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Falldarstellung

Konfirmation der Grenze der Klassengemeinschaft

Der Türbereich bietet den Schülern der Klasse die Möglichkeit, durch das Schließen der Tür und durch den Verweis und das Hinausdrängen nicht zur Klasse gehörender Kinder eine Grenze zu markieren und täglich neu zu konfirmieren, die die Klassengemeinschaft (auch außerhalb des Unterrichts und ohne die Beteiligung von Lehrern) von anderen Interaktionssystemen der Schule unterscheidet. Im Folgenden eine kurze Szene, die in ähnlicher Form immer wieder beobachtbar ist (1):

Klasse 4y, 15.03.1999, Übergang Pause – Unterricht (10h25)

Alle Schüler der klasse befinden sich nach der Hofpause wieder im Klassenzimmer. Die Tür ist ganz geöffnet. Martin, Birgiel und Hanna sitzen auf ihren Stühlen, Paul auf seinem Tisch. Binol, Cennel und Andre stehen an den Tischen von Andrea, Lore, Sybille und Hanna diesen gegenüber und unterhalten sich. Andre macht eine Dreiviertel-Drehung um sich selbst, zieht dabei seinen bereits zuvor andeutungsweise heruntergezogenen Anorak aus und geht in Richtung der klassenrauminternen Garderobe neben der Tür.

Im Türdurchgang erscheint ein etwa gleichalter, nicht zur Klasse gehörender Junge. Andre sieht ihn, schreit ihn an: „Hau ab, Mann!“ und geht weiter (in diese Richtung). Paul wendet Kopf und Oberkörper dem in der Tür erschienenen Jungen zu. Als Andre noch ca. zwei Meter von der Tür bzw. dem Jungen entfernt ist, weicht dieser langsam von der Türschwelle zurück in den Flur. Andre geht an ihm vorbei zur klassenrauminternen Garderobe. Er behält dabei den Jungen die ganze Zeit im Blick.

Zeitgleich verläßt Cennet Lores und Andreas Tisch und geht ebenfalls in Richtung Tür. Sie blickt kurz auf die dortige Szenerie, reagiert jedoch nicht weiter erkennbar darauf, sondern schaut in Richtung Tafelbereich, von woher sich Lisa und Birgiel nähern.

Paul steht von seinem Tisch auf und drängt sich an Andre, der seinen Anorak aufhängt, vorbei zur Tür. Der nicht zur Klasse gehörende Junge verschwindet aus dem Türdurchgang. Paul stellt sich, von innen kommend, auf die Türschwelle, hält sich an der linken Seite des Türrahmens fest, beugt sich zur Tür hinaus, schaut draußen nach links und schreit dem Jungen etwas hinterher.

Interpretation

Die Grenzsicherung bedarf hier keiner Absprache. Scheinbar selbstverständlich greifen die Reaktionen der Klassenmitglieder so ineinander, dass sie insgesamt dazu führen, dass der Türbereich wieder frei von nicht zugangsberechtigten Personen ist. In dieser selbstverständlichen, mimetisch ineinandergreifenden Ab- und Ausgrenzung zeigt und rekonstituiert sich Klassengemeinschaft.

