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Falldarstellung

Die Schulklasse begrenzt die Möglichkeit des Unterrichts, die individuellen Aneignungsprozesse von Schülern aufzugreifen, nicht ohne Grund, sondern trägt damit zu einer wesentlichen Sozialisationsleistung des Unterrichts bei. Sie erzeugt dadurch die Struktur eines Unterrichtsgesprächs, das Schüler mit der Anforderung konfrontiert, sich grundsätzlich unter Einnahme einer am Allgemeinen orientierten Haltung ausschließlich auf einen für alle Schüler gleichen, vorgegebenen Themenfokus zu beziehen anstatt individuelle Interessen klassenöffentlich zu thematisieren. Indem Schüler diese Forderung verinnerlichen, lernen sie, sich angemessen gegenüber einer Allgemeinheit zu positionieren und eine Haltung einzunehmen, die eine allgemeine Voraussetzung für die Teilnahme an öffentlichen Diskursen ist.

Dies soll im Folgenden durch eine Analyse von Ausschnitten aus Unterrichtsprotokollen der 1. Klasse, der 4. Klasse und von Ausschnitten aus Unterrichtsprotokollen ab der 5. Klasse aufgezeigt werden (1). Es soll rekonstruiert werden, wie sich die Anforderung an Schüler, sich im Unterricht allgemein zu einem vorgegebenen Unterrichtgegenstand zu äußern, im Laufe der Schulzeit durchsetzt, und wie die Verinnerlichung dieser Anforderung dazu beiträgt, Schüler in ein öffentliches Verhalten einzusozialisieren.

Die Ausschnitte, die für diese Rekonstruktion herangezogen werden, sind dabei solche, an denen die Entwicklung der Geltung der Regel, dass ein Wortbeitrag im klassenöffentlichen Unterricht mit einer Meldung angezeigt werden muss, abgelesen werden kann. Der Grund für die Wahl dieses empirischen Zugangs liegt darin, dass die unterrichtliche Melderegel der zentrale Mechanismus ist, durch den die Anforderung, dass im Unterricht nur allgemein zur Sache gesprochen werden darf, durchgesetzt wird.

Im Kontrast zur 1.Klasse  herrscht in der 4. Klasse zwischen Schülern und Lehrern bezüglich der Regel, dass nur klassenöffentlich im Unterricht sprechen darf, wer sich gemeldet hat und drangenommen wurde, große Einigkeit. Auch die Anforderung, dass das klassenöffentliche Rederecht nicht missbraucht werden darf, um von persönlich bedeutsamen Erlebnissen zu berichten, sondern dass Wortbeiträge sich auf den vorgegebenen Gegenstand des Unterrichts zu beziehen haben, hat sich mittlerweile durchgesetzt. Die Situationsdefinitionen von Lehrern und Schülern haben sich also einander deutlich angeglichen. Hier ein Ausschnitt aus einem Transkript einer Unterrichtsstunde einer 4. Klasse, in dem sich ein für diese Klassenstufe typisches und für die Geltung der Melderegel strukturell aufschlussreiches Interaktionsmuster zeigt:

A)
Sm10:  8000
Lw: {leiser}  davon das Doppelte?  {gibt Sw10 ein Zeichen}
Sm2: {meldet sich}  Bitte!
Sw10:  12000
Sm11:  {meldet sich} Nein, nein, nein.
Einige Schüler: {melden sich} Bitte, bitte.
Lw: Nicht schreien.
Sw10: 10000
Sw7: {meldet sich} Nein. Bitte, bitte.
Lw: {zu Sm10} Sag Du noch mal, was Du gesagt hast.
Sm10: Wie? 8000.
Lw: Das doppelte?
Sm9: {meldet sich} Ich weiß es.
Sm4: {meldet sich} Och bitte.
Sw7: Bitte.
Lw: Das weiß die Sw10 auch.
Sm4:  Och man!
S?:  Man.

