Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

I

Während als Konsequenz aus nunmehr zwei PISA-Erhebungen allenthalben von Bildungsstandards die Rede ist, gerät eine anderes Problemfeld der Schule etwas aus dem öffentlichen Blick, das der Erziehung. Weitgehend unbeachtet von publizistischer Beobachtung halten in den Schulalltag neue Konzepte der Durchsetzung von Erziehung Einzug. Dabei geht es um die methodisch geregelte Vermittlung der Sekundärtugenden als Arbeitshaltungen, die Einübung in das soziale Lernen und die eigenständige Regelung von Streit unter Schülern sowie gegen mangelnde Disziplin von Schülern um die Erziehung zur Kooperation im und für Unterricht. In dieser und weiteren, folgenden Fallstudien sollen die Konzepte für die neue Erziehung unter die Lupe genommen werden. Sie alle versprechen Lehrerinnen und Lehrern leicht handhabbare Abhilfen gegen Störungen, die sie daran hindern, ihren Fachunterricht erfolgreich durchzuführen.

Das „Trainingsraumkonzept“ nimmt die Sorge um die zunehmenden Disziplinprobleme im Unterricht praktisch auf und verspricht deren erfolgreiche Bearbeitung. Das nach dem Verbot repressiver Formen der Erziehung entstandene Gefühl, hilflos den Störungen durch Schülerinnen und Schüler ausgeliefert zu sein, soll mit dieser Methode geheilt werden. Im und mit dem Trainingsraum sollen die Störenfriede des Unterrichts mit langanhaltendem Erfolg zur Raison gebracht und als resozialisierter Teil der Schulklasse in die Pflicht der Mitarbeit am Unterricht genommen werden.

Als Initiator des Konzeptes in Deutschland gilt Stefan Balke. Er beruft sich auf das amerikanische Programm von Edward Ford, in dem zur „Stärkung der Eigenverantwortlichkeit“ aufgerufen wird. Das Konzept arbeitet mit der Annahme, dass die Schüler/innen in der Klasse bleiben wollen und letztlich für diesen Zweck bereit sind, die Kooperationsregeln für Unterricht zu respektieren. Daher ist als erzieherische Maßnahme bei mehrmaliger Störung des Unterrichts die Übersendung der Schülerin/des Schülers in einen extra eingerichteten Trainingsraum vorgesehen. Dieser sollte in der Nähe des Lehrerzimmers installiert und ständig von einer Lehrerin/einem Lehrer betreut werden. Als Ziele des Programms gelten:

„1. Das erste und wesentlichste Ziel des Programms besteht darin, die lernbereiten Schüler/innen zu schützen und ihnen entspannten, ungestörten und qualitativ guten

Unterricht anzubieten.

2. Das zweite Ziel des Programms besteht darin, häufig störenden Schüler/innen Hilfen anzubieten, die darauf ausgerichtet sind, daß sie ihr Sozialverhalten verbessern und die notwendigen sozialen Schlüsselqualifikationen erwerben.“ (1)

Um diese Ziele zu erreichen, sollen gemäß Programm folgende Regeln mit den Schülerinnen und Schülern bei Einführung des Konzeptes diskutiert und später für alle sichtbar in den Klassenraum gehängt werden. Die Regeln lauten:

„1.) Jede Schülerin und jeder Schüler hat das Recht ungestört zu lernen.

2.) Jede Lehrerin und jeder Lehrer hat das Recht ungestört zu unterrichten.

3.) Jede/r muß stets die Rechte der anderen respektieren.“

Das Konzept sieht ein weitgehend standardisiertes Vorgehen vor. Bei einer gravierenden Störung wendet sich der Unterrichtende nach einer ausdrücklichen Ermahnung an die Schülerin/den Schüler mit der Frage: „Möchtest du in den Trainingsraum gehen oder in der Klassen bleiben?“. Erst bei Nicht-Einlenken der Schülerin/des Schülers, schickt die Lehrerin/der Lehrer sie/ihn in den Trainingsraum. Für den gesamten Ablauf der Erziehungsmaßnahme liegen Formulare bereit, die die jeweilige Schule für sich adaptieren kann. Im Folgenden werden zwei Fälle analysiert, um sowohl einen Einblick in das Konzept selbst als auch seine konkrete Umsetzung zu erhalten (vgl. zur Analyse).

