //heh// es ist bei mir so ich hab immer einen schussligkeitsfehler mal da nich unterstrichen mal da die aufgabe falsch also ein oder n halben punkt war immer weg hat . meinetwegen von feinundfünfzig möglichen punkten mal nur fünfzig n halb//hmm// vielleicht immer noch die beste eins die es in der klasse gibt aber keine vollen punkte //hmm// . jaa und daher wars dann so ähm . wir warn mal essen und meine eltern ham dann grad so über arbeit gesprochen ich kann da ja sowieso nich mitreden //(lacht)// was die für ne arbeit machen ich kenn die namen nich mal //aha// ich weiß zwar was die machen aber . ich weiß also . irgendwelchen chemiestandorten oder so was da . //aha// keine ahnung ke- da kenne ich mich jetzt nich so gut aus . ähm halt über arbeit geredet ich bin am tisch eingenickt dort . da warn mer in der gaststätte essen nach essen ich nach rrr (schnarchgeräusch) eingenickt //ja// und unglücklicherweise . erst halb zwölf ins bett gekommen //hmm// nächsten tag erste stunde arbeit geschrieben so rrr (schnarchgeräusch) . ja äh das hat ich halt ne zwei also . und in beiden arbeiten war der durchschnitt eins komma acht //hm// also wirklich gute zwei .. jaa aber ich denke aber ich bekomme in mathe auch noch ne eins . was doof is in den letzten anderthalb wochen muss man sich noch mal gut benehmen , alle zensuren sind fertig //hmm// aber handelt man sich jetzt noch mal n paar sechsen ein da kann man meinetwegen von ner eins auf die zwei runterrutschen //hmm// wenn nich sogar auf de drei ..

Thematische Struktur

OT: S. 9 38-S. 10 27 Ärgerliche Zensur

S. 9 38-44 UT: Frage, ein bisschen geheult, hätte ich besser machen können

S. 9 44-S. 10 27 UT es war eine Zwei in der Vergleichsarbeit Mathe

S. 9 42-44 UUT heulen, hätte etwas besser machen können

S. 9 44-50 UUT nie schlechter als Zwei

S. 9 50-S. 10 3 UUT Vergleichsarbeiten Sachsen-Anhalt

S. 10 3-4 UUT in Deutsch eine Eins

S. 10 4-15 UUT mache immer Schusseligkeitsfehler

S. 10 15-26 UUT mit den Eltern zu lang beim Geschäftsessen

S. 10 26-27 Abschlusskoda die Zwei in Mathe

OT: S. 10 28-51 Zeugnisnoten

S. 10 28-30 UT ich denke ich bekomme noch die Eins

S. 10 30-35 UT muss sich noch gut benehmen

Formulierende Interpretation „Rainer“ (Noten, Leistungen)

OT: S. 9 38-S. 10 27 Ärgerliche Zensur

S. 9 38-44 UT: Frage, ein bisschen geheult, hätte ich besser machen können

Der Interviewer bezieht sich auf den Anfang des Interviews und darauf, dass für Rainer eigentlich alle Tage in der Grundschule perfekt oder toll waren. Rainer hat aber auch gesagt, dass es zwei bis drei Tage gab, die nicht so schön waren oder an denen er geheult hat.

S. 9 44-S. 10 27 UT es war eine Zwei in der Vergleichsarbeit Mathe

S. 9 42-44 UUT heulen, hätte etwas besser machen können

Ich hab ein bisschen geweint, da ich das wirklich besser hätte machen können.

S. 9 44-50 UUT nie schlechter als Zwei

Einmal war es in Mathe, da habe ich in der Arbeit eine Zwei geschrieben. Wie ich es schon erzählte, war das im Prinzip meine schlechteste Zensur in Mathe. Das Verhalten in Mathe zählt dabei nicht dazu, ich weiß nicht, ob ich da je eine schlechtere Note als eine Zwei hatte.

