Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

An Sequenzen aus zwei biografischen In­terviews möchte ich aufzeigen, wie unter­schiedlich Jungen mit demselben Migra­tionsintergrund sich zu ihrer Familie und besonders in Bezug auf ihre Väter positio­nieren und zeigen, dass ihre Einstellungen multifaktoriell begründet sind und sich nicht alleinig durch ihren (zugeschriebe­nen) kulturellen Hintergrund begründen lassen. Die Interviews habe ich 2006 im Rahmen meines Dissertationsprojektes in den Abschlussklassen an zwei norddeut­schen Hauptschulen erhoben. Die Jungen wurden aufgefordert, ihre Lebensgeschich­te zu erzählen; weitgehend frei und ohne eine Vorstrukturierung durch Interviewfra­gen, so dass ihre Schwerpunkte und eigene Sinngebungen in den Selbstpräsentationen gut zum Ausdruck kommen. Die hier vor­gestellten Jungen besuchen dieselbe Klasse, beide sind als Kinder türkischer Einwande­rer in Deutschland geboren.

Wie bei Mehmet (vgl. dazu Fall „Mehmet“) stellt Familie auch in anderen Interviews ein zentrales Thema dar. Vor dem Hintergrund des Alters der Jungen ist eine starke Auseinandersetzung mit familiären Strukturen und mit den Eltern erwartbar. Während bei Mehmet im Zuge dieser adoleszenten Ablöse- und (Neu-)Verortungsprozesse letztlich ein positiver Bezug auf seine Familie, die Eltern und deren Werte vorherrscht, distanziert sich sein Freund Tarik (16 Jahre) von seiner Familie, insbesondere von seinem Vater.

Für Tarik steht die Auseinandersetzung mit der Gewalttätigkeit des Vaters und die Verarbeitung der traumatischen, weil ebenfalls von Gewalt und Verfolgung geprägten, Trennung der Eltern im Vordergrund der biografischen Selbstpräsentation. Tariks Vater taucht in erster Linie als Gewalttäter gegenüber der Mutter und den Geschwistern in der Erzählung auf. Viel stärker als Mehmet hinterfragt Tarik darum die Konzepte von Männlichkeit und Vaterschaft seines Vaters und kontrastiert die eigenen Vorstellungen damit. Dies wird deutlich in der folgenden Sequenz, in der Tarik sein Unverständnis für das Handeln des Vaters zum Ausdruck bringt und betont, selbst als Vater anders agieren zu wollen (zur ausführlichen Darstellung vgl. Huxel 2008):

Distanz zum Vater 

„Dann hat mein Vater nur einmal [Unterhalt] bezahlt, meinte, ich hab keine Lust mehr drauf, ich bezahl nicht. […] Ich finde, er ist mein Vater und macht so was. Er liebt seine Kinder nicht, was ist denn das […] Wenn ich Kinder hätte, ich könnte die nie im Leben im Stich lassen.“

Es wird deutlich, dass Tarik grundsätzlich andere Vorstellungen von Vaterschaft hat als die, die sein Vater ihm vorlebt. Vor dem Hintergrund vorangegangener und nachfolgender Schilderungen väterlicher Gewalt dient die Weigerung des Vaters, seinen finanziellen Verpflichtungen nachzukommen, als Aufhänger, um dessen Versagen festzumachen. Tariks Familie ist bereits zerbrochen und viel mehr als die Sorge um ihr Ansehen steht für Tarik die Verarbeitung seiner und der familiären Gewalterfahrungen im Vordergrund.

Schon die kurzen Einblicke in die biografischen Selbstpräsentationen von Tarik und Mehmet machen die Heterogenität der Faktoren deutlich, die auf das Selbstbild junger Migranten wirken. Sie sind nicht alle einfach an Ehrbegriffen orientierte Machos, sondern sie sind als Jugendliche, Schüler, Bewohner eines bestimmten Stadtteils, Söhne, Freunde, Sportler, Gangmitglieder, Musiker usw. in verschiedene Netzwerke eingebunden und von verschiedenen Strukturen beeinflusst: Nicht zuletzt machen sie unterschiedliche Erfahrungen, die sie unterschiedlich auswerten. Ihre individuellen Biografien und ihre Eingebundenheit in soziale Strukturen beeinflussen sie stärker als (angenommene) kulturelle Dispositionen. Die Lebensgeschichten der Jungen nur mit dem Fokus auf Kulturdifferenz zu betrachten, wird der Komplexität ihrer Selbstdarstellungen nicht gerecht.

Literatur:

Huxel, K. (2008): Männlichkeit kontextualisieren – eine intersektionale Analyse. In: Potts, L./Kühnemund, J. (Hrsg.): Mann wird man. Geschlechtliche Identitäten im Spannungsfeld von Migration und Islam. Bielefeld, S. 65-78.

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