Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Bei der Selbstpräsentation einer freien Schule, die der Pädagogik Célestin Freinets folgt, sind zwei Lehrerinnen und acht Schülerinnen und Schüler anwesend, berichten über ihr Schulleben und beantworten Fragen des Publikums. Obwohl die Lehrerinnen betonen, dass die Fragen nicht nur an sie gerichtet werden müssten, sondern dass selbstverständlich auch die Kinder gefragt werden und für sich sprechen könnten, übernehmen recht schnell die Lehrerinnen das Antworten. Darauf reagieren die anwesenden Kinder damit, sich zu melden und ihre Meldungen dauerhaft aufrechtzuerhalten. Die Antworten erfolgen nun nach dem immer gleichen Muster: Nachdem eine der Lehrerinnen geantwortet hat, wendet sie sich den Schülerinnen und Schülern zu und nimmt jeweils eine oder einen von ihnen „dran“, indem sie fragt: „Was willst du sagen?“ Oftmals stellt sie der Frage den Namen des jeweils angesprochenen Kindes voran, manchmal zeigt sie nur auf den entsprechenden Schüler. Einem pädagogischen Selbstverständnis, das sich in der Formel „Den Kindern das Wort geben“ (Freinet) einen Ausdruck verschafft, korrespondiert also ein pädagogisches Handeln, das Kindern mit der Frage „Was willst du sagen?“ das Wort überlässt. Pädagogisches Handeln und pädagogisches Selbstverständnis lassen sich in diesen beiden formelhaften Sätzen zunächst unabhängig voneinander rekonstruieren:

1. Zum pädagogischen Selbstverständnis

Der Freinetsche Grundsatz „Den Kindern das Wort geben“ verweist in seinem manifesten Sinngehalt darauf, dass ein pädagogisches Selbstverständnis es sich zum Programm macht, Kinder zu Wort kommen zu lassen. Diejenigen sollen diesem pädagogischen Verständnis zufolge das Recht haben etwas zu sagen, die gemeinhin nicht zu Wort kommen. Dieses pädagogische Motiv steht im Kontrast zu alltagsweltlichen Beobachtungen von Erwachsenen-Kind-Interaktionen. In diesen Interaktionen besteht das Problem in der Regel nicht darin, dass Kinder nicht zu Wort kommen. Typisch für solche Interaktionen ist vielmehr, dass Kinder sich das Rederecht permanent nehmen (nicht wenige erzieherische Akte wenden sich diesem Phänomen der kindlichen Inbesitznahme von Rederecht zu: das Bestehen auf das Melden im Unterricht, bekannte schulische Formeln wie „Es kann nur einer sprechen“ oder „Wir hören uns wechselseitig zu“ oder die durchaus auch von Eltern gebrauchte Formulierung „Rede doch nicht immer dazwischen“; eine eher antiquierte Form findet sich in dem Sprechakt „Du bist ruhig, wenn sich Erwachsene unterhalten“). Diese und viele andere erzieherische Akte reagieren auf das Phänomen, dass Kinder in der Regel nicht warten, bis sie das Rederecht erteilt bekommen oder bis ein Interaktionspartner ausgesprochen hat. Ein Problem in der Interaktion mit Kindern besteht nicht, wie die Formel „Den Kindern das Wort geben“ suggeriert, darin, dass Kinder nicht zu Wort kommen, sondern muss doch stattdessen darin gesehen werden, dass ihr Wort nichts gilt, kein Gewicht hat, nicht ernst genommen wird. Mit Blick auf dieses Phänomen könnte ein pädagogisches Selbstverständnis es sich zur Aufgabe machen, „Kinder zu Wort kommen zu lassen“, ihnen zuzuhören, ihre Äußerungen und Ansichten ernst zu nehmen, sich ihnen zuzuwenden. Dieses pädagogische Motiv liegt der Formel „Den Kindern das Wort geben“ vermutlich zugrunde, es wird mit ihr jedoch nicht realisiert. Der Freinetsche Grundsatz erklärt seinem Wortlaut zufolge stattdessen die Erteilung von Rederecht zum Programm: „Den Kindern das Wort geben“ reagiert insofern selbst schon erzieherisch auf das Phänomen, dass Kinder sich das Wort häufig nehmen und macht es sich zur Aufgabe, Kindern das Wort zu geben, offenbar, bevor sie es sich selbst nehmen können. Damit wird das für die naturwüchsige Situation typische Phänomen der Inbesitznahme des Rederechts von Kindern pädagogisiert und programmatisch in eine Situation der Verleihung von Rederecht umdefiniert. Die manifest mit diesem pädagogischen Programm in Anspruch genommene Hinwendung zum Kind erweist sich auf der latenten Ebene gerade nicht als ein Akt der pädagogischen Zuwendung, sondern als ein kontrollierender, die kindliche Selbstbestimmung unterlaufender Akt.