S. 9 50-S. 10 3 UUT Vergleichsarbeiten Sachsen-Anhalt

Wir schreiben in der dritten und vierten Klasse eine vom Land Sachsen-Anhalt aus M.-Stadt vorgegebene Vergleichsarbeit, damit man überprüfen kann, wie angemessen die Leistungen der Schüler sind.

S. 10 3-4 UUT in Deutsch eine Eins; Mathe eine Zwei

In Deutsch hat ich da mit null Fehlern eine Eins, in Mathe eine Zwei.

S. 10 4-15 UUT mache immer Schusseligkeitsfehler

Bei mir ist wirklich richtig spannend und interessant, dass ich in 80% meiner Mathearbeiten die Note Eins erreiche, aber in null Prozent dieser Arbeiten null Fehler hatte. Ich habe stets einen Flüchtigkeitsfehler in meinen Arbeiten, wie zum Beispiel an einer Stelle nicht unterstrichen oder woanders eine Aufgabe falsch. Ein halber Punkt war da immer weg, von mir aus das Beispiel, dass von einundfünfzig Punkten, ich fünfzig und einen halben erreiche. Möglicherweise ist es dann immer noch die beste Eins in der Klasse, aber nie mit der vollen Punktzahl.

S. 10 15-26 UUT mit den Eltern zu lang beim Geschäftsessen

Und so war es dann, dass meine Eltern und ich mal Essen waren. Die haben da über die Arbeit gesprochen, wo ich ohnehin nicht mit diskutieren kann. Ich weiß zwar, was die machen und dass die mit irgendwelchen Chemiestandorten zu tun haben, doch ich kenne die Namen nicht mal und kenne mich nicht so gut aus. Sie haben eben über die Arbeit gesprochen und ich bin bei diesem Essen in der Gaststätte am Tisch eingeschlafen und unglücklicherweise erst halb zwölf in mein Bett gekommen.

S. 10 26-27 Abschlusskoda die Zwei in Mathe

Am nächsten Tag haben wir in der ersten Stunde eine Arbeit geschrieben. Ich war sehr müde und ja, so hatte ich eine Zwei.

OT: S. 10 28-51 Zeugnisnoten

S. 10 28-30 UT ich denke ich bekomme noch die Eins

In den beiden Arbeiten lag der Durchschnitt bei Eins Komma Acht, wirklich eine gute Zwei. Jedoch denke ich, dass ich noch eine Eins in Mathe erhalte.

S. 10 30-35 UT muss sich noch gut benehmen

Ich halte es für unsinnig, dass man sich in den letzten Wochen gut benehmen muss. Alle Zensuren stehen schon, handelt man sich jetzt aber ein paar Sechsen ein, dann kann man von mir aus von einer Eins auf eine Zwei oder gar Drei runterrutschen.

Reflektierende Interpretation „Rainer“ (Noten, Leistungen)

OT: S. 9 38-S. 10 27 Ärgerliche Zensur

S. 9 38-44 UT: Proposition durch den I: Frage, ein bisschen geheult, hätte ich besser machen können

I: (lacht) hm . hm du hast erzählt am anfang du es warn dann eigentlich so alle tage so perfekt oder toll ne und dann haste aber so auch zwei drei tage . da da war die äh da haste geheult oder da war da wars nich so schön .

Der Interviewer greift in seiner Themeneinführung zwei bereits von Rainer eröffnete Themen auf, dass die Grundschulzeit „eigentlich perfekt“ war, aber es auch ein paar Tage gab, wo er geweint hat. Damit zielt der Interviewer mit seiner Frage auf die Spannung der Bilanzierung einer idealen Grundschulzeit einerseits und der schlechten Ausnahmen andererseits. Dies verweist darauf, dass Rainer insgesamt viele schöne, positive Tage in seiner Grundschulzeit erlebt hat, jedoch es auch (Extrem- oder) Einzelsituationen gab, wo er ebenfalls emotional sehr betroffen war.(1) Diese erklärungsbedürftige Diskrepanz- oder Kontrasterfahrung des „eigentlich“ Perfekten wird vom Interviewer hinterfragt. Der Ausdruck des Perfekten bezieht sich dabei auf ein Ideal, welches sehr funktional gebraucht wird und auf eine technische Erwartung oder Anspruch hinweist.

