Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

1. G-Klasse: Umgang mit Partizipation

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Das zweite Protokoll einer Videoaufnahme1 stammt ebenfalls aus einer KoKoKo Stunde2, hier in der G-Klasse. Auch in der G-Klasse werden gleich in der zweiten KoKoKo-Stunde Regeln erstellt und so das Schuljahr prominent mit einem partizipationsorientierten Thema begonnen. Dazu erstellt Frau Kottwitz zusammen mit den Kindern einen Umgehensvertrag; zuerst werden Vorschläge gesammelt:

„Frau Kottwitz fragt, welche Regeln für KoKoKo, für Deutsch in den Stunden gewünscht würden. ,Was ist euch, mir, uns wichtig. Ich habe Sachen, die mir schrecklich wichtig sind, aber ihr dürft anfangen’.
Michiki beginnt und erklärt, sie möchte, dass niemand dazwischen redet, wenn sie spricht. Doro: ,nicht laut sein, wenn keine Pause ist’. Brigitte: ,nicht schlagen’. Horst ,Regeln einhalten’. Er schiebt gleich hinterher ,war ein Scherz’. Die Lehrerin geht aber auf dieses Zurücknehmen nicht ein, sondern hatte bisher auf die rechte Seite an die Tafel schon geschrieben ,nicht dazwischen reden, nicht laut sein, nicht schlagen’ und beginnt jetzt eine Spalte auf der linken Seite mit ,Regeln einhalten’. Sie fragt, warum sie das auf die andere Seite schreiben würde. Eine Schülerin erklärt, dass es einmal um Dinge geht, die negativ sind, die man nicht machen solle, einmal um Dinge, die positiv sind, die man machen solle. Das ist richtig.“3

Die Lehrerin fragt die Kinder nach eigenen Regelvorschlägen, allerdings äußert sie ebenfalls sofort, dass sie selber Regeln hat, die ihr sehr wichtig sind. Einige Schülerinnen nennen dann vor allem unterrichtsbezogene Wünsche. Horst nutzt die Gelegenheit für die Bemerkung, dass die Regel „Regeln einhalten“ gelten solle. Dies markiert er sofort als Scherz und nimmt damit seine Äußerung zurück, obwohl sie durchaus einen sinnvollen Gehalt hat, da Regeln ohne verbindlichen Charakter keinen Effekt haben. Vermutlich ist die Relativierung seiner Aussage dem Umstand geschuldet, dass er davon ausgeht, dass die Lehrerin seinen Beitrag für unangemessen hält. Frau Kottwitz greift alle genannten Aspekte auf, systematisiert die Nennungen an der Tafel und fragt die Schülerinnen und Schüler dann nach einer Erklärung für ihre Systematisierung. Die Kinder erkennen richtig, dass die Lehrerin in Ge- und Verbote unterteilt hat, die Möglichkeit jedoch, eine eigene Ordnung in die Begriffe zu bringen, wird ihnen nicht eingeräumt. Die Lehrerin fährt dann mit dem Unterrichtsgespräch fort:

„Daniel bringt die Pausenordnung ein, die Frau Kottwitz aber nicht anschreibt, weil es ihr um andere Regeln geht als die Hausordnung.
Michiki bringt ein, dass man nicht so sitzen solle, als ob man desinteressiert sei, so dass der andere denkt, man höre nicht zu. Die Lehrerin übersetzt das in Feedback geben. […] Ferdinand, Michael und Alice melden sich. Alice kommt dran: Wenn man die anderen alles machen lässt. […] Horst hatte wohl ein ,aber’ eingeworfen, die Lehrerin fragt nach, aber Horst erklärt, es hätte sich erübrigt. Elisa: ,nicht andere hänseln’. Drei Mädchen melden sich. Daniela und Fabienne sagen etwas. Sabrina: ,Nicht ablenken’. Die Lehrerin sagt, das gehöre alles zu Rücksicht. Rike sagt: ,Nicht Erfolg mies machen’. Ferdinand: ,Offen und ehrlich sein’. Felix: ,Eigene Meinung haben und sagen’. […]
Fabienne meint, man solle helfen, allerdings nur, wenn es um was Gutes ginge, also nicht z.B. jemand anderen zu schlagen. Es gibt dazu noch einige Kommentare. Horst fasst es zusammen mit ,neutrale Meinung’. Es geht weiter in der Liste der Regeln. Daniela sagt: ,Nicht angeben’. Doro: ,Fair sein’.“

