Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die folgende Untersuchung wird die „vier Wände“ des Klassenzimmers nicht verlassen (vgl. Fälle 1-7 Breidenstein-Klassenräume), aber der Klassenraum, der uns zunächst die situative Einheit des Unterrichtsgeschehens zu verbürgen scheint, wird sich bei genauerer Analyse in eine Vielzahl einander überlagernder, sich durchdringender und überschneidender Räumlichkeiten auflösen.

Wenn die Hoheit der Lehrerin über den akustischen Raum nicht nur kurzfristig, sondern insgesamt gefährdet ist, so wird dies (zumindest vom externen Beobachter) als handfeste Krise erlebt.

Ich wundere mich über ein durchdringendes metallenes Geräusch, das den Lärmpegel durchdringt. Es muss sich um einen Walkman handeln. Ich entdecke Gerd, der Stöpsel in den Ohren hat. Er sitzt allerdings zwei Tische entfernt, muss also eine ziemliche Lautstärke drauf haben! (Hier läuft ja einiges „aus dem Ruder“, denke ich etwas entsetzt.) Die Lehrerin hat offenbar ein Unterrichtsgespräch o.ä. schon fast aufgegeben. Sie beschränkt sich nahezu darauf, immer mehr an die Tafel zu schreiben, was die Schüler abschreiben sollen. Einige der Stichworte scheinen von vorne sitzenden Schülerinnen erläutert zu werden, was aber hier hinten nicht zu verstehen ist. Die Lehrerin schreibt Begriffe wie „Hofkapellmeister“, „Konzertmeister“, „Musiker“, „Tafelmusik“, „Kantor“ etc. an die Tafel und versieht sie jeweils mit kurzen Erläuterungen. Mirko und auch Tonne schreiben alles ab, aber das Kalkül der Lehrerin (falls es ein solches ist), dass die Schüler soviel schreiben müssen, dass sie ruhig sind, geht keineswegs auf, der Lärmpegel steigt immer weiter an.

Der Verlust der Hoheit über den akustischen Raum führt dazu, dass die Lehrerin auch ihre territorialen Ansprüche auf das ganze Klassenzimmer aufgibt und sich in den Tafelbereich zurückzieht. Schriftlichkeit (Visualität) erweist sich als der letzte Anker, um „Unterricht“ formal noch aufrecht zu erhalten, wo die Ordnung in der Dimension des Akustischen zusammengebrochen ist.
Doch die geschilderte Situation ist als „Krise“ und „Grenzfall“ von Unterricht zu verstehen. Normalerweise kontrolliert die Stimme der Lehrerin die Sphäre der Öffentlichkeit, jene Lautstärke, die sich an die ganze Klasse wendet. Auch auf dem Tonband, mit dem die Ethnographin die akustische Dimension des Unterrichtsgeschehens aufzeichnet, ist die Stimme der Lehrerin die einzige, die durchgängig zu verstehen ist die überhaupt verhindert, dass sich die Audioaufzeichnung in verstreutes Gebrabbel und Gemurmel auflöst. Deutlich wird auf dem Tonband die Gleichzeitigkeit des akustischen Geschehens im Klassenzimmer: Eine Vielzahl von Stimmen ist in unterschiedlicher Lautstärke überund nebeneinander zu hören. Die Ethnographin, die zunächst frustriert war, weil sie von großen Teilen dessen, was um sie herum offensichtlich geschah, den geflüsterten Unterhaltungen der Schülerinnen, ausgeschlossen war, macht eine überraschende Entdeckung, als sie eine Schülerin bittet, sich das Mikrophon für die Unterrichtstunde an den Kragen zu heften: Das Gerät zeichnet jetzt relativ klar auf, was für das Ohr der in unmittelbarer Nähe sitzenden Ethnographin kaum zu vernehmen gewesen war. Ein willkürlicher Auszug aus der Tonspur (als Transkription visualisiert):

Lehrerin: So dann schlagt doch ma jetzt bitte eure Bücher auf- dazu-
Kathi: Mergst och jor nischt he?
Olga: Hm- was?
Lehrerin: – und zwar auf der Seite einhundertsechszehn
Kathi: Du mergst och goar nischt
Olga: Was denn?..
Lehrerin: Da woll ma jetzt ma so ’n pa Sätze –
Olga: Was is denn?
Lehrerin: – als Futur im Konjunktiv wiedergeben
Olga: Was habt ihr jetzt schon wieder gemacht?
Lehrerin: Seite einhundertsechzehn
Olga: Kathi? Was is den jetzt gemacht?.. Warst du das jetzt? Was war ’n jetzt? Was hast ’n jetzt gemacht?
Kathi: Muß de ma Josephine fragen
Lehrerin: Aufgabe vier
Kathi: Haha
Olga: Macht doch ma weg was immer das sein soll- (flehend) bitte… Oh na Danke
Lehrerin: So lest mir jeweils erst ma den Satz vor fang ma ma an mit dem Beispiel- und dann woll ma überlegen was heißt es und wie müßt es dann latainisch richtig- formuliert heißen: Also wer liest am das Beispiel?