S. 9 44-S. 10 27 UT Proposition: es war eine Zwei in der Vergleichsarbeit Mathe

S. 9 42-44 UUT heulen, hätte etwas besser machen können

R: na geheult einfach n bisschen weil das hätt ich aber wirklich besser machen können

Ohne dass eine Frage oder Aufforderung vom Interviewer formuliert wurde, schließt Rainer direkt an die Ausführungen des Interviewers an. Dieser direkte Anschluss verweist auf eine unproblematische Erinnerung an konkrete Ereignisse dieser Kontrasterfahrungen. Das Weinen wird mit „ein bisschen geweint“ abgemildert und im Anschluss gleich eine Begründung für das Weinen eingeführt, nämlich die, dass er geweint hat, weil er unter seinen Möglichkeiten geblieben ist und einen eigenen Anspruch bezüglich der Leistungserbringung verfehlt hat „hätt ich aber wirklich besser machen können“. Vor dem Hintergrund seines Alters deutet das auf einen sehr selbstreflexiven und selbstkritischen Jungen, der seine eigenen Leistungen einschätzen kann. Hierin dokumentiert sich aber auch, dass die ideale Welt der Grundschule dann bricht, wenn er selbst an eigenen Erwartungen scheitert, die optimalen Leistungen nicht erbringt und vorhandene Ressourcen (Begabungen) nicht ausnutzt. Rainer formuliert damit einen technischen Anspruch an das eigene Selbst.
In Hinblick auf Leistungserwartungen in der Schule zeigt sich folglich ein Orientierungsrahmen, eines erfolgsorientierten Charakters, der von sich selbst immer das möglichst Beste verlangt, um den eigenen Erwartungen zu genügen. Da die unausgeschöpften Ressourcen artikuliert werden, ist dieser Satz als Hinweis darauf zu lesen, dass die Leistungserbringung nicht ausschließlich mit dem objektiven Klassifikationssystem gemessen werden, sondern mit den eigenen Erwartungen an die Leistungserfüllung in Zusammenhang gebracht wird. Damit formuliert Rainer einen negativen Gegenhorizont, der darin besteht, nicht alles für gute Leistungen zu mobilisieren. Der positive Horizont spannt sich daran auf, alle Möglichkeiten auszunutzen und ideale, perfekte Leistungen zu erbringen. So dokumentiert sich darin eine optimale Schulkompatibilität in Bezug auf Leistungen, da der Druck für Leistungen und das Beste rauszuholen bei Rainer inhärent ist. Er hat ein hohes Anspruchsniveau. Das verweist darauf, dass Rainer ein Schüler ist, der bezogen auf Leistungsmotivation und -anreize keinen Lehrer benötigt. Er ist sein eigener Lehrer.(2)

S. 9 44-50 UUT Anschlussprop. in Form einer Exemplifizierung: nie schlechter als Zwei

R: also . das eine mal das war in mathe da war da hatte ich in der einen arbeit ne zwei geschrieben . ich hatt ja vorhin schon gesagt es ist im grunde meine schlechteste zensur //hmm// in mathe das verhalten zählt jetzt nich dazu ich weiß nich ob ich je . ne schlechtere note in verhalten hatte als ne zwei in mathe