Die manifest prätendierte Hinwendung zum Kind wird in der Formel „Den Kindern das Wort geben“ auch insofern konterkariert, als derjenige, der diesem pädagogischen Selbstverständnis folgt, ein Verwalter von Rederecht sein muss. In dieser Eigenschaft hat er es sich zur Aufgabe gemacht, einer Gruppe das Rederecht zu erteilen, die darüber selbst nicht verfügt: den Kindern. Damit unterstellt diese Formel ein hierarchisch-autoritäres Verhältnis von Erwachsenen und Kindern, das als solches durch dieses pädagogische Programm in keiner Weise in Zweifel gezogen oder gar in Frage gestellt wird. Im Gegenteil: Die Erfüllungsbedingung dieses Sprechaktes besteht gerade darin, dass die Erwachsenen (die Pädagogen) das Rederecht besitzen und verwalten. Anders als der manifeste Sinngehalt vermuten lässt, geht es dem sich in dieser Formel Ausdruck verschaffenden pädagogischen Selbstverständnis nun nicht darum, eine Erwachsenen-Kind-Beziehung zu etablieren, die weniger hierarchisch verfasst ist und beide Seiten als gleichberechtigte Interaktionspartner versteht. An einer Hierarchie zwischen Erwachsenen und Kindern wird offenkundig festgehalten. Eine pädagogische Beziehung, in der die Erwachsenen den Kindern das Wort geben ist offensichtlich eine hierarchisch strukturierte; die Rollen sind klar verteilt. In ihrer Eigenschaft als Verwalter des Rederechts haben es sich die sich so verstehenden Pädagogen aber zur Aufgabe gemacht, der Gruppe der Kinder das Rederecht prinzipiell zu erteilen. Auch insofern verweist diese pädagogische Formel nicht darauf, dass Kinder zu Wort kommen sollen, sondern darauf, dass Erwachsene (Pädagogen) das Wort erteilen. Nicht auf die Kinder, sondern auf diesen pädagogischen Akt richtet sich der Fokus des in der gewählten Formel sich ausdrückenden Selbstverständnisses.

Diese Sinnstruktur reproduziert sich in dem eigentümlichen Wortlaut des pädagogischen Programms. Weder wird die kontrastive, explizit auf die in der tatsächlichen Formel nur implizit in Anspruch genommene Hierarchie Bezug nehmende Formulierung „Den Kindern das Wort erteilen“ gewählt, noch findet der mit dem manifesten Sinngehalt eher in Übereinstimmung stehende Sprechakt „Kinder zu Wort kommen lassen“ Verwendung. Stattdessen heißt es: „Den Kindern das Wort geben“. Hier schieben sich zwei Formulierungen, die auf differente Kontexte verweisen, ineinander: „das Wort erteilen“ und „jemandem sein Wort geben“. Die Sprechakte „jemandem sein Wort geben“, oder „jemandem sein Ehrenwort geben“ oder auch „jemandem das Ja-Wort geben“ verweisen allesamt auf Kontexte, in denen das Wort nicht lediglich ein Wort ist, sondern zugleich der illokutive Akt eines Versprechens vollzogen wird. Auf diesen illokutiven Akt spielt das pädagogische Programm „Den Kindern das Wort geben“ an. Ohne dass mit dieser Formel ein Versprechen gegeben wird, richtet sich der Fokus des Sprechaktes auf der latenten Ebene damit erneut auf den pädagogischen Akt des „Wortgebens“ und nicht, wie auf der manifesten Ebene suggeriert, auf die Klientel des pädagogischen Handelns, die Kinder.

2. Zum pädagogischen Handeln

Trotz der Versicherung der Lehrerinnen, dass die Kinder ebenso kompetent Auskunft geben könnten wie sie selbst, übernehmen bei der Selbstvorstellung der Schule, die sich dem pädagogischen Programm „Den Kindern das Wort geben“ verpflichtet fühlt, die Lehrerinnen die Aufgabe, auf die Fragen der Zuhörer zu antworten. Als die Schülerinnen und Schüler daraufhin beginnen sich zu melden, werden sie mit dem immer gleichen Sprechakt von den Lehrerinnen aufgerufen: „Was willst du sagen?“.

