Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
- Die Tür als Schwelle und Grenze I, Falldarstellung 1
- Die Tür als Schwelle und Grenze I, Falldarstellung 2
- Die Tür als Schwelle und Grenze II, Falldarstellung 2
- Die Tür als Schwelle und Grenze III, Falldarstellung 1
- Die Tür als Schwelle und Grenze III, Falldarstellung 2
Falldarstellung
Klasse 5x, 16.03.1999, Übergang Pause – Unterricht (10h23)
Ömer kommt herein, geht in Richtung Mittelgang und wird auf flöhe der Tafel von einem, nun in der Tür stehenden, klassenexternen Jungen, der eine Wollmütze aufhat und älter wirkt, zurückgerufen. Unmittelbar nach dem klassenexternen Jungen kommen Ayla, Hatice und Medine dicht hintereinandergedrängt herein. Der Klassenexterne bleibt wenige Schritte nach seinem Eintritt, an den Schrank gelehnt, stehen. Ayla, Hatice, Medine, Ömer und der vom hinteren Teil des Raumes nach vorn gegangene und zu ihnen gestoßene Uzman stehen im türnahen Bereich zwischen Schrank und erster Tischreihe und bilden dort für kurze Zeit ein Oval, in dem die drei Mädchen den drei Jungen gegenüberstehen. Als Ömer das Oval verläßt, wird Hatice von Medine auf den Klassenexternen zugeschoben. Einen Moment schauen Hatice und der Junge einander an, dann wenden sich beide voneinander ab. Der Junge ruft Ömer etwas zu, woraufhin Ömer, der schon im Mittelgang ist, sich umdreht, ihm antwortet und dann wieder in Richtung Garderobe weitergeht. Im türnahen Bereich sind noch Hatice, Medine, Ayla, Uzman und der Klassenexterne, der weiterhin mit dem Rücken zum Schrank steht. Hatice stößt Medine von sich weg, geht weiter in den Raum hinein, dicht gefolgt, teilweise geschoben von Medine. Als Hatice Uzman passiert hat, schubst sie Medine zurück, geht selbst hinten um Uzman herum und stellt sich zwischen Uzman und den klassenexternen Jungen. Ayla tritt näher an die nun eng zusammenstehenden drei (klassenexterner Junge, Hatice, Uzman) heran, so daß ein Vierpersonenkreis aus zwei Jungen und zwei Mädchen entsteht. Auch Medine geht wieder zu der Gruppe und stellt sich, etwas außerhalb des Kreises, zu Hatice.
Uzman verläßt die Gruppe und geht zur Tür. Die Mädchen stehen nun zu dritt bei dem Klassenexternen, der immer noch am Schrank lehnt. Die Mädchen sprechen mit dem Jungen und lachen. Uzman steht in der Tür und schaut nach draußen auf den Flur. Tacim geht vom hinteren Bereich des Klassenzimmers zügig nach vorn zu der Gruppe, drängelt sich zwischen Hatice und Ayla durch, stellt sich vor die Tür, wendet sich verbal und gestikulierend an den klassenexternen Jungen und zeigt in Richtung Kamera bzw. Beobachter.
Der Junge schaut in die angezeigte Richtung. Ayla verläßt die Gruppe in Richtung Lehrertisch/Mittelgang. Der klassenexterne Junge winkt in Richtung Kamera/Beobachter und geht zur Tür hinaus. Hatice folgt ihm, drückt dazu die sich gerade schließende (offenbar von dem Jungen beim hinausgehen zugeworfene) Tür wieder auf, schaut kurz auf den Flur und geht hinaus. Medine folgt ihr auf dem Fuße. Ayla, die sich langsam in Richtung Mittelgang bewegt, begegnet noch vor Passieren der ersten Tischreihe Ömer, der vom hinteren Teil des Raumes nach vorn geht. Sie spricht kurz mit ihm und wendet sich wieder um in Richtung Tür. Ömer geht an ihr vorbei und hinter Medine zur Tür hinaus. Ayla folgt ihm rasch und verläßt ebenfalls das Klassenzimmer.