Für den negativen Gegenhorizont, nicht alles für eine gute Leistung erbracht zu haben, wird eine Beispielgeschichte eingeführt „das eine mal“. Die Zwei in Mathematik belegt dabei die Diskrepanzerfahrung der eigentlich perfekten Grundschulzeit und damit auch die Orientierung auf das Bestmöglichste. Eine Zwei, die nach der objektiven Klassifizierung nach der Eins kommt und bei einer Notenskala von Eins bis Sechs als gut übersetzt werden kann, als schlechteste Note einzuführen, deutet auf eine hohe Orientierung auf die Eins und auf ein Scheitern nach der subjektiven Bewertungsskala von Rainer (Einmaligkeit der Zwei). Eine Zwei als schlechteste Note in Mathe und als Scheitern einzuführen, dokumentiert dabei, dass es sich in der subjektiven Deutung von Rainer um ein Scheitern auf hohem Niveau handelt, und für ihn ein großer Teil der Notenskala nicht existiert. Die Notenskala in Mathe besteht für ihn nur aus Einsen und Zweien. Wenn die Matheleistung in Gefahr ist, dann am ehesten durch eine Verhaltenszensur, was die Bedeutsamkeit des Mathefachs verstärkt.(3) Für das subjektive und individuelle Versagen wird keine Begründung angeführt. Er macht sich so nicht von fremden, sondern von eigenen Ansprüchen abhängig, da die von außen herangetragene Klassifizierung eine bedingte Geltung hat und die eigene Bewertungsfolie (der Fähigkeiten und Fertigkeiten) viel höher gewertet wird. Auf der anderen Seite weist diese Stelle und die Einführung einer Note auf die Bedeutung der Leistungsmessung im Sinne universeller Anerkennung für Rainer hin. Rainer ist im höchsten Maße auf ein Perfektionsideal aus, welches durch gesellschaftliche Anerkennung (objektives System der Gratifikation oder Anerkennung der Schule) geklammert ist. Damit dokumentiert sich eine Akzeptanz der Notenbewertung und des Systems der Selektion (Selektionskompatibilität). Neben dieser schulischen Selektion (fremd, objektiv) existiert bei Rainer ein weiter Horizont der Selbstselektion. „Etwas besser zu machen“ bezogen auf Eins oder Zwei deutet auf ein Leiden („das Weinen“) am individuellen Versagen, welches eine Perversion ist. Im Kern verweist dies auf ein Elitedenken: das Beste ist gerade gut genug.

S. 9 50-S. 10 3 UUT Elaboration: Vergleichsarbeiten Sachsen-Anhalt

R: ähm wir schreiben jedes jahr oder dritte und vierte klasse //hm// so ne . ähm . ä arbeit von land sachsen- anhalt von m.-stadt //hm// äh . ne- ne ver- vergleichsarbeit (langsam gesprochen) //ach// um zu sehen wie sind die leistungen der schüler sind die ang- angemessen //hmm//

Die Einführung von Vergleichsarbeiten mit Ort, Land, Sinn und dem Zweck weisen darauf, dass Rainer Zugang zu solchen Informationen hat, sich diese einholt und sich somit als ein „Bildungsexperte“ präsentiert. Die Einführung des Themas Vergleichsarbeiten im Zusammenhang des Weinens deutet darauf, dass es sich um eine für Rainer besonders herausgehobene Bewährungssituation handelt. Vor dem Hintergrund des Begabungsselbst in Mathematik steht dieser Test für einen landesweiten Vergleichswettbewerb, der über die Schule hinausgeht. Dies ist als ein deutlicher Hinweis zu lesen, dass für ihn Konkurrenzsituationen Bedeutung haben und er nicht ,nur’ in ein individuelles Bezugssystem eingebunden ist, auch wenn dieser Vergleich imaginiert ist und kein Ranking erstellt wird. In diesem konstruierten herausgehobenen Vergleich versagt er aus seinem Blick.