Das Beispiel dokumentiert, dass einige Schülerinnen und Schüler an der Regelaushandlung engagiert mit eigenen Vorschlägen beteiligt sind. Dabei zeigt sich, dass es nach Geschlecht unterschiedliche Formen der Interessensformulierung geben kann. Die Schülerinnen antworten überwiegend im Sinne der gestellten Aufgabe, sie verwenden meist negative Formulierungen und Verhaltenseinschränkungen wie „nicht ablenken“. Bei den Jungen findet sich eine breite Antwortpalette. Von ihren insgesamt acht Beiträgen ist nur einer („niemand beleidigen“) negativ formuliert. Erstaunlicherweise sind gerade jene Jungen an der Regelaushandlung beteiligt, die normalerweise häufig durch Regelverletzungen auffallen. So beteiligt sich Felix, der von seinen Lehrkräften in Interviews, die im Rahmen der Studie durchgeführt wurden, als „schwieriger Schüler“ geschildert wird, gleich mit den zwei Vorschlägen „Teamgeist“ und „Eigene Meinung“. Auch in der ebenfalls untersuchten parallelen E-Klasse engagieren sich insbesondere jene Schüler mit selbstbewussten Beiträgen an den Regelaushandlungen, die wegen problematischen Verhaltensweisen oft diszipliniert werden und in der Wahrnehmung der Lehrkräfte negativ auffallen. Diese Schüler stehen also Regeln nicht per se ablehnend gegenüber – im Gegenteil, sie nutzen die Chance, ihre Vorstellungen von einem guten Regelwerk einzubringen, allerdings scheitern sie mit ihren Vorschlägen.
Die Beiträge vieler Mädchen sind eher auf die Etablierung eines geschützten Rahmens vor allem im Unterricht orientiert, ihnen geht es vorrangig um eine ruhige Unterrichtsatmosphäre – die Parallelität zur F-Klasse ist nicht zu übersehen. Einige Jungen hingegen schlagen Regeln vor, die Aktivität ermöglichen und zusätzlich über den unterrichtlichen Rahmen hinausweisen. An den Reaktionen von Horst wird jedoch deutlich, dass dieser vermutet, dass Beiträge wie „Regeln einhalten“ oder Widerspruch gegen die Regel „Rücksicht nehmen“ von der Lehrerin kritisch gesehen werden und er sie deswegen zurückzieht, da er in die Position eines Opponenten gegen die Lehrkraft gerät. Zum Ende der Stunde werden dann Grenzen der Regeln diskutiert:

„Michael erklärt, dass Regeln einhalten und offen sein u.U. nicht zusammen gehen könnte. Die Lehrerin stimmt ihm zu und meint, es gäbe Dinge, die leichter zu erfüllen seien und andere, bei denen es schwerer wäre. Sie erklärt dann, dass bestimmte Formen von Beleidigungen auf keinen Fall vorkommen dürften, die Tabu sein müssten. Sie fragt, ob die Schülerinnen und Schüler wüssten, was sie meint. Frau Kottwitz erklärt dann, dass man nicht Körpermerkmale oder Eigenschaften, für die man nicht könne, zum Verspotten nehmen dürfe.“