II

 Das zweite Dokument (vgl. zur Analyse) gibt darüber Auskunft, was passiert, wenn die Schülerin/der Schüler im Trainingsraum angekommen ist. Dieses Dokument umfasst zwei DIN A4-Seiten und ist ebenfalls mit einer Überschrift und Kurzangaben versehen sowie im Hauptteil mit acht Fragen, die es auf vorgefertigten Linien zu beantworten gilt.

„Trainingsraum für verantwortliches Denken und Handeln“ ist dieses Dokument in Großbuchstaben (!) überschrieben. Der Trainingsraum wird hier näher und durchaus pathetisch spezifiziert. Er soll Raum für geistige und praktische Tätigkeiten sein es sind die beiden Konstituenten, durch die der Mensch bestimmt ist: Denken und Handeln. Während das eine den Kopf, das Geistige in den Blick nimmt, fordert das andere das tätige Tun ein. Es soll nicht nur etwas gedacht und theoretisiert, sondern auch praktisch werden. Dabei gibt die Überschrift auch eine Richtung für beide Tätigkeiten an: verantwortlich. Mit Bezug auf die Umwelt und in einem moralisch angemessenen Maß sollen Denken und Handeln vollzogen werden.

Diese Bestimmung ist nun in Kombination mit dem Begriff des Trainingsraums merkwürdig. Können „verantwortliches Denken und Handeln“ erst denken, dann handeln! jedes für sich geübt werden, um später zu einem Ganzen zusammen- gesetzt zu werden? Wie ist das Trainieren solcher Vorgänge in einem Übungsraum möglich? Vorstellbar wäre, dass Handeln analysiert wird, um zu begreifen, welche Fehlschlüsse gezogen wurden, wo es zu unverantwortlichem Handeln gekommen ist. Dann wäre der Trainingsraum eher ein therapeutischer Ort, an dem etwas Vergangenes im Gespräch aufgearbeitet wird. Der denkenden Tätigkeit könnten ggf. Verhaltenstrainings folgen, um Situationen für den Einzelnen verfügbar zu machen, ihm oder ihr eine Möglichkeit zu geben, nicht unüberlegt zu agieren und in alte (Handlungs-)Muster zurück zu fallen. Dieser Vorgang erforderte jedoch zum einen die Bereitschaft des „Delinquenten“, sich entsprechend helfen zu lassen und zum anderen eine professionelle Ausbildung als Therapeuten/in. In diesem Falle wäre es unangemessen, den Raum, in dem solches stattfindet, als „Trainingsraum“ zu bezeichnen. Unterstellt man den Schülern ein gravierendes Verhaltensproblem, so klingt „Trainingsraum für verantwortliches Denken und Handeln“ wie das Moral zynisch in Dienst nehmende Sopraporte eines Umerziehungslagers. Geht es in ihm um deutlich weniger, so überdeckt das auch Spielerische des Trainings den Anlass seiner Einrichtung: Der Lehrer kommt mit der Disziplinlosigkeit einzelner Schüler nicht klar und schickt sie deshalb in den Trainingsraum. Was sollten sie dort dann anderes tun, als zu lernen, wie sie sich gesittet verhalten können?

Die Überschrift ist jenseits der aufgezeigten Implikationen mit einem enormen Pathos und Versprechen aufgeladen und wertet zugleich die anderen in der Schule befindlichen Räume ab: Wenn dies explizit ein Raum für „verantwortliches Denken und Handeln“ ist, welches Denken und Handeln findet dann in den anderen Räumen der Schule statt? Das Konzept dürfte weit entfernt von Unterrichtskritik sein und dennoch provoziert es mit der Überschrift die These, dass im Trainingsraum kompensiert werden soll, was im Unterricht nicht geschieht oder verhindert wird.

