Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung

Die Tafel, ihr näheres Umfeld sowie das Lehrerpult stellen allgemein noch immer zentrale Orte des Unterrichtens dar. Hier werden Unterrichts­stunden eröffnet und beschlossen, mündliche und schriftliche Informationen übermittelt, Klassenarbeiten und Zeugnisse verteilt, hier werden Schüler durch die institutionelle Autorität gar manchmal – wie im folgenden Beispiel – herzitiert.

Der folgende Videoausschnitt setzt ein, kurz nachdem der Lehrer Maier den Englischunterricht angekündigt und die Schüler aufgefordert hat, die entsprechenden Hefte und Bücher hervorzunehmen. Alle Kinder sitzen auf ihren Plätzen:

Klasse 5x (Sitzordnung 1), 9.3.1999, Übergang Pause-Unterricht, 10h31:35 -10h32:28

Herr Maier geht vom Tafelbereich den Gang durch die Klasse. „So Englisch (.) Hefte.“ Er geht langsamen Schrittes rückwärts den Gang zurück, deutet auf Ömer: „Dein Heft!“. Die Rektorin kommt herein. Sie trägt eine Brille auf dem Kopf, hält in der Linken einen Stapel Blätter und geht langsamen Schrittes zum Bereich vor der Tafel. Der Lehrer geht rückwärts in Richtung Pult zurück. Plötzlich wendet er den Kopf zur Türseite und erblickt die Rekto­rin, die auf ihn zugeht. Er nickt ihr zu, sie sagt „Entschuldigung“ und bleibt bei ihm, in der Mitte des Tafelbereichs, vor der Klasse stehen, stemmt die Rechte in die Hüfte. Sie deutet mit der Rechten kurz auf den vorderen, an das Lehrerpult angrenzenden Tisch, an dem Tacim sitzt. Sabah läuft schnellen Schrittes zurück zu ihrem Sitzplatz. Ömer, der ein Heft hochgehoben hat, ruft fragend: „Herr Maier, meinen Sie das hier?“ und läßt das Heft wie­der sinken. Herr Maier wendet sich der Rektorin zu und reagiert nicht auf Ömer. Es wird allgemein leise. Herr Maier fragt: „Was ist denn?“ Nina, die an ihrem Sitzplatz steht, geht einen Schritt auf die Rektorin zu und schaut ihr ins Gesicht. Die Rektorin blickt gerade­wegs zu Tacim. Es herrscht ein Moment der Stille. „Wo warst Du gestern?“, fragt sie in bestimmtem Ton. (.) „Und wo ist Dein Heft?“ Der Lehrer geht einen Schritt zur Seite hinter sein Pult, Nina wendet sich ihrem Tisch zu. Nach einer kurzen Weile kommt Tacim schnellen Schrittes mit einem Heft von seinem Sitzplatz zur Rektorin, blättert im Heft und hält es ihr so unter die Augen, daß sie lesen kann. Mit dem Finger geht er zwei Zeilen in Leserichtung nach. Die Rektorin nimmt die Brille vom Kopf, zieht die Hand, die die Brille hält, nach unten, blickt kurz auf das Heft, dann auf Tacim und sagt laut: „… was vergessen worden ist: Jeden Morgen erscheinst Du bei mir, (.) jeden Mittag!“ Tacim blickt sie an und nickt mehrmals. Der Lehrer, die Hände auf das Pult gestützt, blickt zur Rektorin. Nina steht noch an ihrem Tisch und blickt, wie die Mehrzahl der Mitschüler, gebannt auf die Rektorin und das Geschehen im Tafelbereich. Die Rektorin tritt zwei Schritte zurück, holt dabei mit der Rechten weit aus und setzt die Brille wieder auf den Kopf. Tacim hält das Heft noch einen Moment, klappt es dann zu und geht zu seinem Sitzplatz. Der Lehrer nickt mehrmals und sagt an die Rektorin gewandt: „Ich soll ihn nicht daran erinnern?!“ Die Rektorin streckt die flache rechte Hand abwehrend aus, in Richtung Herrn Maier: „Müssen Sie nicht.“ Herr Maier: „Das soll er selber machen.“ „Das ist seine Sache!“ sagt die Rektorin zeitgleich und deutet mit der flachen Hand auf Tacim. Herr Maier, noch immer die Arme auf das Pult gestützt, nickt, blickt nach unten und ruft: „Tacim!“ Die Rektorin wendet sich ab und verläßt den Raum. Der Lehrer (wie viele der Kinder) schaut der Rektorin nach.