S. 10 3-4 UUT in Deutsch eine Eins

R: und in deutsch hat ich da ne eins //hm// ähm auch mit null fehlern //hm// und mathe hat ich halt ne zwei //hmm//

Hierin dokumentiert sich sein Anspruch eine Eins zu schreiben und darüber hinaus diese Eins mit null Fehlern zu erzielen. Rainer hat einen positiven Gegenhorizont die Eins mit null Fehlern zu erreichen, was auf eine Orientierung auf die „perfekte Eins“ verweist. Dies zeigt die Differenz in der Eins, die Rainer hiermit einzieht. Es gibt demnach ein breites Spektrum von Einsen für Rainer. In Deutsch hat er demnach brilliert und in Mathe enttäuscht, was die Bewährungsdramatik ausdrückt. Diese Stelle verdeutlicht auch noch mal die hohe Wertigkeit von Mathematik und den Belastungsdruck, die besten Leistungen zu erreichen, welcher bei Scheitern, Weinen auslösen kann.

S. 10 4-15 UUT mache immer Schusseligkeitsfehler

R: was bei mir hochinteressant ist . ich sag mal in achtzig prozent (betont) meiner arbeiten in mathe hat ich immer ne eins //hm// es gab aber noch- aber in null prozent(betont) meiner arbeiten in denen ich eine eins hatte . hat ich null fehler //heh// es ist bei mir so ich hab immer einen schussligkeitsfehler mal da nich unterstrichen mal da die aufgabe falsch also ein oder n halben punkt war immer weg hat . meinetwegen von f- einundfünfzig möglichen punkten mal nur fünfzig n halb //hmm// vielleicht immer noch die beste eins die es in der klasse gibt aber keine vollen punkte //hmm// .

Die Einführung „was bei mir hochinteressant ist“ ist eine Lerndiagnose aus einer distanzierten Selbstbeobachtung. Er ist damit nicht nur sein eigener Lehrer, sondern auch ein Analytiker, Doktor oder Wissenschaftler, der sich selbst beobachtet und Freude an der Erstellung von Symptomen o.a. hat. Die rationale Erklärungsseite ist dabei Ausdruck der anderen, konkreten, emotionalen Seite der Betroffenheit des Weinens. Dies verdeutlicht sich auch in der Aufstellung der These in Prozentzahlen. Der Hinweis, aufgrund von Schusseligkeitsfehlern, Einsen nicht mit der vollen Punktzahl zu erreichen, verweist auf eine Bedeutsamkeit für Rainer („von einundfünfzig Punkten mal nur fünfzig ein halb“), wie man die Eins erreicht. Es reicht nicht der Beste zu sein, er hat den Anspruch die volle Punktzahl und eine „perfekte“ Eins zu erreichen. Gerade im „aber“ dokumentiert sich, dass er der Beste sein will und er ein Perfektionsideal hat. Darüber hinaus zeigt sich auch, dass er so was wie Statistiken führen muss, um solche Einschätzungen treffen zu können. Demnach gibt es ein breites, ausdifferenziertes Spektrum von Einsen (wie bei Eskimos 50 Namen für Schnee), auch z.B. unvollkommene Einsen. Die Attribuierung der Schusseligkeit ist eine, die dokumentiert, dass es nicht um Fähigkeiten oder Begabungen geht, sondern um Konzentrationsmängel auf hohem Niveau. Die Statistik und die Attribuierung von Schusseligkeit sind Bewältigungs- und Bearbeitungsformen von Rainer, wenn seine Orientierungen in der Schule nicht umzusetzen sind.