Wie wird nun konkret das „verantwortliche Denken und Handeln“ trainiert? Bevor acht Fragen folgen, müssen nach der Überschrift in einer Art „Kopf“ die Kurzinformationen über Name, Datum, Lehrer/in, Unterrichtsstunde, „Aus der Klasse gegangen um“ und „im Trainingsraum angekommen um“ ausgefüllt werden. Der „Schüler“ wird nun wieder zur „Person“. Im vorliegenden Dokument sind diese Felder vorbildlich ausgefüllt. Nach dem zweispaltigen Kopf wird der Frageblock mit einem Einleitungssatz überschrieben: „Beantworte nun folgende Fragen. Konzentriere dich, sei ehrlich und schreibe verständlich. Die Trainingsraumleiterin hilft dir dabei, wenn du möchtest.“ Irritierend ist, dass der wegen Unterrichtsstörung aus dem Klassenraum verwiesene Schüler nun nicht etwa im Gespräch den Vorfall schildern und mit der Lehrerin verhandeln soll, vielmehr er wird dazu aufgefordert, schriftlich die ihm vorgelegten Fragen zu beantworten. Das Schreiben soll vielleicht dazu dienen, nach dem Aufruhr in der Klasse sich erst einmal zu besinnen und die Gefühle so zu kanalisieren, dass sie abgedämpft in das Gespräch eingehen. Der Fragenkatalog hätte dann die Funktion, den Schüler zu zwingen, sich unter Kontrolle zu bringen. Die Fragen übernähmen dabei gleichzeitig die Aufgabe, so etwas wie die Anamnese des Falles aus der Sicht des Schülers zu liefern.

Was zu tun ist, bestimmt nicht die Trainingsraumleiterin am ihr übergebenen Fall, es ist bereits unabhängig von ihm mit einem Fragebogen standardisiert. Der Leiterin bleibt nur übrig, den Fragebogen zu übergeben. Sie greift nur auf Wunsch des Schülers helfend ein. Der Arbeitsauftrag schließt die Anweisung ein, ihn in einer bestimmten Art und Weise auszuführen. Es folgen drei Aufforderungen: Konzentration, Ehrlichkeit und eine verständliche Form des Ausdrucks werden verlangt. Die Trias verweist auf diejenige von Kopf, Herz und Hand! Vor allem der moralische Aufruf, nicht zu lügen und die eigene Verantwortung, ja Schuld einzugestehen sowie die schriftliche Fixierung des abverlangten Bekenntnisses enthalten etwas von einer Nötigung des Schülers. Hinzukommt, dass er das Vorgefallene knapp und klar begrifflich zu fassen hat.

Wie schwer dies jedem fallen muss, der die Aufgabe nicht an sich abperlen lassen kann und will, besonders wenn der Vorfall gerade erst passiert ist, ist wohl auch denjenigen klar, die diesen Fragebogen konzipiert haben. So folgt die Bemerkung, dass die aufsichtführende Person ihm dabei helfen wird. Wie aber soll das geschehen, wenn der Schüler wütend über sich, den Lehrer, die Mitschüler, die Schule in den Raum kommt, er sich ggf. ungerecht behandelt fühlt? Indirekt wird genau das angenommen, dass der Schüler also innerlich aufgewühlt im Trainingsraum erscheint, weswegen er sich erst einmal beruhigen und die nötige Konzentration aufbringen muss, um die Fragen überhaupt beantworten zu können. Zum anderen unterstellt die Ehrlichkeitsanforderung, dass der Schüler nur seine Version des Vorfalls wiedergeben möchte, nicht aber fähig oder gewillt ist, von dieser zu abstrahieren. Nun folgen acht Fragen, von denen vier auf dem ersten und vier auf dem zweiten Blatt stehen. Die erste lautet: „1. Wie kam es dazu, daß du in den Trainingsraum gehen mußtest?“ Der Schüler wird aufgefordert, den Vorfall zu schildern. Er erhält die Möglichkeit, seine Sicht der Dinge zu Papier zu bringen. Der Schüler gibt folgende Antwort: “F kamm reihn und ich habe in was gefragt da hatt sie mich angeschrien und ich habe in mein Buch geschaut dann hat sie mich rausgeschmissen weil eine gelacht hatt und sie hatt gedacht ich war dass“.