Die Lehrerin stimmt Michaels Hinweis, dass „Regeln einhalten“ und „offen sein“ unter Umständen nicht zusammen funktioniert, zwar einerseits zu, andererseits schränkt ihr direkt anschließender Verweis auf bestimmte Tabus das „offen sein“ ein, da bestimmte Bereiche wie „Spott“ von vorneherein ausgenommen sind. Problematisch an dieser Einschränkung ist, dass die Absicht, Mitbestimmung zu ermöglichen, dadurch konterkariert wird, da bestimmte Meinungen von vorneherein ausgeklammert bleiben. Die Tabuisierung unterbindet die Möglichkeit, einen eigenen konträren Standpunkt zu beziehen, indem der Aspekt „Regeln einhalten“ stärker gewichtet wird als „offen sein“.
Zu Beginn der nächsten KoKoKo-Stunde schreibt dann Frau Kottwitz fünf Regeln an die Tafel4, sie präsentiert damit – wie zu Beginn der Unterrichtseinheit angekündigt – ihre eigenen Regeln und macht den Widerspruch zwischen Partizipationsmöglichkeiten und Vorgaben selber deutlich. So schließt sich der Kreis zu ihrem Anfangsstatement, in dem sie erklärte, dass sie wichtige Punkte hätte, aber erst einmal die Kinder ihre Vorstellungen äußern dürften. Einige Beiträge, die in der vorherigen Stunde genannt wurden, tauchen nicht auf, obwohl Daniel die Idee von Felix aus der letzten Stunde, eine „eigene Meinung zu haben“, noch einmal vorbringt. Die Lehrerin entgegnet ihm daraufhin „Das ist schwer als Regel: ,Du musst eine eigene Meinung haben’.“5 Sein Vorschlag wird von der Lehrerin mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Regel, eine eigene Meinung haben zu müssen, schwer realisierbar sei. Allerdings hätte sie den Wunsch nach „eigener Meinung“ auch anders interpretieren können, etwa im Sinne der denkbaren und durchaus sinnvollen Regel: „Alle haben das Recht auf eine eigene Meinung“.

In der Zusammenschau wird deutlich, dass die Lehrerin zwar Selbst- und Mitbestimmung anbietet, aber ihre eigenen Regeln durchsetzt, die zusätzlich so allgemein formuliert sind, dass sie im Alltag vermutlich wenig Nutzen haben. Da die abweichenden Ideen einiger SchülerInnen von Frau Kottwitz nicht aufgegriffen bzw. sogar zurückgewiesen werden, lautet die implizite Botschaft, sich an die Vorstellungen der Lehrkräfte von sozialem Verhalten anzupassen. Der Widerspruch Autonomie und Heteronomie wird zugunsten des zweiten Punktes entschieden.
Schaut man auf weitere Beispiele von Partizipation in KoKoKo, so zeigt sich, dass sich die hier dargestellten Blockaden im Laufe des Schuljahres wiederholen. Die Regelaushandlung stellt für die neuen Klassen gleich zu Beginn ihres ersten Schuljahres eine Einsozialisation in die Schulkultur des Gymnasiums „Zimmerbreite“ dar. Ähnliches wiederholt sich beispielsweise in zwei der vier Klassen beim Thema Klassenraumgestaltung, bei der die Kinder zuerst weitreichende Vorschläge erstellen dürfen, die im Schuljahresverlauf nicht wieder aufgegriffen werden. Auch beim Lösen von Konflikten zeigt sich in allen vier Klassen ein ähnliches Muster. Die beiden Protokolle erweisen sich somit als exemplarische Fallbeschreibungen des Umgangs mit Partizipation. Am Ende des Schuljahres formulieren einige der KoKoKo-Lehrkräfte in Interviews Unzufriedenheit, weil sie nicht alle ihre Ziele erreicht hätten (wobei nicht spezifiziert wird, welches die konkreten Ziele waren), allerdings äußern zwei von drei Interviewten die Hoffnung, eine Basis für Demokratielernen gelegt zu haben. In Interviews mit Fachlehrkräften wird weiter deutlich, dass diese eine sehr positive Vorstellung vom sozialen und demokratischen Lernen im KoKoKo-Unterricht haben und häufig auf das Fach verweisen. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass sie dadurch die Verantwortung für Schüler- und Schülerinnenpartizipation an den KoKoKo-Unterricht delegieren und so entlastet davon sind, über Mitbestimmung in ihrem Fachunterricht nachzudenken.
Auch die Kinder ziehen am Schuljahresende kein besonders positives Fazit. In einer ebenfalls durchgeführten Befragung rangiert KoKoKo bei der offenen Frage „Welches sind deine Lieblingsfächer?“ in allen Klassen lediglich im unteren Mittelfeld, häufig wird beklagt, dass es „fade“ war oder sich Konflikte verschärft hätten, die Mitbestimmung wird in ihrer hier praktizierten Form nicht als besonders positiv erwähnt.