Das klassenstufentypologisch auffälligste Merkmal des sich in diesem Unterrichtsprotokollausschnitt ausdrückenden Verhaltens der Schüler zu der Frage der Geltung der
Melderegel, ist eine eigentümliche Gleichzeitigkeit aus strikter Einhaltung der Melderegel und einem Leiden an dem Verbot, sich nicht spontan klassenöffentlich äußern zu dürfen, wenn man eine Antwort auf die Frage des Lehrers geben will. Im Gegensatz zu Protokollen der 1. Klasse spricht kein Schüler mehr unangemeldet die Lehrerin an, sondern alle Schüler halten sich strikt daran, dass nur der Schüler inhaltlich etwas klassenöffentlich äußern darf, der drangenommen wurde.

Für die unterrichtsgesprächslogische Position der Lehrer im Unterricht bedeutet dies: Während in der 1. Klasse die spontan vorgebrachten individuellen Anliegen der Schüler die Lehrer ständig dazu nötigten, diese an die Melderegel zu erinnern, um so überhaupt erst die formalen Voraussetzungen für ein klassenöffentliches Unterrichtsgespräch zu schaffen, ist die Position des Lehrers in der 4. Klasse deutlich unproblematischer. Sie besteht, nachdem sich die Geltung der Melderegel durchgesetzt hat, im Wesentlichen darin, die sich nun meldenden Schüler einfach dranzunehmen, ohne ständig Ermahnungen aussprechen zu müssen. Das was der Lehrer nun vor allem zu beachten hat, ist, das Rederecht gleich zu verteilen. Mit einer besonderen Rigidität wird nämlich nun von Schülern darauf geachtet, dass niemand zu häufig oder zu wenig drankommt. Während die Schüler der 1. Klasse die Aufmerksamkeit des Lehrers mit den Mitteln des familialen Handlungsrepertoires auf ihre Anliegen zu ziehen versuchten – und dabei ständig enttäuscht wurden –, haben die Schüler der 4. Klasse die Geltung der Melderegel als Mechanismus der Rederechtzuweisung im schulischen Interaktionsraum akzeptiert und befolgen diese mit einer besonderen Konsequenz.

Wie groß allerdings die Entwicklungsaufgabe für Schüler der 4. Klasse noch ist, die Melderegel einzuhalten, anstatt sich, wie noch in der 1. Klasse, im Zweifel einfach individuell an den Lehrer zu wenden, wann es einem gefällt, und wie schwer die Last der Impulskontrolle wiegt, die mit der Melderegel verbunden ist, lässt sich an der folgenden Auswahl an Kommentaren ablesen, mit denen Protokollanten von verschiedenen Unterrichtsstunden der 3. und 4. Klasse die Begleiterscheinungen des Meldens bei den nun 8-10 Jahre alten Schülern beschreiben:

B)
Sm8:  {meldet sich} Eh, eh, ich weiß es, eh, eh. {trampelt mit den Füßen auf den Boden}
Sm3:  {schreit auf während er sich meldet} Äh, äh!
Sm11: {meldet sich wild schnipsend mit allerlei Gestikulation} Bitte, bitte Sm2! Ich bin dein bester Freund

SmH:  {SmH meldet sich bettelnd} Eh,Eh
Sm10:  > {etwas schneller gesprochen} Bitte, bitte, bitte! <> {sehr schnell gesprochen} Bitte, bitte, bitte! Einige Kinder schnipsen wild und rufen „ich, ich…“
Alle Kinder schnipsen und rufen durcheinander „ hier, hier… “ oder „ ich, ich „(4 sek.)

In gewisser Weise kann man sagen: So wie die ständigen Ermahnungen an die Schüler, sich zu melden, typisch für das Interaktionsgeschehen in der 1. Klasse sind, so ist das Betteln, Aufschreien, Trampeln, Schnipsen, das die Meldungen in den Beispielen begleitet, typologisch kennzeichnend für das Verhalten von Schülern in der 4. Klasse. Es ist offensichtlich, dass sich in Protokollen von 1. Klassen ähnliche Begleiterscheinungen des Meldens nicht finden lassen, weil Erstklässler einfach spontan los reden, wenn sie es nicht mehr aushalten, einen Gedanken zurück zu halten. Das äußere Problem der Lehrer, die spontan geäußerten Anliegen der Schüler mit Hinweis auf die Melderegel immer wieder zurückzuweisen, hat sich in der 4. Klasse mit der Durchsetzung der Geltung der Melderegel in ein inneres Problem für die Schüler verwandelt, ihre Anliegen selbst zurück zu halten.