Olga trägt das Mikrophon und das Gerät zeichnet nicht nur die Stimme der Lateinlehrerin auf, sondern auch Olgas leise Unterhaltung mit ihrer Nachbarin. Es handelt sich um zwei parallele Abläufe, die Arbeitsanweisungen der Lehrerin und Olgas etwas rätselhafte Erkundigungen bei Kathi, die offenbar nichts miteinander zu tun haben, die sich aber auch nicht gegenseitig zu stören scheinen. Die beiden Abläufe finden in zwei unterschiedlichen akustischen Räumen statt, die durch unterschiedliche Lautstärken differenziert werden: Jenem umfassenden, allgemeinen, in dem die Lehrerin agiert, und einem kleineren, begrenzten, der über Olga und ihre Nachbarin nicht hinausreichen dürfte. Vermutlich gibt es parallel zu dem durch das Gespräch Olgas und ihrer Nachbarin begründeten Raum noch andere akustische Separaträume, so dass sich die Struktur der akustischen Räume im Klassenzimmer etwa folgendermaßen darstellen lässt:

Ähnlich den visuellen Räumen handelt es sich also auch in der akustischen Dimension um ineinander verschachtelte, einander überschneidende Räume, die jedoch anders als im Falle der Visualität, nicht durch Sichtfelder begrenzt sind, sondern durch die Reichweite des Hörsinns der Beteiligten. Während im Bereich der visuellen Räume die wesentliche Strategie des Verbergens nichtoffizieller Aktivitäten in der Kontrolle des Blickverhaltens der Lehrerin liegt, besteht sie im Reich der Akustik in der Anpassung der eigenen Lautstärke an die Reichweite des Hörsinns der Lehrerin – und vor allem an den allgemeinen Geräuschpegel. Nicht zuletzt in der Rede der Lehrerin kann man eigene akustische Aktivitäten „verstecken“! 1
Der durch den Hörsinn der Lehrerin errichtete Raum ist zwar auch mobil wenn sie den Standort im Klassenzimmer wechselt, verschiebt sie auch die Reichweite ihres Gehörs, aber diese Bewegungen sind bei weitem nicht so schnell wie die Verschiebungen ihres Gesichtsfeldes. Inoffizielle akustische Sonderräume lassen sich deshalb auch etwas länger aufrecht erhalten. Im Unterschied zum visuellen Raum gibt es in der Dimension des Akustischen Ansätze von „Privatheit“ im Klassenzimmer. Das Flüstern mit der Nachbarin mag zwar für andere sichtbar sein – zu verstehen ist es nicht.
Auf die elementare soziologische Relevanz der einzelnen Sinne hat bereits Georg Simmel (1993 (1907), S. 287) aufmerksam gemacht: Während der Gesichtssinn die Individualisierung vorantreibe, sei der Hörsinn in der Regel der verallgemeinernde: „Unter gewöhnlichen Umständen können überhaupt nicht allzu viel Menschen ein und denselben Gesichtseindruck haben, dagegen außerordentlich viele denselben Gehörseindruck“. Oder bezogen auf die vorgelegten Analysen: die visuellen Räume der einzelnen Teilnehmer können sich zwar überschneiden, aber schwerlich vollkommen übereinstimmen, während zumindest eine Ebene des akustischen Geschehens als eine allgemeine und ‚öffentliche‘ gelten kann. Wenn jedoch etwas Gesprochenes der potentiellen Öffentlichkeit des Akustischen nicht entspricht, sondern nur für einen einzigen Hörer bestimmt ist, resultiere daraus eine „unvergleichliche soziologische Färbung“ dieser Mitteilung, schreibt Simmel (ebd., S. 286).
Die Möglichkeit der Errichtung von „privater“ akustischer Kommunikation ist allerdings geknüpft an unmittelbare Nachbarschaft: Nur direkt nebeneinander sitzende Schülerinnen können sich so miteinander unterhalten, dass niemand anderes es versteht.

Fußnoten

(1) So heißt es etwa in einer Notiz von Hedda Bennewitz: Wenn die Lehrerin spricht, dann sprechen auch die Schülerinnen und Schüler. Wenn diese schreibt, reden sie nicht.

Literatur

Simmel, G.: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Band II. Frankfurt a. M. 1993

Mit freundlicher Genehmigung des Budrich Verlages.
http://www.budrich-journals.de/index.php/zqf

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