S. 10 15-26 UUT mit den Eltern zu lang beim Geschäftsessen

R: jaa und daher wars dann so ähm . wir warn mal essen und meine eltern ham dann grad so über arbeit gesprochen ich kann da ja sowieso nich mitreden //(lacht)// was die für ne arbeit machen ich kenn die namen nich mal //aha// ich weiß zwar was die machen aber . ich weiß also . irgendwelchen chemiestandorten oder so was da . //aha// keine ahnung ke- da kenne ich mich jetzt nich so gut aus . ähm halt über arbeit geredet ich bin am tisch eingenickt dort . da warn mer in der gaststätte essen nach essen ich nach rrr (schnarchgeräusch) eingenickt //ja// und unglücklicherweise . erst halb zwölf ins bett gekommen //hmm//

Nach der Beleggeschichte für die Ausnahmesituationen des Weinens in der Grundschulzeit, wird eine Begründungsgeschichte für diese aus seiner Sicht inakzeptablen Leistung und die Ausnahme des Regelfalls von Einsen in Mathe eingeführt. Dabei geht es um eine Begründung, die auf der Ebene von familiären Umständen und nicht auf die des Fähigkeitsselbst liegt. Mit „wir warn mal essen“ leitet er, im Vergleich zur Ausnahme der schlechtesten Note und ihrer subjektiven Dramatik, ein eher alltägliches, beiläufiges Geschehen in der Familie ein. Die besondere Rahmung erhält das Essen, durch die der beruflichen Bedeutung für die Eltern, wo er „eh nicht mitreden“ kann und er in der Erzählung eher diffus wird: „keine Ahnung“, „irgendwelche Chemiestandorte“. Die fehlenden Partizipationsmöglichkeiten deuten auf die geringe Relevanz des Essens für Rainer. Die Einführung der Geschichte macht Sinn, wenn man sich den Horizont der Konsequenzen dieses Essens, zu spät ins Bett kommen, am nächsten Tag übermüdet zu sein und Aufmerksamkeitsschwierigkeiten zu haben, vor Augen führt. Damit dokumentiert sich eine implizit an die Eltern gerichtete Kritik, aufgrund des geschäftlichen Essens eine aus seiner Sicht schlechte Note geschrieben zu haben. In Bezug auf Attribuierung ist das damit keine Infragestellung seiner Fähigkeiten, sondern eine entlastende Konstruktion. Es kommt weder eine direkte Kritik an das Vorgehen der Familie noch eine selbstbezügliche zum Ausdruck. Die Familie muss folglich eine Instanz mit einer gewisser Stellung und Unantastbarkeitsmomenten sein (er hätte ja nicht mitgehen müssen). Deutet auch darauf, dass er auf direktem Wege seine Eltern in der Öffentlichkeit nicht kritisiert.

S. 10 26-27 Abschlusskoda die Zwei in Mathe

R: nächsten tag erste stunde arbeit geschrieben so rrr (schnarchgeräusch) . ja äh das hat ich halt ne zwei also . und in beiden arbeiten war der durchschnitt eins komma acht //hm// also wirklich gute zwei ..

Das Aufgreifen des Durchschnitts der Vergleichsarbeiten als Dokument, verweist darauf, die „schlechte“ Zwei zu bearbeiten. Da er mit einer Eins und mit einer Zwei immer noch unter dem Durchschnitt von 1,8 liegt.

OT: S. 10 28-51 Zeugnisnoten

S. 10 28-30 UT ich denke ich bekomme noch die Eins

R: jaa aber ich denke aber ich bekomme in mathe auch noch ne eins .

S. 10 30-35 UT Proposition: muss sich noch gut benehmen

R. was doof is in den letzten anderthalb wochen muss man sich noch mal gut benehmen , alle zensuren sind fertig //hmm// aber handelt man sich jetzt noch mal n paar sechsen ein da kann man meinetwegen von ner eins auf die zwei runterrutschen //hmm// wenn nich sogar auf de drei ..