2. Fazit

Das Aufstellen von Klassenregeln ist mit der pädagogischen Hoffnung verbunden, ein gemeinsames und verbindliches Wertesystem in der Klasse zu etablieren und Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen. Schaut man allerdings auf die soziale Praxis, wie die Regeln zustande kommen, lassen sich jene Schwierigkeiten exemplarisch zeigen, die zu Beginn des Beitrags angesprochen wurden. Lässt man die Beispielpassagen Revue passieren, zeigt sich als Grundmuster, dass die Lernenden auf die begrenzten Partizipationsmöglichkeiten seitens der Lehrkräfte mit verschiedensten Spielarten von doing student Praktiken antworten. Die durch lehrerliche Autorität legitimierte und zugleich geforderte kontrollierte Selbststeuerung lässt Partizipation als zu bewältigende Unterrichtsaufgabe erscheinen. Für die beteiligten Lehrkräfte ergibt sich der Widerspruch, zwar einerseits Offenheit anzubieten und zu riskieren, dass unliebsame Regelvorschläge und Moralvorstellungen entstehen können, andererseits aber faktisch vor allem ihre eigenen Regeln des sozialen Umgangs durchzusetzen.
Was sich hier abzeichnet, ist ein systemisches Problem. Zieht man zusätzlich die eingangs erwähnten Ergebnisse weiterer Studien heran, kann als Zwischenfazit für den Stand der schulischen Partizipationsforschung festgehalten werden, dass die Symmetrie- und Machtantinomie zwischen Lehrkräften und Schülerinnen und Schülern maßgeblich dazu beiträgt, dass die verordnete Mitbestimmung regelmäßig Momente der Brechung beinhaltet. So verweisen die unterschiedlichen Blickwinkel von Lehrkräften und Lernenden auf die Grenzen von Partizipation. Die hierarchische Struktur relativiert die Chancen auf Mitbestimmung, z.B. eigene Vorstellungen von einem Regelwerk einzubringen, die sich nicht mit den Vorstellungen der Lehrkraft decken. Dementsprechend bestätigt sich, dass die Aushandlungen tatsächlich nicht ergebnisoffen sind, die Partizipationsmöglichkeiten sind von vornherein eingeschränkt. Zusätzlich folgt die Erstellung von Klassenregeln häufig dem herkömmlichen Schema des lehrkraftzentrierten Unterrichtsgesprächs, welches den Effekt, dass die Lernenden ein ähnliches Verhalten zeigen wie auch im Fachunterricht, noch verstärkt.
Und in der Tat, schaut man auf die Reaktionen der Schülerinnen und Schüler, dann wird deutlich, dass diese in unterschiedlicher Weise agieren: aktiv, im Sinne sozialer Erwünschtheit, ironisierend, oppositionell, ablenkend etc.; das Muster ist hier nicht einheitlich. Auffällig ist jedoch, dass in vielen Fällen die Schülerinnen und Schüler einen anderen Blickwinkel auf das soziale und demokratische Lernen haben als erstens die Lehrkräfte selber und zweitens auch einen anderen, als die Lehrkräfte sich für die Kinder erhoffen. Ihr doing student erweist sich als kompetente Praxis, mit der sie die widersprüchliche Erwartungshaltung der Lehrkräfte im KoKoKo-Unterricht erfüllen. Die Kinder fallen nicht aus der Rolle, sondern ermöglichen den Lehrkräften, den Glauben an ihre Partizipationsangebote aufrecht zu erhalten. Wenn auch dem Anspruch nach alternativ, bleibt KoKoKo von Anfang an dem üblichen Setting „Unterricht“ verhaftet. Unter einer gouvernementalitätskritischen Perspektive kann die Regelaushandlung auch als kontrollierte und kontrollierende Aufforderung zur Partizipation und in dieser Weise als Machtechnik verstanden werden, um die Kinder zu einer eigenen Mitarbeit an Regeln zu gewinnen, in denen sie nicht als Gleichberechtigte auftauchen, sondern gemäß ihrer schulischen Position als Lernende mit eingeschränktem Mitspracherecht. Die Regelaushandlungen als Bestandteil von Demokratie-Lernen übergibt den Schülerinnen und Schülern einen Teil der Verantwortung und damit die Aufforderung zur Selbststeuerung und wirkt somit als eine Regierungstechnik des Selbst (vgl. Bröckling/Lemke/Krasmann 2000). Geht es um soziale und demokratische Kompetenzen, verschiebt sich also der Widerspruch zwischen Heteronomie