Doch auch wenn es den Schülern noch schwer fällt, die Affektkontrolle, die mit der Melderegel verbunden ist, zu ertragen, so ist der allgemeine Fortschritt gegenüber der 1. Klasse offensichtlich: Muss dort allein der Lehrer die formale Struktur eines klassenöffentlichen Unterrichtsgesprächs verteidigen, indem er die spontan geäußerten individuellen Anliegen der Schüler durch den Hinweis auf die Melderegel ständig zurückweist, ziehen Lehrer und Schüler nun an einem Strang: Auch die Schüler verteidigen nun das Prinzip, dass nur sprechen darf, wer drangenommen wurde. So entsteht endlich das typische, bereits von Mehan beobachtete unterrichtliche Unterrichtsgespräch aus Lehrerfragen und Schülerantworten, bei dem alle Schüler immer mit der gleichen Frage beschäftigt sind (Mehan 1979). Nehmen Schüler in der 1. Klasse den Erhalt des Rederechts noch häufig wahr, um rein persönlich bedeutsame Geschichten zu erzählen, haben in der 4. Klasse in der Regel alle Schüler die Anforderung akzeptiert, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf den gleichen Gegenstand zu richten haben – dieser Gegenstand stellt in der 4. Klasse allerdings lediglich die Frage des Lehrers dar.

Damit ist sowohl der wesentliche Fortschritt im Vergleich zur 1. Klasse als auch die wesentliche Begrenzung des klassenöffentlichen Unterrichtsgesprächs in der 4. Klasse markiert. Der wesentlichste Fortschritt besteht darin, dass die Schüler nun die Tatsache eines für die ganze Klasse allgemeinverbindlichen Themas akzeptiert haben. Die Schüler der 4. Klasse haben ihr egozentrisches Weltbild hinter sich gelassen und die Anforderung akzeptiert, dass sie sich ausschließlich zu einem kollektiv vorgegebenen Unterrichtsgegenstand zu äußern haben.

Die wesentliche Begrenzung besteht darin, dass die Schüler sich mit ihren Wortbeiträgen nicht eigenständig auf die Sache des Unterrichts beziehen, sondern sie ihre Teilnahme am Unterrichtsgespräch auf die Beantwortung der Lehrerfragen beschränken. Das allgemeinverbindliche thematische Zentrum des Unterrichts ist in der 4. Klasse sozusagen nicht die Sache selbst, sondern es sind die Fragen des Lehrers zu der Sache(2). Die Schüler werden der Anforderung, sich in klassenöffentlichen Äußerungen ausschließlich allgemein zur Sache des Unterrichts zu äußern, also nur insofern gerecht, als sie äußerlich die Regel befolgen, dass man sich in klassenöffentlichen Äußerungen auf die Beantwortung der Lehrerfrage zu bescheiden hat. Auf eine innere Akzeptanz dieser Anforderung lässt dies noch nicht schließen.

Fußnoten:

(1) Die für die vorgestellte Untersuchung analysierten Unterrichtstranskripte wurden sämtlich aus dem von Prof. Andreas Gruschka an der Universität Frankfurt am Main ins Leben gerufenen APAEK-Archiv bezogen. Dieses Archiv enthält eine umfangreiche Sammlung von verschiedensten Protokollen der schulischen und unterrichtlicher Realität, die der rekonstruktionslogisch orientierten Schul- und Unterrichtsforschung als Datenbank zur Verfügung gestellt wird. Für die außerordentlich großzügige Zugriffsmöglichkeit auf dieses Archiv sei Herrn Gruschka an dieser Stelle herzlich gedankt!

(2) Das bedeutet natürlich nicht, dass die Schüler nicht innerlich an der Sache orientiert sein können – auf der Ebene der Sprechakte antworten die Schüler jedoch fast ausschließlich auf die Fragen der Lehrer, ohne eigene Fragen zum Gegenstand des Unterrichts zu formulieren.

Literaturangabe:

Mehan, H. (1979): Learning Lessons. Social Organization in the Classroom, Cambridge, London

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