Wie geschieht dies hier? Zwar bekommt Andre den klassenexternen Jungen nur zufällig, nämlich auf dem Weg zur neben der Tür angebrachten Garderobe, in den Blick. Dann setzt jedoch prompt eine Reaktion ein, die sich angesichts ihrer alltäglichen Wiederholung und der symbolischen Verwendung der Tür als Grenze einer Gemeinschaft als rituelle Sequenz oder Ritualisierung bezeichnen lässt. Andres Ton ist aggressiv. Das dem strikten Befehl „Hau ab!“ folgende „Mann!“ ist der Peersprache entlehnt und unterstreicht damit, dass hier nicht die bloß institutionell-organisatorische Grenze einer Schulklasse, sondern die Grenze einer Gemeinschaft dieser Klasse gesichert wird. Die Anrufung als „Mann!“ betont zugleich das Geschlecht des Gegenübers und unterstreicht als Botschaft „von Mann zu Mann“ den Ernst des Befehls und das Risiko körperlicher Auseinandersetzung bei dessen Nicht-Befolgung. Dennoch führt der Befehl selbst vorläufig nur – aber immerhin – dazu, dass ein Klassenkamerad (Paul) ebenfalls auf das Problem der Sicherung der Klassengemeinschaftsgrenze aufmerksam wird. Hingegen erweist sich der Befehl allein nicht als ausreichend, um den klassenexternen Jungen zum Rückzug zu bewegen. Ein solcher Rückzug deutet sich erst an, als Andre sich dem Jungen nähert. Andre scheint sich mit diesem allmählichen bzw. halben Rückzug zufrieden zu geben. Ihm genügt offenbar die Pattsituation und deren Kontrolle durch permanenten Blickkontakt im Vorbeigehen. Paul genügt dies nicht. Er schaltet sich als Vollstrecker jener Aggression ein, die Andres „Hau ab, Mann!“ androht. Während Andres Türannäherung von dem klassenexternen Jungen angesichts des von Andre in der Bewegung ausgezogenen und vor sich hergetragenen Anoraks als Teil des Weges zur Garderobe erkannt und die Drohung dementsprechend als bloße Absicherung gegen weiteres Eindringen gedeutet werden kann, steht Paul angesichts der Geschwindigkeit, Gerichtetheit, Dringlichkeit („…drängt sich an Andre vorbei zur Tür“) und Gestik seiner Bewegung erkennbar nur zu dem Zweck von seinem Tisch auf, sich dem Jungen rasch feindlich zu nähern. Nun erst wirkt die Drohung. Der nicht zur Klasse Gehörende verschwindet vom Schwellenbereich.
Cennets inaktive Partizipation an der Szene ist nicht ohne Bedeutung für die Frage einer gemeinsamen Grenzziehung der Klassengemeinschaft. Sie duldet das Verhalten ihrer Mitschüler. Dass ihrem kurzen Blick auf die Szene keine Intervention zugunsten des Klassenexternen folgt, ermutigt und bekräftigt deren Vorgehen.
Die gesamte Interaktionssequenz lässt sich als von Klassenmitgliedern ineinandergreifend vollzogenes Ritual der Ausgliederung eines Nichtmitglieds verstehen, mittels dessen eine Grenze der Klassengemeinschaft konfirmiert wird. In der Klasse 5x wird die Grenzsicherung dagegen insbesondere von einem bestimmten Jungen übernommen, der im folgenden Beispiel Uzman genannt wird. Er ist so häufig im Türbereich präsent, hantiert mit der Tür und scheint dabei um die Sicherung des Türbereichs bemüht, dass man ihn als eine Art Türwächter der Klasse bezeichnen kann, der stellvertretend jene Ritualisierungen der Klassengemeinschaftsgrenze vornimmt, die in der Klasse 4y von mehreren gemeinsam vollzogen werden. Überhaupt fällt beim Vergleich der beiden Klassen auf, dass die Tür der Klasse 5x viel häufiger (durch einen Schüler) von innen geschlossen wird als die Tür der Klasse 4y, sowie dass die Schüler der Klasse 5x seltener direkt zu ihrem Platz bzw. zur Garderobe gehen und viel häufiger den Raum noch einmal verlassen als die der Klasse 4y. Die Klasse 5x verfügt, so könnte man es im Vergleich zur Klasse 4y formulieren, über keinen hohen schulaffirmativen Zusammenhalt. Die ihr angehörenden schulaffirmativ orientierten Peers bedürfen eines eigenen Türschließers und einer geschlossenen Tür, um ihren eigenen Zusammenhalt zu stabilisieren.

Fußnoten:

(1) Vergleiche hier und bei den folgenden empirischen Beispielen die entsprechende Sitzordnungsgrafik der Klasse 5x ((1. Version) und (2. Version)) sowie der Klassen (4y) und (5y) (…).

Literaturangabe:

Erdheim, Mario: Die Repräsentanz des Fremden. In: Ders.: Psychoanalyse und Unbewußtheit in der Kultur. Frankfurt/M. 1988, S. 237-251

Sitzanordnungen:

Mit freundlicher Genehmigung des VS-Verlages
http://link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-322-91361-6_4 

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