und Autonomie, denn die Heteronomie wird in den Verantwortlichkeitsbereich der Lernenden verlagert. Die problematischen Brechungen resultieren somit daraus, dass die Eigenverantwortlichkeit als Selbststeuerung von den Schülerinnen und Schülern eine hohe (Selbst)Disziplin erwartet. In diesem Sinne werden die gemeinsamen Regeln nachgerade zu einem Disziplinierungsinstrument, da widerspenstige Schülerinnen und Schüler nicht nur gegen die schulische Ordnung, sondern auch gegen die postulierte Gemeinsamkeit („Wir“) und ebenfalls gegen ihnen unterstellten eigenen Interessen („Wohlfühlen“) verstoßen.
Unter dieser Perspektive erweist sich weiter, dass sozialkompetenzorientierte und demokratiepädagogische Projekte und Maßnahmen nicht unbedingt das „positive“, ermöglichende und alternativ-reformpädagogische Gegenteil vom traditionellen und frontalen Fachunterricht sind (vgl. Rabenstein 2007). Die oft hochgehaltene Trennung, nach der sich soziale und fachliche Dimension in der Schule unterscheiden (vgl. z.B. Graumann 2002) wird in Zeiten zunehmender Selbststeuerung tendenziell obsolet. Denn auch unterrichtliche Elemente wie Portfolios, selbstreguliertes Lernen oder Projektunterricht zielen in ihrem Kern ja auf dasselbe Motiv, nämlich auf die Abgabe von Verantwortung an die Lernenden unter Beibehaltung von Kontrolle der Lehrkräfte (vgl. z.B. Häcker 2007; Münte-Goussar 2007). Da die Eigenverantwortlichkeit verordnet ist, besteht die Gefahr, dass der ihr innewohnende Subjektivitätsgrad gering ist. Die zunehmende verordnete Selbstverantwortung im sozialen und demokratischen Lernen sowie im Fachunterricht ist somit auch ein Spiegelbild des Wandels gesellschaftlicher Anforderungen. Nicht nur reformerische Vorstellungen eines selbstbestimmten Lernens, sondern auch das Leitbild des „Unternehmers des Selbst“ steht im Hintergrund Pate. Dadurch erklärt sich auch der hohe Stellenwert, den die gezeigten doing student Praktiken haben können. So wie der Grad zwischen „Dienst nach Vorschrift“ und „Bummelstreik“ ein schmaler ist, so loten einige Schülerinnen und Schüler mit ihren Praktiken den Freiraum aus, der ihnen angesichts der kontrollierten Abgabe von Eigenverantwortlichkeit bleibt, nämlich genau das Unterlaufen der erwarteten Partizipation.
Gerade die Engbindung von KoKoKo an den schulischen Rahmen wird zum Verhängnis, die begrüßenswerten Bemühungen um soziale Regeln von Frau Nitz und Frau Kollwitz könnten in einem anderen Kontext sicherlich effektiver sein. Perspektiven lägen darin, tatsächliche Partizipationsmöglichkeiten einzuräumen und soziales und demokratisches Lernen nicht überwiegend in Simulationen stattfinden zu lassen. Eine Abhilfe könnte hier darin liegen, Methoden aus dem sozialen Lernen konsequent und mit deutlich wahrnehmbarem Bruch zum traditionellen Unterricht einzusetzen, beispielsweise, in dem ein außerschulischer Lernort gewählt wird. Eine andere Möglichkeit ist, mit den Kindern dann Regeln zu erstellen, wenn sich im Alltag die Notwendigkeit ergibt (bspw. bei auftretenden Konflikten) und so den direkten Bezug zu sozialen Situationen zu nutzen. Aufgrund der institutionellen Erwartungen der Schule ist aber auch zu überlegen, inwieweit eine stärkere Forderung an die Lehrkräfte, auch Sozial- und Demokratiekompetenz zu vermitteln, nicht auch eine systemische Überforderung beinhalten kann und hier Kooperationen mit Trägern der außerschulischen Jugendarbeit, die nicht den institutionellen Zwängen der Schule unterliegen, für Kinder wie Lehrkräfte gleichermaßen gewinnbringender ist. Die Lehrkräfte könnten sich stärker darauf konzentrieren, Mitbestimmung dort zu realisieren, wo es naheliegt, nämlich bei der Gestaltung ihres Unterrichts an jenen Punkten, an denen es aus fachlicher und didaktischer Sicht sinnvoll ist; die Projektmethode ist dafür sicherlich eine sinnvolle Methode. Demokratie-Lernen wäre dann kein Extra-Angebot mehr, sondern elementarer Bestandteil der Schulkultur.