Die Sätze strotzen vor Rechtschreibfehlern, bleiben aber verständlich. Der Schüler schildert den Tathergang chronologisch mit Hilfe von ausdrucksstarken Verben wie „angeschrieen“ und „rausgeschmissen“. Dass, was von der Lehrerin als „wiederholte Zwischenrufe“ klassifiziert wurde, war für den Schüler als Frage an den in den Klassenraum hineinkommenden Mitschüler F gemeint. Die Lehrerin nahm dies als „anpöbeln“ wahr. Ihre Reaktionen wiederum werden vom Schüler ebenso drastisch aufgefasst: Sie schreit ihn an und deutet ein Lachen einer anderen Mitschülerin als seines. D.h. aus Sicht des Schülers wurde er zu Unrecht der Klasse verwiesen; seine Zwischenrufe werden von ihm nicht als Störung des Unterrichtsverlaufes wahrgenommen, hingegen die Aktionen der Lehrerin als ungerecht und überzogen. Von einer Ermahnung, die der Frage der Lehrerin vorauszugehen hätte, ist bei ihm nicht die Rede.

Es stehen sich zwei Meinungen über den Hergang gegenüber, sie böten genügend Anknüpfungspunkte für die Trainingsraumleiterin zu klären, welche Version nun die plausible ist.

„2. Was hast du getan, daß es [etwas wurde ausgeschwärzt; SJ] dazu kommen konnte?“

Auf die Schilderung des Herganges folgt nun die Aufforderung, Einsicht in das eigene Tun zu üben. Selbst wenn wie in diesem Fall der Schüler der Ansicht ist, zu Unrecht aus der Klasse verwiesen worden zu sein, ist er nun aufgefordert, die Position der Lehrerin einzunehmen und aus deren Sicht zu beurteilen, warum sie wohl so gehandelt hat. Zum einen bekäme er hier Gelegenheit, seine Position weiter zu schärfen, zum anderen muss er eine durchaus komplexe Handlung vornehmen: sein eigenes Tun mit den Augen eines Gegners im Konflikt betrachten. Der Schüler löst die Aufgabe zurückhaltend, also ohne eine Darstellung der Gründe der Lehrerin: „Ich habe F was gefrakt alls er von Trainingsraum zurükkamm“.

Er erläutert zunächst, was Auslöser für die Situation war. Was er den in den Klassenraum wieder eintretenden Schüler fragte, bleibt ebenso wie in der ersten Antwort unausgesprochen. Denkbar ist nun aber, dass seine Frage sich darauf bezog, was F wohl im Trainingsraum erlebte, aus dem er gerade zurückgekehrt ist. Es wäre dann die Neugier des Schülers zu erfahren, was in diesem neuen Raum der Schule vor sich geht. Eine solche Unterhaltung zuzulassen, käme einem Autoritätsverlust der Lehrerin gleich. F., der resozialisierte Störer, provoziert also die nächste Störung! Dass gerade das, was die Störungen besiegen soll, neue hervorruft, bedeutet nicht zuletzt, dass der Aufenthalt im Trainingsraum lediglich eine Unterbrechung der Störung, nicht aber ihre Beseitigung bewirkt hat. Dass die im Klassenverband verbliebenen Schüler/innen das Wiedereintreten unkommentiert hinnähmen, setzte eine Routine voraus, die dieser Schüler noch nicht hat. Es entsteht eine neue Aufgabe auch für die Lehrerin, eine solche Störung routiniert und unkommentiert hinzunehmen. Die bislang nicht störenden Schüler/innen müssen nun etwas lernen, was vorher nicht nötig war: still sitzen und am Unterricht sich weiter beteiligen bei gleichzeitigen Rein- und Rausgehen von Mitschüler/inne/n.

Blieb in den ersten beiden Fragen noch die Möglichkeit für den Schüler offen, seine Sicht auf die Dinge gegen diejenige der Lehrerin zu stellen, so ist er nun durch „3. Gegen welche Regel hast du verstoßen?“ definitiv dazu aufgefordert, seinen Verstoß anzuerkennen und ihn begrifflich zu kennzeichnen. Der strenge Begriff der Regel führt zur Annahme, dass es einen Verhaltenskodex gibt, der allen Schülerinnen und Schülern in seinen Geltungsbedingungen bekannt ist und dessen Missachtung geahndet werden muss. Dieser Schüler beantwortet trotz seiner Schilderung die dritte Frage mit einem lakonischen: „Reingerufen“ und referiert damit auf die Regel. Ist er etwa doch zu recht der Klasse verwiesen worden?

