Falldarstellung
Die Kinder sollen in der dritten Schulwoche zu zweit auf dem „leeren Blatt“ (DIN A1) „schreiben“ [1] Sabine hat sich Ina ausgesucht.
Abb. 1: September 1993-Das leere Blatt (Schulanfungsbeobachtung).
Sie sieht das leere Blatt und fängt gleich an zu malen: einen Esel, darüber einen Vogel. Daraus macht sie einen Igel. Sie sieht, wie Ina schreibt, und fragt: „Willst du lernen?“ Sie will „MAMA“ schreiben, notiert „MA“ (Ina hat das ebenfalls geschrieben).
Dann geht sie zur Toilette; später sieht sie den vorbeigehenden Kindern zu.
(10. 9. 1993. Protokoll: Tobias v Stuckrad).
Interpretation
Sabine geht rasch an die Aufgabe heran, aber sie stellt sich ihr nicht eigentlich. Sie „malt“, obwohl sie „schreiben“ soll, und sie artikuliert dazu auch kein Problembewußtsein. Sie wechselt die Bedeutung des Dargestellten, kopiert das vogelähnliche Tier ihrer Mitschülerin und den Teil eines Wortes (MA). Sie verbindet Schrift mit „Lernen“; aber sie hat keine spezifisch inhaltliche Vorstellung von Schrift und Schreiben und geht schnell „aus dem Feld“.
Das „leere Blatt“ ist Teil der Schulanfangsbeobachtung.[2] Sabine „kennt“ keinen der 20 vorgelegten Buchstaben; sie ergänzt keinen der 5 ihr vorgesprochenen Anfänge von „Kinderreimen“ (Ene mene muppe, ich wünsche mir ’ne …). Zum Schluß fragt sie: „Aber ein bißchen geübt hab ich schon, nicht?“ Üben und Lernen, das ist in Sabines Vorstellung das, worum es in der Schule geht. Inhalten ist sie kaum zugänglich. „Sabine nimmt den Unterricht in den ersten Wochen wie durch einen Schleier wahr.“ Sie wird aufmerksam, als der Geburtstag von Ann-Sabin gefeiert wird. „Die heißt auch Sabin; die heißt genau wie ich!“
Das Interesse an den Mitschülern, das sie in den ersten Wochen langsam entwickelt, ist vielleicht erklärbar aus ihrer häuslichen Situation. Sabine hatte keine Kontakte zu Gleichaltrigen, war nicht im Kindergarten, sondern lebte (fast) ausschließlich in der Wohnung.[3]
Fussnoten:
[1] Zur Aufgabenstellung vgl. Dehn 1994, 87-92; sie ist Bestandteil der Schulanfangsbeobachtung, die wir im Rahmen des BLK-Modellversuchs zu Beginn von Klasse 1 1993 durchgeführt haben.
[2] Angela Andersen: Vornamen der Kinder im 1. Schuljahr. Ihre Bedeutung für den Zugang zur Schrift und die Förderung sozialer Kontakte. Staatsarbeit zur Zweiten Lehrerprüfung. Ms. Hamburg 1994, S. 20.
[3] Geringer Bewegungsspielraum, hoher Fernsehkonsum. Vermeiden von Sozialkontakten aus Angst vor schädlichen Einflüssen in der Vorschulzeit – das alles ist sicher nicht lernförderlich (Sabine kann sich bei Schulanfang für den Turnunterricht nicht alleine an- und ausziehen: beim Treppensteigen ist sie noch nach einem halben Jahr auf das Geländer angewiesen); aber es hat den schulischen Lernweg dieses Kindes letztlich nicht bestimmt.
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