Fußnoten:

(1) In dem DFG-Forschungsprojekt „Chancen und Blockaden bei der Realisierung einer geschlechtergerechten Schule“ wurden vier fünfte Klassen in ihrem ersten Jahr an dem für sie neuen Gymnasium „Zimmerbreite“ in einer österreichischen Großstadt drei Monate lang mit ethnographischen Methoden begleitet (im September, im Januar und im Juni) (vgl. Lüders 2003). Alle Klassen wiesen einen höheren Mädchenanteil auf. Beobachtungen wurden vor allem in Deutsch, textilem und technischem Werken, dem schulspezifischen Fach KoKoKo sowie teilweise in Mathematik, Englisch, Sport und Religion durchgeführt.

(2) Engagement im Bereich Partizipation und Mitbestimmung ist ein wichtiger Teil der Schulkultur der „Zimmerbreite“. Dabei stellt der KoKoKo-Unterricht einen wesentlichen Baustein des sozialkompetenzorientierten und demokratiepädagogischen Konzepts dar. KoKoKo steht für Kooperation, Kommunikation und Konfliktlösung und ähnelt dem Klassenrat. Ein wichtiges Anliegen des KoKoKo-Unterrichts ist es, die Kinder an der Gestaltung der Schule zu beteiligen, indem mit ihnen gemeinsam Konflikte bearbeitet, Klassensprecher und -sprecherinnen gewählt oder Feedbackregeln geübt werden. KoKoKo wird jeweils von den Deutschlehrkräften unterrichtet und benotet, was von vielen Lehrkräften als positiv herausgestellt wird, da dies den ernsthaften Charakter unterstreiche.

(3) G050914KKPH, Bedeutung wie oben, P steht für Protokoll, H für die Protokollantin Faulstich-Wieland.

(4) 1. zuhören, mitmachen; 2. nicht spotten/auslachen/beleidigen; 3. Rücksicht, Fairness, Hilfsbereitschaft; 4. keine Gewalt; 5. miteinander, nicht gegeneinander.

(5) A050921KKPB, Bedeutung wie oben, B steht für die Protokollantin Scholand.

Literatur:

Bröckling, U./Lemke, Th./Krasmann, S. (Hrsg.) (2000): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Graumann, O. (2002): Gemeinsamer Unterricht in heterogenen Gruppen. Von lernbehindert bis hochbegabt. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Häcker, T. (2007): Portfolio, ein Entwicklungsinstrument für selbstbestimmtes Lernen. Hohengehren: Schneider.

Münte-Goussar, S. (2007): eLearning 2.0. Selbststeuerung mit Social Software. In: kulturrevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie, 53, H. 2, S. 49-57.

Rabenstein, K. (2007): Das Leitbild des selbstständigen Schülers. Machtpraktiken und Subjektivierungsweisen in der pädagogischen Reformsemantik. In: Rabenstein, K./Reh, S. (Hrsg.): Kooperatives und selbstständiges Arbeiten von Schülern. Zur Qualitätsentwicklung von Unterricht. Wiesbaden: VS, S. 39-60.

Mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift für Pädagogik.
http://www.beltz.de/de/nc/paedagogik/zeitschriften/zeitschrift-fuer-paedagogik.html

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