Der Sprechakt „Was willst du sagen?“ findet sich im Kontext einer Verleihung von Rederecht. Als kontrastive Formulierungen kommen in dieser Situation Aufforderungen wie „Ja“, „Ja, Lucas“, „Bitte“, „Ja, sag mal“ oder „Sag du“ in Frage. Der äußere Kontext all dieser Sprechakte lässt sich so charakterisieren, dass eine Person nicht von sich aus beginnt zu sprechen, sondern einen Redebedarf anzeigt und daraufhin das Rederecht von einer zuständigen Person erhält. Es handelt sich also immer um Situationen, die so verfasst sind, dass Personen nicht naturwüchsig das Wort ergreifen, sondern in denen die Regel gilt, dass das Rederecht von einer bestimmten Person verwaltet und bei Bedarf erteilt wird. Das ist die allen aufgezählten Sprechakten zugrunde liegende Struktur der Handlungssituation. Auf dieser gemeinsamen Basis gibt es zwischen den kontrastiven Formulierungen und der tatsächlich vom pädagogischen Handeln gewählten Formel eine entscheidende Differenz: Während alle kontrastiven Sprechakte das Wort tatsächlich erteilen, wird mit der Frage „Was willst du sagen?“ dem Redner das Wort lediglich „probeweise“ überlassen. Das wird deutlich, wenn man sich fragt, wie die Interaktion fortgesetzt werden könnte. Der so Angesprochene könnte die Formel aufnehmen und antworten „Ich will sagen, drei mal drei ist neun“. Oder er könnte erwidern: „Dass drei mal drei sechs ist“. Daraufhin liegt es nahe, dass der Verwalter des Rederechts ihm entgegnet: „Dann sag es“ oder bei einer „falschen“ Antwort: „Dann sag es lieber nicht“. Das mit den Worten „Was willst du sagen?“ erteilte Rederecht bringt es mit sich, dass das daraufhin ergriffene Wort nicht oder zumindest noch nicht richtig gilt. Es gilt erst, wenn es sachlich für gut oder richtig oder wenn es als eine situationsadäquate Äußerung befunden wird und der Redebeitrag kann im Falle der „falschen“ Antwort zurückgenommen oder im Falle einer nicht bestehenden Situationsadäquanz verschoben werden. Damit verwaltet das pädagogische Handeln nicht lediglich das Rederecht, sondern es räumt sich zugleich die Möglichkeit ein, über die Richtigkeit oder Adäquanz und damit auch über die Geltung oder Nicht-Geltung des mit der Formel „Was willst du sagen?“ erteilten Wortes zu befinden.

Außerhalb des tatsächlich vorliegenden Kontextes einer Erteilung von Rederecht wäre diese Äußerung in folgender Situation denkbar: „Was willst du sagen?“ könnte ein Kind ein anderes im Rahmen einer Quizsituation fragen, in der beide Kinder dem gleichen Team angehören und in der der Fragende bemerkt, dass sein Nebenmann gewillt ist, die vom Quizmaster gestellte Frage ohne Absprache im Team zu beantworten. Der Gefragte könnte jetzt sagen: „A“. Daraufhin könnte der Mitstreiter erwidern: „Okay, dann mach!“ oder „Nee, A ist es ganz sicher nicht, mach nicht!“

An dieser gedankenexperimentellen Geschichte wird erneut deutlich, dass die Frage quasi-konjunktivisch darauf gerichtet ist zu erfahren, was der Gefragte sagen würde, wenn es der Ernstfall wäre. Es handelt sich dabei aber nicht um eine reine Informationsfrage, sondern vielmehr um eine Kontrollfrage. Die Antwort gilt als vorläufige und wird vom so Fragenden evaluiert. Die Situation eines mit der Formel „Was willst du sagen?“ erteilten Wortes lässt sich interaktionslogisch also als eine der „Vorläufigkeit“ charakterisieren. Eine Frage nach dem Sagen-Wollen ist keine Aufforderung zu einem authentischen Redebeitrag, sondern zu einer vorläufigen, noch zu evaluierenden und auf ihre Gültigkeit oder Adäquanz hin zu überprüfenden Äußerung.

Diese kurze Interpretation macht deutlich, dass die prätendierte Hinwendung zum Kind, die das hier in den Blick genommene pädagogische Selbstverständnis vermeintlich zu seinem Programm erklärt, unterlaufen wird. Sowohl auf der Ebene des pädagogischen Selbstverständnisses als auch auf der Ebene des pädagogischen Handelns stehen nicht, wie auf der manifesten Ebene deklariert, das Kind und seine freie Entfaltung im Mittelpunkt, sondern auf beiden Ebenen wird der Fokus stattdessen auf den pädagogischen Akt gerichtet. Auf der latenten Ebene verweist sowohl der Sprechakt „Den Kindern das Wort geben“ als auch der vom pädagogischen Handeln realisierte Sprechakt „Was willst du sagen?“ auf die Selbstbezüglichkeit des Pädagogischen, darauf, dass der pädagogische Akt der Verleihung des Rederechts den zentralen Bezugspunkt bildet, nicht das Kind und was es zu sagen hat.

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