Interpretation
Das Beispiel zeigt ein recht komplexes Interaktionsgeflecht. Ein- und Austritt eines Klassenexternen hängen hier im Wesentlichen mit jenem – Unterrichtsvorbereitungen aufschiebenden, tendenziell schuloppositionalen – Verhalten der Peergroup zusammen, das eingangs als viertes von vier Eintrittsmustern von Klassenmitgliedern skizziert wurde. Darüber hinaus sind in dem vom Klassenexternen gewählten Standort und insbesondere im Impuls zu seinem Austritt sowie in der Form dieses Austritts Elemente zu erkennen, die an jene Ritualisierungen erinnern, die oben als Konfirmationen der Grenze der Klassengemeinschaft beschrieben wurden.
In Kurzform lässt sich das Geschehen im Hinblick auf den jetzigen Fokus etwa so deuten: Ein klassenexterner Junge betritt unter Anrufung eines im Raum präsenten Klassenmitglieds den Raum. In der Anrufung (Butler 1998) verbindet er sich mit der Macht einer über die institutionelle Zuordnung der Kinder zu Klassen hinweg bestehenden Peergroup. Seine Aktion kann sich offenbar auf eine Autoritätsstellung innerhalb dieser Peergroup stützen, die ihn berechtigt, Ömer zurückzurufen. Der Eintritt wird von dem betreffenden Klassenmitglied und anderen Klassenmitgliedern gebilligt, von einigen sogar durch freundschaftliche Annäherung und Kommunikation ausdrücklich unterstützt. Besondere Unterstützung erfährt seine Anwesenheit durch Mädchen, die sich um ihn herum in einer Form aufführen, die als eine Art ritueller Tanz gelesen werden kann. Der Klassenexterne wird in diesem Tanz auch als Fremder begriffen, allerdings nicht im Sinne der Nichtmitgliedschaft in einer Schulklasse oder einer Peergroup, sondern im Sinne des Nicht-Frau-Seins. Der Fremde ist hier eine gegengeschlechtliche Attraktion. Trotz dieser mehrschichtigen Zutrittslegitimation bleibt der Klassenexterne die ganze Zeit unmittelbar neben dem Türbereich stehen, an den dortigen Schrank gelehnt und damit sowohl gegen potentielle feindschaftliche Annäherungen von hinten geschützt als auch mit Blick über die ganze Klasse versehen. Die durch ein Klassenmitglied unter Hinweis auf die Kamera erfolgende Problematisierung des Eintritts genügt offenbar, um der schulorganisatorischen Klassenraumgrenze wieder zum Primat zu verhelfen, nicht jedoch der Klassengemeinschaft und ihrer Grenze. Denn zwar verlässt der Klassenexterne umgehend den Raum, jedoch folgen ihm all jene, die seine Anwesenheit im Raum durch freundschaftliche Annäherung und Kommunikation gestützt hatten. Bezugspunkt ist hier nicht der Lehrer oder die Lehrerin, sondern der etwas ältere, mit spezifischen Insignien (Wollmütze, „Die Kopfbedeckung. Zum rituellen Umgang mit einem Gebrauchsgegenstand.“) versehene gegengeschlechtliche Peer. Die Tür wird als Verbindung zwischen Klassenzimmer und Flur aktualisiert. Was sich in den Interaktionen der zuletzt erörterten Szene aus dem empirischen Material als Tabu, als heilig im Sinne Durkheims erweist, ist nicht die Türschwelle, nicht die mit ihr markierbare Grenze der schulorganisatorisch vorgegebenen Klasse, sondern der Zusammenhalt der Gleichaltrigengruppe und die gegengeschlechtliche Tanzaufführung. Der Umgang mit der Tür erweist sich als Spiel, in dem sich eine klassenübergreifende Peergemeinschaft konfirmiert.
Mit freundlicher Genehmigung des VS-Verlages
http://link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-322-91361-6_4
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