Die letzte Frage des ersten Blattes muss vom Schüler nur durch ein Kreuz mit Ja oder Nein beantwortet werden. Sie lautet: „4. „Bist du bereit, eine Lösung für das Problem zu finden?“ Nicht zuletzt zeigt diese Aufeinanderfolge der Fragen, dass es vor allem darauf ankommt, die von der Lehrerin vorgenommene Schuldzuweisung anzuerkennen. Allein der Schüler hat ein Problem. Es ist dasjenige, das ihn in den Trainingsraum brachte. Ein Unrecht der Lehrerin wird gar nicht mehr in Betracht gezogen. Wäre dies der Fall, könnte der Schüler die Frage nicht beantworten, er müsste weiterhin auf sein Unrecht pochen. Mit der Nötigung zum „Ja“ wird die Bereitschaft zur Kooperation vom Schüler erzwungen, die als solche nie auf der Seite der Lehrerin stattfinden muss. Die Bringschuld liegt in jedem Fall beim Schüler.

Kreuzte der Schüler hier das „Nein“ an, dann erklärte er die weitere Kooperation für beendet. Dieser Fall ist im Formular nicht vorgesehen, wohl weil er nicht geschehen soll und auch nicht im Sinne des Erziehungserfolges geschehen darf. Käme es dennoch zu dieser Verweigerung, müsste wohl ein Gespräch zwischen Trainingsraumleiterin und dem Schüler beginnen.

Im vorliegenden Fall bekundet der Schüler durch sein „Ja“ die Kooperationsbereitschaft. Das zweite Blatt des Dokumentes beginnt mit einem weiteren Imperativ: „Erstelle nun deinen Rückkehrplan für die Klasse und beantworte folgende Fragen:“. Während die ersten vier Fragen allein der Schilderung des Hergangs verpflichtet waren, beginnt hier ein neuer Schritt, der der Therapie. Der Schüler ist nun aufgefordert, selbst seinen Rückkehrplan zu entwickeln. Augenscheinlich geht es nicht so einfach zurück in die Klasse. Einen Plan benötigt er nicht für den komplizierten Weg in der Schule. Mit Rückkehr ist ungleich mehr gemeint, nämlich die Integration in die Klasse und die Regeln des Unterrichts. Wie kann er lernen, sich im Unterricht richtig zu benehmen? Das kann als Beginn des Verhaltenstrainings im Trainingsraum verstanden werden oder aber als die Vorhaben, die den Schüler in der Klasse in der die Lage versetzen sollen, nicht mehr als Störer aufzufallen. Der Schüler wird also aufgefordert, seine Selbsterziehung zu planen, während die Trainingsraumlehrerin ihm dabei zusieht! Dass er sich entsprechende Gedanken machen möchte, hängt an dem eingangs für das ganze Konzept als grundlegend erklärten Bedürfnis des Schülers an Reintegration. Mit der Selbstcurricularisierung des Delinquenten im Medium eines Fragebogens wird das Verfahren endgültig zu einer pädagogischen Fiktion: Entweder nimmt der Schüler den Anspruch ernst, dann muss er an ihm scheitern, oder aber er will die konkrete Aufgabe bewältigen, dann muss der dem Verfahren geben, was es von ihm haben will: schriftlich formulierte Konformität.

Alle Antworten des Schülers hätten im Vergleich mit den Charakterisierungen der Störungen durch die Lehrerin einer Klärung bedurft: Nachfragen ergeben sich automatisch aus dem Geschriebenen. Doch weder wird das Vorgefallene verhandelt, noch offensichtlich danach ein Rückkehrplan gemeinsam besprochen. Die Arbeit zu allem liegt beim Schüler. Das Training besteht bislang allein in der Einübung in das gewünschte Prozedere der schriftlichen Befragung.