Interpretation

An der Schwelle zum Unterricht, als alle Schüler bereits die Ruheposition des Sitzens eingenommen haben – als deutliches Signal einer Unterrichtsbereit­schaft – und der Lehrer die inhaltliche Rahmung „Englischunterricht“ voll­zogen hat, betritt die Rektorin das Klassenterritorium. Die Unterrichtsrequisi­ten der Schüler kontrollierend, kehrt der Lehrer rückwärtsgehend wieder in sein Refugium Tafelbereich zurück. So wird er erst verspätet der Präsenz der ihm übergeordneten schulischen Autorität gewahr. Die Gegenwart der Rekto­rin bewirkt per se, d.h. ohne jegliche Aushandlung, eine vorübergehende Suspendierung des Englischunterrichts, sowohl auf seiten des Lehrers als auch der Schüler, die ihre begonnenen Handlungen entweder schnell zu Ende bringen (Sabah) oder abbrechen (Ömer). Dem Unterricht übergeordnete, durch die Rektorin repräsentierte institutionelle Belange wird die Priorität zugestanden. Gemäß der hierarchischen Ordnung verläuft der Interaktions­prozeß zunächst über den Lehrer, dem gestisch durch Herausdeuten eines Schülers knapp das Anliegen kundgetan wird, und geht dann unumwunden über auf den eigentlichen Adressaten des außerordentlichen Auftritts der Rektorin im Klassenterritorium: den Schüler Tacim. Die räumliche Positio­nierung, die die mit entsprechenden Requisiten (Stapel Blätter, Lesebrille auf dem Kopf) ausgestattete Rektorin vornimmt, entspricht dieser „Amtshand­lung“: Sie bleibt in machtvoller Pose im Tafelbereich, nahe des Pultes bei dem offensichtlich unvorbereiteten Lehrer stehen. Dieser Bereich wird förm­lich zur Bühne der Szene, der übrige Raum zum Zuschauerraum. Ähnlich dem Auftakt eines Schauspiels breitet sich unter den Zuschauern allgemeines Schweigen aus. Die Frage des Lehrers („Was ist denn?“) läßt die Rektorin unbeantwortet, sie fixiert den Schüler Tacim und befragt ihn in Form eines Verhörs. Herr Maier, der hier nicht zu den Hauptakteuren des Stückes zählt, tritt entsprechend schweigend in den Hintergrund der Bühne, hinter das Pult. Der Platz wird frei für den Akteur Tacim, der zur Rektorin in den Tafelbe­reich eilt, ihr die Fragen mittels eines schulischen Requisits zu beantworten: Er zeigt das Heft, nach dem sie fragte, und deutet auf einen schriftlichen Vermerk, der sein durch die Rektorin problematisiertes Fernbleiben am Vor­tag scheinbar legitimiert. Ohne diesem Legitimationsbeweis Aufmerksamkeit zu schenken, macht die Rektorin gegenüber Tacim eine bereits in der Ver­gangenheit geforderte, gleichwohl mißachtete Verhaltensregel erneut geltend, eine individuelle Verhaltensregel, welche die offensichtlich von seiten des Lehrers fehlende Kontrolle über Tacims Verhalten sichern soll: die alltägli­che, zweifache, den Schultag rahmende face-to-face-Konfrontation mit der höchsten innerschulischen Autorität. Nicht nur diese Sanktion, auch die aktu­elle Szene dokumentieren in ausgeprägter Weise die Asymmetrie der Kom­munikation zwischen Schulleitung und Schülern, hier insbesondere gegen­über Tacim. Diese Degradierungszeremonie wird dadurch noch zur Spitze getrieben, daß sie von seiten der Rektorin öffentlich inszeniert wird, d.h. in sie die übrigen Anwesenden als Zuschauer der Sanktion, als öffentliches Publikum miteinbezogen werden, und zwar nicht nur die schweigenden Schüler, auch der schweigende, in den Hintergrund getretene Lehrer. Die öffentliche Sanktionierung eines einzelnen Schülers hat einen demonstrativen Charakter der institutionellen Macht, der Tacim sich öffentlich beugt, zu beugen hat: er schweigt (wie die übrigen Anwesenden) und nickt brav mit dem Kopf.

Es folgt der, institutionelle Macht in Körperbewegung und Gesten insze­nierende, Abgang der Schulleitung von der Bühne, der mit der Wiederauf­nahme einer Rolle als Akteur vor der Klasse durch den Lehrer kollidiert. Zunächst validiert der Lehrer durch Kopfnicken die Maßnahme der Schullei­tung und vergewissert sich dann, ob ihm eine Kontrollaufgabe bezüglich der ausgesprochenen Verhaltensregel zukommt. Dies wird von der Rektorin in zurechtweisender Form gestisch-verbal verneint: Teil des von Tacim gefor­derten Verhaltens ist die Verlagerung der Kontrolle nach innen, und zwar als Selbstkontrolle: „Das ist seine Sache.“ Die Anrufung des Schülernamens seitens des Lehrers schließt genau an diese Aufforderung zur Selbstkontrolle an. Die Interaktion zwischen Rektorin und Tacim sowie zwischen Rektorin und Lehrer macht deutlich, daß die Ausübung der Verhaltenskontrolle in letzter Instanz innerschulisch bei der Rektorin liegt, d.h. hierarchisiert ist. In diese Kontrolle über das Schülerverhalten ist partiell die Kontrolle über das Lehrerverhalten eingelagert, hier deutlich in der Zurückweisung des Lehrers, an dieser Kontrolle zu partizipieren. Erkennbar wird hier die asymmetrische Struktur der Kommunikation zwischen Rektorin und Lehrer, dessen Autorität öffentlich unterhöhlt wird. Mit der Anrufung des Schülers gewinnt der Lehrer die durch die Rektorin suspendierte Rolle des Akteurs in der Schulklasse partiell zurück.

Diese Szene an der Schwelle zum Unterricht dokumentiert in besonderer Weise die Wirksamkeit performativer Elemente für den Handlungszusam­menhang, in den alle Beteiligten, ob als Zuschauer oder Akteur, einbezogen sind. Neben Gesten, Accessoires, körperlicher Symbolik und dem performa­tiven Gehalt des Sprechens und Schweigens gewinnt die räumliche Positio­nierung im Klassenraum eine besondere Bedeutung für die sich entfaltende Dramaturgie. Der Tafelbereich fungiert hier nicht nur als Bühne dieser Szene, er wird zum räumlichen Zentrum der institutionellen Macht, welche sich in der Gestalt der Rektorin verkörpert. Schweigen, Demut und hohe Aufmerk­samkeit aller übrigen Anwesenden markieren diese rituelle Inszenierung des institutionell Heiligen.

Mit freundlicher Genehmigung des VS-Verlages
http://link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-322-91361-6_4 

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