Rainer führt über die Mathenoten ein neues Thema „Sozialverhalten“ ein. In dem artikulierten Zwang, sich in den letzten Tagen gut benehmen zu müssen, dokumentiert sich, dass er zwar ein herausragender, aber kein angepasster Schüler ist.(4) Damit wird die Erzählung zu einem konstruierten, fiktionalen Restrisiko der Notenvergabe, welches nicht notwendig wäre, da er ja eigentlich nur Einsen produziert. Vor dem weiteren Hintergrund, dass die Noten fertig und somit in den Klassenkonferenzen legitimiert worden sind, es also nur marginale Möglichkeiten für die Lehrer gibt, etwas zu verändern (das wäre ein Lehrer, der kurz vor dem Zeugnis über das Sozialverhalten einen Schüler eine reindrücken möchte), entwirft sich Rainer hier als ein Schüler, der die bestmöglichste Eins erreichen möchte, aber kein angepasster Schüler, kein Streber ist. Streber ist so der negative Gegenhorizont vor dem er diese Geschichte einführt.

Orientierungsrahmen: Rainer ist auf bestmöglichste Leistungen in ausgewählten zentralen Kernfächern orientiert. Die Orientierung ist an die eigene Begabung geknüpft.(5)

Fazit und Ausblick: Der Fall „Rainer“ kontrastiert maximal mit „Adam“. In sozialen Vergleichen zählt nur die Eins und dazu ist der individuelle, absolute, exzellente Anspruch formuliert, die perfekte Eins zu erreichen. Diese Orientierung müsste auch bei der Auswahl der weitergehenden Schule relevant sein. Vom Anspruch her müsste Rainer auf die beste Schule der Besten gehen. Der Wechsel in die Latina mit ihren exzellenten Anspruch kann so als ein passförmiger Übergang für Rainer gedeutet werden (Landes- und Europaschule). Hier stellt sich die Frage, wie Rainer dann auf der neuen, weiterführenden Schule zurechtkommen wird, wenn er unter Gleichen verstärkt Bewährungsproben ausgesetzt ist und das Schreiben der besten Arbeiten im sozialen Vergleich nicht gelingt (wie z.B. in der Landesvergleichsarbeit).
Anders formuliert: Rainer besitzt eine passförmige Schülerorientierung auf exzellente Leistungen, jedoch stellt sich die Frage, wie er das mögliche Scheitern im sozialen Bereich und gegenüber den eigenen individuellen Ansprüchen (des Begabungs- und Exzellenzentwurfs) bewältigt. Eine mögliche Krise bei fortgesetzten schulischen, individuellen Scheitern wäre denkbar, weil dann der Selbstentwurf angegriffen werden würde und ein neuer zu entwerfen wäre. Eine weitere Anschlussfrage ist die, wie Rainer mit gehäuften individuellen Scheitern, gerade vor dem Hintergrund seiner Selbstreflexivität, zurechtkommt.

Fußnoten:

(1) Vor dem empirischen Vergleichshorizont „Adam“ bei dem die positiven Tage oder Hilfen die Ausnahme bildeten, liegt mit Rainer ein umgekehrter Fall vor, bei dem die positiven Tage und Erfahrungen in der Bilanzierung der Grundschulzeit dominieren und negative die Ausnahmen darstellen.

(2) Es besteht die Gefahr, dass Rainer diese Orientierungsstrukturen (Rollenstruktur: Lehrer nicht brauchen und Lehrer in die Rolle fahren) überzieht, wie die Stelle der Demütigung am Anfang oder die Stelle mit dem Klebeband belegen.

(3) Wie sich an anderen Passagen im Interviewtext belegen lässt (Dreien oder Vieren in Werken, Sport oder Musik nicht so relevant), sind für Rainer gute, exzellente Leistungen nicht über alle Lebensbereiche hinweg von Bedeutung, sondern vor allem in hoch besetzten Fächern (Mathe, Deutsch, Geo). Das verweist auf eine uralte Differenz zwischen Kopf- und Handarbeit und einen über Interessen figurierten Orientierungsrahmen Rainers.

(4) Noten sind mit Statuserhalt verbunden und erfordern ein Kalkül der Anpassungsbereitschaft.

(5) Rainers Orientierungsrahmen kann damit Strategien verhindern, eigene Leistungen zu trainieren oder zu steigern.

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