Die folgende Frage wiederholt die vorhergehende und lädt für den Fall, dass der Plan nicht konkret genug ausgefallen ist, zur Konkretisierung ein: „Was kannst du tun, um dein Ziel zu erreichen und zukünftig in der Klasse zu bleiben? Wie kannst du es stattdessen machen?“

Es irritiert, dass „um dein Ziel zu erreichen und zukünftig in der Klasse zu bleiben“ als zwei Ziele erscheinen, die doch eigentlich nur ein einziges sein sollten. Es geht alleine um die disziplinierenden Handlungen, die der Schüler an sich selbst vollziehen soll. Doch was soll jemand vorschlagen, der sich zunächst zu Unrecht der Klasse verwiesen sah? Der Schüler beantwortet diese Frage mit: „[durchgekriggelter Anfang; Beginn in neuer Zeile; SJ] Ich habe eine blöde Frage geschtelt: keinne blöden Fragen währenddes unterichts s [durchgestrichenes „ch“; SJ] tellen“

Die Antwort wirkt nach Schema F der Anklage: Der Schüler bezichtigt sich umgangssprachlich, blöde Fragen gestellt zu haben; das sind wohl solche, die nicht zum Unterrichtsstoff passen. Und folgerichtig lautet seine Konsequenz, diese demnächst zu unterlassen. Dabei zeigt die Antwort, dass er was die Frage nicht verlangt sein Fehlverhalten erstmals selbstbekennend schriftlich fixiert. Da diese Antwort mechanisch wirkt, macht sie deutlich, dass der Schüler inzwischen seine Lektion gelernt hat: sich in der Schule schulkonform zu verhalten; und in diesem Fall: den im Trainingsraum drohenden Zugriff auf seine ganze Person abzuwehren und seine Ansichten zu „verantwortlichem Denken und Handeln“ zurückzustellen. Stattdessen schafft er sich zum Verfahren eine Distanz, die es ihm erlaubt, als Schüler und nicht als Person zu antworten. Hier zeigt sich, dass der Fragebogen seine Absicht, zur Reflexion anzuhalten, selbst zerstört. Der augenscheinlich gewünschte Ausdruck verlangt faktisch nach mechanischen, konformen Antworten, so dass die Person, deren Denken und Handeln trainiert werden soll, außen vor bleiben kann.

Einzig diese Frage widmet sich der Lösung des Problems; für sie sind immerhin fünf Zeilen Platz gelassen worden es ist die höchste Anzahl auf diesem Bogen. Neben der Schilderung des Vorfalls böte sie den höchsten Anreiz, mit dem Schüler in ein Gespräch zu kommen, ob sein Vorschlag der Besserung angemessen ist oder an der Sache vorbei geht. Wenn es so ist, dass seine Störung spontan, d.h. aus eine inneren, unkontrollierten Bewegung heraus entstand, wie sind dann zukünftig blöde Fragen zu unterdrücken? Wie kann er lernen, diese Spontaneität zu kontrollieren?

Diesen Nachfragen wird kein Platz eingeräumt, sondern es wird sofort auf das Versäumte des Unterrichtsstoffes Bezug genommen. Die Frage 5 des Blattes leitet den Übergang zur Rückkehr in den Klassenraum ein: „5. Wen fragst du nach versäumtem Unterrichtsstoff und Hausaufgaben?“ Während die Störung durch den Delinquenten eigenständig bearbeitet werden kann, muss er als eigentliche Strafe das Versäumte des Unterrichtes mit Hilfe eines Mitschülers nachholen. Es wird namentlich festgelegt, wen er nach dem Unterrichtsstoff fragen soll. Dies birgt die Möglichkeit der Lehrerin, mit Hilfe des genannten Mitschülers zu klären, ob dies geschehen ist.

Die Ironie dieses Dokumentes ist, dass die Antwort „F“ lautet. D.h. der Schüler holt sich seine Hausaufgaben bei demjenigen, der geradewegs aus dem Trainingsraum in die Klasse zurückkehrte und dessen Platz als Störer er eingenommen hat. Man möchte fast an einen fliegenden Wechsel zwischen diesen beiden Schülern denken, so dass einer immer in der Klasse ist, um die Hausaufgaben zu notieren, während der andere seine Zeit im Trainingsraum verbringt.

Die sechste Frage lautet: „6. Wem zeigst du den Plan?“.

Die Frage erweckt die Vorstellung, dass der weitere Ablauf des Trainings in der Klasse von einem Pädagogen beobachtet wird. Wer anders als die Lehrerin könnte das sein, bei der der Schüler auffällig wurde? Der Plan wird laut Schüler dann auch entsprechend der Lehrerin, die ihn in den Trainingsraum schickte, gezeigt. Damit bekommt die Lehrerin, die ihn aus der Klasse verwiesen hat, nun das Resultat präsentiert. Was soll sie damit machen? Wird wenigstens sie, wenn es schon nicht die Trainingsraumleiterin tat, mit ihm die Blätter durchsprechen? Dann hätte die Lehrerin des Trainingsraums nur eine Statthalterfunktion für diejenige, die den Schüler aus der Klasse schickte, die pädagogische Verantwortung würde dann diese behalten. Während sie die Klasse weiter unterrichtet, delegiert sie ihre Aufgabe der Disziplinierung an den Trainingsraum. Der Schüler soll anschließend geläutert in den Klassenraum zurückkehren. Dass dem so ist, soll der ausgefüllte Fragebogen belegen. Aber der Rückkehrplan muss erst noch umgesetzt werden. Deswegen steht die richtige Arbeit am „verantwortlichen Denken und Handeln“ erst noch bevor: im Klassenraum oder Lehrerzimmer, wo auch immer die Lehrerin das Gespräch aufnimmt. Der Trainingsraum wird so zur bloßen Verwahranstalt, indem das Blatt abgearbeitet, aber nicht bearbeitet wird.

Frage: „7., Wann?“ mit dem Eintrag „11.08“ bestätigt die Vermutung, dass ein Gespräch über die Antworten des Schülers im Trainingsraum nicht mehr vorgesehen ist. Mit dieser Frage endet der Teil. Am Fuß des zweiten Blattes folgen die Aufforderung zur „Unterschrift des Schülers/der Schülerin“ und die Unterschrift der „Trainingsraumleiterin“. Das gibt dem Dokument einen würdigen Abschluss und einen offiziellen Charakter. Mit einer Unterschrift besiegelt man das vorher Geschriebene. Was bestätigt der Schüler hiermit? Dass er selbst die Antworten verfasst hat? Anzunehmen ist, dass sich recht wenig Schülerinnen und Schüler im Trainingsraum aufhalten, so dass die Trainingsraumleiterin sehen kann, dass der Schüler es war, der schrieb. Selbst wenn mehrere Schüler dort sind, macht eine Absprache wenig Sinn. So bleibt allein das Pathos der Unterschrift. Der Schüler, der wahrscheinlich im öffentlichen Leben noch die Unterschrift der Eltern benötigt, wird in den Stand eines Erwachsenen gehoben, der mit seiner Unterschrift für sich selbst bürgt: für seine Schuld und Verantwortung, seinen Plan umzusetzen. Die Unterschrift der Trainingsraumleiterin ist eine Bestätigung der anderen Vertragsseite. Die kann nur stellvertretend für die Lehrerin gemeint sein, weil sie offensichtlich überhaupt nicht die Aufgabe hatte, das Gespräch über das Geschriebene mit dem Schüler zu suchen.

Den Unterschriften folgen die Kategorien „Aus dem Trainingsraum gegangen: 11.08 Uhr. Im Klassenraum angekommen um: 11.09 Uhr. Lehrer/in der Unterrichtsstunde: [Name der Lehrerin, die ihn hinausschickte; SJ]. Dem Klassenlehrer zur Kenntnis:“.

Es handelt sich um weitere Kurzinformationen über den Verbleib des Schülers in der Schule. Allein die Unterschrift des Klassenlehrers fehlt. Insgesamt umfasst der Vorgang vom Verlassen des Klassenraumes (10.53) bis zur Rückkehr in diesen (11.09) sage und schreibe: 16 Minuten. Innerhalb dieser Zeit wurde im „Trainingsraum für verantwortliches Denken und Handeln“ das zweiseitige Dokument ausgefüllt.

Das Training findet im Kopf des Schülers statt, das verantwortliche Denken und Handeln wohl auch auf keinen Fall ist es jedoch anwesend im Trainingsraum: als

Auseinandersetzung zwischen der Lehrerin und Schüler über die abgelaufene Störung. Die Konsequenz ist, dass das Gespräch über den Vorgang letztendlich doch dort stattfinden müsste, wo er passierte: im Klassenzimmer.

Das Entsorgen des Störenfriedes aus der Klasse und damit die Delegierung der Aufgabe in einen anderen Raum an eine andere Lehrerin führen zum Gegenteil des Beabsichtigten. Andere Störungen werden provoziert. Es kommt zur Unruhe über aufwändige Unterbrechungen des Unterrichts, bis die Lehrerin den Zettel ausgefüllt hat. Das Wiedereintreten des Schülers aus dem Trainingsraum in die Klasse sorgt für erneute Störungen. Die Notwendigkeit, erziehend disziplinierend als Lehrerin einzugreifen, um Unterricht überhaupt zu ermöglichen, besteht weiter fort. Somit setzt die Unterrichtung einer Gruppe von Kindern immer schon die Einübung in verantwortliches Denken und Handeln minütlich voraus.

III

Der Formalismus der Dokumente weist Brüche auf, die sich vor allem in der nachlässigen Gestaltung der Bögen ausdrücken. Dies indiziert, dass trotz der Strenge der Form das Verfahren doch nicht so ernst genommen wird. Es handelt sich bei den Lehrer/innen nicht um Technokraten, denen eine perfekte bürokratische Form Lust bereitet. Sie sind in erster Linie Lehrer/innen, die der nachwachsenden Generation etwas beibringen wollen und dabei mit den üblichen Disziplinarproblemen zu kämpfen haben und sie ggf. anfällig machen, für die Versprechen von Erziehungsrezepten. Mit ihrem Verhalten nach den Regeln des Rezeptes, degradierte sich die Lehrerin im Trainingsraum zur Aufsichtsperson. Sie agierte als verlängerter Arm der Klassenlehrerin, die ohne Ansehen des Vorfalls im Recht und somit der Schüler im Unrecht ist. Damit kündigte sie die basale Solidarität mit dem Schüler auf. Das Programm behandelte sie nicht als Hilfe für den Schüler, sondern nutzte es zur Abwehr, als Schutzwall vor jeglicher Vereinnahmung durch die Schüler/innen. Mit einem solchen Verständnis zeigte sie sich als gleichgültig gegenüber den Belangen der Schüler/innen. Zu rechtfertigen war das freilich nur, weil sie glaubte, so den Schüler zu Selbsterziehung zu befähigen.

Dagegen steht der Trainingsraumlehrerin als Handlungsoption nur das Eingehen auf den Schüler offen. D.h. mit dem Auftauchen des Schülers im Trainingsraum sind beide vor die Frage gestellt, was ist passiert. Ein Gespräch müsste mit der Anamnese des Falles beginnen, das den Schüler nicht sofort als Delinquenten, sondern als Klienten behandelt, der erst einmal ein Recht auf seine Sicht der Sache hat. Die Empathie, die ein Gespräch zwischen Therapeutin und Klienten erst ermöglicht, stellt das im Klassenraum Vorgefallene zur Disposition. Ein solches Gespräch muss damit rechnen, dass der Schüler sich nicht als zu Recht verurteilt fühlt und pflichtschuldig die Fragen abarbeitet.

Fußnote:

(1) Zitate folgen Balke, Stefan: Das Trainingsraum-Programm. Ein Weg zum ungestörten Lernen und Unterrichten (letzter Abruf: 12/01/05).

Literaturangaben:

Stefan Balke: Die Spielregeln im Klassenzimmer. Das Trainingsprogramm. Ein Programm zur Lösung von Disziplinproblemen in der Schule. 2. Auflage, Bielefeld 2003.

Heidrun Bründel/Erika Simon. Die Trainingsraum-Methode. Umgang mit Unterrichtsstörungen: klare Regeln, klare Konsequenzen. Weinheim 2003.

Das FORD-Programm (Online-Ressource, abgerufen am 06.01.2005), http://www.learn-angebote/schulberatung/main/medio/banlass/av/ford.html (30/12/04).

Mit freundlicher Genehmigung von Budrich UniPress
http://www.budrich-journals.de/index.php/pk

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