Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Um den Zusammenhang von Peermilieus und Schule zu untersuchen, wurden Gruppendiskussionen (vgl. Loos/Schäfer 2001) und ethnographische Beobachtungen (vgl. Vogd 2005) an einer als problematisch geltenden Berliner Hauptschule [1] durchgeführt und mit der dokumentarischen Methode (vgl. Bohnsack 2003) interpretiert.[2]

Die dokumentarische Methode findet ihre Wurzeln in den wissenssoziologischen Arbeiten Karl Mannheims (vgl. 1964, 1980) und ist maßgeblich von Ralf Bohnsack und dessen Forschungsumkreis ausgearbeitet und weiterentwickelt worden (vgl. Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2001, Bohnsack/Schäffer/Przyborski 2006).

Im Zentrum der dokumentarischen Methode steht ein methodologischer Perspektivenwechsel, der sich mit dem Wechsel von den Was- zu den Wie-Fragen charakterisieren lässt (vgl. Bohnsack 2003, S. 64). Durch die Einklammerung des Geltungscharakters (vgl. Bohnsack 2003, S. 59) und die Relationierung der Standortgebundenheit wird der erzähl- und praxisstrukturierende modus operandi eines Textes fokussiert. Das Spezifikum eines modus operandi wird dabei durch die für die dokumentarische Methode zentrale Interpretationspraxis der komparativen Analyse rekonstruiert.[3] Bei der komparativen Analyse geht es darum, durch Relationierung und Vergleich innerhalb eines Falls, sowie durch fallübergreifende Vergleiche die Standortgebundenheit des Interpreten und dessen Interpretationshorizontes, durch empirische Vergleichshorizonte zu relativieren. Ziel ist die Erstellung einer mehrdimensionalen Typenbildung, das heißt die Darstellung von fallübergreifenden und praxisstrukturierenden Mustern. Die folgenden Darstellungen setzten auf dieser Ebene ein.

Antagonistische, subversive und affirmative Habitusformen zwischen den sozialen Feldern der Vorder- und der Hinterbühne

Anhand der Gruppendiskussion ließen sich drei unterschiedliche Habitusformen und zwei zu unterscheidende Feldformen rekonstruieren.[4] Entsprechend einer Theorie der Praxis im Sinne Pierre Bourdieus wird dabei der Habitus als ein Generierungsprinzip für Denk-, Fühl- Wahrnehmungs-, und Handlungsmuster verstanden, wohingegen sich der Feldbegriff vor allem auf soziale Eigenlogiken bezieht, die sich jenseits einzelner Akteursintentionen vollziehen. Im Folgenden sollen anhand von Materialausschnitten unterschiedliche Habitusformen von Peergroups in ihrer Auseinandersetzung mit Feldern der Schule dargestellt werden. Die gewählten Textausschnitte können dabei nicht die empirischen Re-konstruktionen in Gänze wiedergeben[5] vielmehr soll es darum gehen einige Ergebnisse der Studie zu illustrieren.

Interviewt wurden Peergroups der achten bis zehnten Klasse, wobei sich die Habitusformen als Altersklassen übergreifend rekonstruieren ließen.

Der folgende Ausschnitt wurde einer Gruppendiskussion mit drei Jugendlichen der neunten und zehnten Klasse entnommen.

Susan berichtet hier von ihren Aktivitäten im Unterricht. Nachdem in der Gruppendiskussion das Erleben von „Langeweile“ eine zentral Rolle für die Jugendlichen gespielt hat, an dem sie sieht thematisch immer wieder abarbeiten, sagt Susan auf die Frage, was sie im Unterricht so machen, wenn ihnen langweilig, ist folgendes:

Susan zeigt hier, dass sie eine spezifische Form entwickelt hat, um aus dem alltäglichen Unterrichtsgeschehen auszusteigen, sie lacht und quatscht und zwar „die ganze Zeit nur“. Es wird deutlich, dass Susan sich nicht an die gängigen Regeln der Schule hält, indem sie ausgiebig Peerinteraktionen in der Unterrichtszeit nachgeht. Weniger der schulische Unterricht und die damit verbundenen Regeln und Erwartungshaltungen stehen für Susan im Vordergrund, sondern die Interaktionspraxis mit den Freunden. Susan nutzt und instrumentalisiert den geographischen und sozialen Ort der Schule vor allem, indem sie ihn sich mit ihren Freunden durch gesellige Interaktion selbst gestaltet. So entsteht neben dem vordergründigen Unterricht eine zweite Sphäre, die die Jugendlichen abseits der institutionalisierten Erwartungshaltungen selbst gestalten. Im Anschluss an eine feldsoziologisch erweiterte Terminologie Erving Goffmans lässt sich der hier angesprochene Unterschied [6] als eine Differenz zwischen einem Feld der Vorder- und einem Feld der Hinterbühne kennzeichnen. Im Feld der Vorderbühne stehen nach Goffman (1969, 1972) die offiziellen Zwecke und Regeln der Institution im Vordergrund des Handelns. Im Feld der Hinterbühne findet hingegen vorrangig das Unterleben der Institution seine Aufführung. Auf die Institution der Schule übertragen ist, nach Jürgen Zinnekker, der Unterricht die zentrale Vorderbühne der Institution. Die Aktionen der Lehrer werden hier von den Schülern kritisch beobachtet, genauso wie die Lehrer für die Schüleraktionen Gutachter und ein kritisches Publikum darstellen. Nach Zinnecker (2001, S. 255) stabilisiert „das Zusammentreffen der beiden Hauptgruppen der Institution, also das Zusammentreffen von pädagogischen  Personal und Schülerklientel, (…) [Auslassung (F.v.R.)] die offizielle Handlungsebene der Institution“. Sobald beide Gruppen, Lehrer und Schüler, getrennt auftreten, kann sich jedoch das Hinterbühnengeschehen der Institution entfalten. Als Lokalitäten werden hier das Lehrerzimmer, die Unterrichtspause oder die Schülertoilette genannt. Diese Orte der Separiertheit haben für die unterschiedlichen Gruppen die Funktion, ohne die Beobachtung der Gegenseite intern ihre Differenzen mit dem Regelsystem bearbeiten und ausagieren zu können. Für Zinnecker (2001, S. 256) stellt die Hinterbühne daher eine notwendige Funktion der Schule dar: „die wechselseitige Absonderung ist um so notwendiger, als die Meinungen, die die Lehrer über die Schüler bzw. die Schüler über die Lehrer im Unterleben kundtun, stark von der offiziellen Regelung abweichen, was die beiden Gruppen übereinander denken sollten“. Aus diesen Ausführungen wird deutlich, dass die Differenz zwischen den Feldern der Vorder- und der Hinterbühne nicht an Personen gebunden ist, sondern sich eigenlogisch und regelmäßig innerhalb der Institution der Schule reproduziert.

Während Zinnecker in seiner Studie noch stark die Separiertheit von Vorder- und Hinterbühne herausstreicht, zeigt gerade das oben genannte Beispiel die Überlagerung der Felder von Vorder- und Hinterbühne. Die Praxen der Hinterbühne von Lachen und Quatschen treten bei Susan explizit im Feld der Vorderbühne auf. Eine Studie, die dem Umstand der Gleichzeitigkeit von Vorder- und Hinterbühne gerecht wird, findet sich in der auch mit der dokumentarischen Methode arbeitenden Studie von Monika Wagner-Willi (2005). Wagner-Willi arbeitet anhand von Videoaufzeichnungen, Gruppendiskussionen und ethnographischen Beobachtungen heraus, wie die Trennung zwischen dem Feld der Vorder- und der Hinterbühne in der Praxis nur analytischer Natur ist. Beispielsweise entstehen innerhalb des Unterrichts oft unterschiedliche soziale Bezugnahmen und Relationierungen, ein Wechselspiel zwischen den Praktiken der Vorder- und Hinterbühne. Dies wird auch in der schon angeführten eigenen Studie deutlich, wenn Ahmet erzählt:

Ahmet zeigt sich mit den gängigen Regeln und dem Rahmenwissen des Feldes der Vorderbühne bei der Klausur vertraut. Als der Lehrer Herr Lotze ihn fragt „was ist denn das?“ gibt er an, ein Schmierblatt zu benutzen; ein legitimer Vorgang, anstatt zu sagen, dass er die Klausur mit einem zusätzlichen Lösungsblatt bewältigt, was ein illegitimer Vorgang wäre. Ahmet ist sich der Regelübertretung bei der Klausur aus schulischer Sicht bewusst. Er verweist jedoch auf eine kollektive Praxis der Regelüberschreitung „Alle haben se abgeguckt.“, die dadurch gleichzeitig zu einer kollektive Legitimation wird – er gibt der Klausur einen anderen, einen subversiven Rahmen und folgt damit nicht der Logik des Feldes der Vorderbühne, sondern der der Hinterbühne.[7]

Die Schüler kontrastieren gemeinsam, unter der Hand, das gängige Regelwerk und begeben sich so in eine Doppelmoral, die sich in einem „Unterleben der Institution“ ausdrückt, wie Zinnecker (2001, S. 252) dies mit einem Begriff von Goffman (1972) bezeichnet. Dieses ist meist nicht individuell, sondern kollektiv verfasst (vgl. Ebd.). Es entsteht eine kollektive Praxis, das geltende Regelwerk stillschweigend zu unterlaufen, ohne sich dabei öffentlich gegen die Regeln der Institution zu stellen. Es kommt zu einer äußerlichen Form der Regelbefolgung, die subversiv und kollektiv unterlaufen wird, weshalb ich hier den Begriff der subversiven Habitusform benutze. Mit Goffman (1972, S.299) versucht die subversive Habitusform eine „Schranke zwischen dem Individuum und der sozialen Einheit zu errichten“, um so „eine gewisse Individualität und persönliche Autonomie“ zu bewahren. Zur Beschreibung der Praxis der subversiven Habitusform passend, führt Goffman (1972, S.185) aus: „Darunter verstehe ich ein Verhalten, bei welchem ein Mitglied der Organisation unerlaubte Mittel anwendet oder unerlaubte Ziele verfolgt, oder beides tut, um auf diese Weise die Erwartungen der Organisation hinsichtlich dessen, was er tun sollte, und folglich was er sein sollte, zu umgehen“. Die subversive Habitusform bietet so die Möglichkeit, sich den Regeln, Rollen und Erwartungshaltungen des Feldes der Vorderbühne zu entziehen, indem sie sich ein eigenes Feld der Hinterbühne schafft, das sie parallel zur Vorderbühne selbst gestaltet. Das Parallel setzten von Vorder- und Hinterbühne kann so als eine spezifische Praxis der subversiven Distinktion gesehen werden, um sich vom Feld der Vorderbühne abzugrenzen.

Neben der subversiven Habitusform gibt es noch andere Formen mit den Feldern von Vorder- und Hinterbühne umzugehen, wie sich dies in den Erzählungen von Ali über die Handlungspraxis seines Freundes Hakan zeigt:

Hakan nimmt eine antagonistische Position gegenüber den Lehrkräften ein. Ihm ist es „scheißegal“, mit welchem Lehrer er es zu tun hat. Beispielsweise gibt er dem Lehrer zu verstehen, am Folgetag „die Schule zu schwänzen“, womit er eine von subversiv orientierten Jugendlichen sonst verheimlichte Schülerpraxis öffentlich zugibt und ankündigt. Ali beschreibt bei seinem Freund Hakan eine typisch antagonistische Habitusform.[8] Hakan setzt sich offensiv und provokativ mit dem organisationeilen Rahmenwissen der Schule auseinander. Er sucht dabei die offene Konfrontation mit den Lehrkräften („Herr K., halten sie die Fresse“), ohne sich dabei an die gängigen Konventionen des Feldes der institutionellen Vorderbühne der Schule zu halten, vielmehr werden diese umgekehrt. Gerade in der Umkehrung der Außenperspektive besteht der spezifische modus operandi der antagonistischen Habitusform. Beispielsweise finden diese Jugendlichen das „lustig“, was aus Sicht des Feldes der institutionellen Vorderbühne „schlimm“ ist, wie etwa das Vandalieren oder die provokative Auseinandersetzung mit der Lehrkraft, zum Beispiel durch das Beschmeißen mit Stiften. Dabei versuchen die antagonistisch orientierten Jugendlichen, die Regeln und Konventionen der Hinterbühne in das Feld der Vorderbühne auszudehnen und somit die legitimierten Regeln der Institution durch ihre eigenen auf den Kopf zu stellen. Dies zeigt sich beispielhaft in der folgenden Passage, in der der Hauptschüler Ahmet folgendes ausführt:

Ahmet nimmt das Thema Unterricht auf, welches bei ihm negativ besetzt ist („Unterricht macht kein Spaß!“). Er differenziert die Aussage jedoch dahingehend weiter, dass es bei „gewissen Lehrern geht“, nämlich bei denen, die sich im Gegensatz zu Frau Seibert durchsetzen können. Hier wird ein Konflikt zwischen Lehrern und Schülern angesprochen, in dem es um Durchsetzungsvermögen geht. Ein Beispiel für einen durchsetzungsstarken Lehrer ist der Direktor, ihr Klassenlehrer, „bei dem muss man lernen da kann man sich nichts erlauben.“

Ahmet spricht hier zwei zusammenhängende Unterscheidungen an. Zum einen differenziert er zwei Lehrertypen: die durchsetzungsstarken Lehrer, bei denen man sich im Gegensatz zu anderen „nichts erlauben“ kann und die Lehrer die „kein Durchsetzungsvermögen“ haben, wie Frau Seibert. Zum anderen unterscheidet Ahmet das Lernen-Müssen, das in einem Gegenhorizont steht zu dem, was man sich bei manchen Lehrern erlauben kann. Ahmet sieht einen Unterschied zwischen dem Lernen und dem Sich-Etwas-Erlauben-Können. Wie im Verlauf der folgenden Diskussion noch deutlicher wird, spricht Ahmet hier eine Felddifferenz zwischen der Vorder- und Hinterbühne des Unterrichts an. Während sich manche Lehrer, wie der Schuldirektor, durchsetzen können und es schaffen, diese beiden Felder voneinander zu trennen, können andere Lehrer wie Frau Seibert sich nicht durchsetzen, was zur Folge hat, dass die Jugendlichen sich etwas erlauben können, sie können hier machen was sie wollen und zwar „alles“. In diesen Situationen dreht sich das Kräfteverhältnis zwischen Lehrkraft und Schülern um, was zur Folge hat, dass die antagonistisch orientierten Jugendlichen ihr eigenes Feld mit den Regelhaftigkeiten der Hinterbühne in das anders funktionierende Feld der Vorderbühne einschleusen. Die antagonistische Habitusform zeigt damit, genauso wie die subversive Habitusform, eine Praxis der Distinktion gegenüber dem Feld der Vorderbühne. Die Distinktion erfolgt jedoch nicht durch eine Parallelisierung von Vorder- und Hinterbühne, sondern durch den Versuch der Umkehrung dieser beiden. Dabei kommt es für die Jugendlichen durch die so in das Feld der Vorderbühne getragene Hinterbühne meist zu starken institutionellen Konflikten, die bis zum Schul-verweis führen können. Anders als auf der Vorderbühne ergibt sich jedoch für die antagonistische Habitusform auf der Hinterbühne eine spezifische Anerkennung, wie in der folgenden Diskussion deutlich wird. Hier beschreiben Hakan und Karim die Klasse der 9b als die „krasseste“ Klasse, eine Metapher, die in der Diskussion mehrfach auftaucht und für die Jugendlichen einen spezifischen Symbolwert hat:

Hakan hebt seine Klasse in der Schule heraus, er weist damit sich und seinem Kollektiv eine spezifische Rolle innerhalb der Schule zu. Die Selbstbeschreibung, die er von seiner Klasse liefert, zeigt die 9b zum einen als eine aus der Perspektive der institutionellen Vorderbühne als problematisch geltende Klasse, zum anderen scheint Hakan dieses Image aber auch als etwas Besonderes herausstellen zu wollen.

Ahmet streicht dieses an anderer Stelle nochmals heraus:

Ahmet bringt ein, dass die Schüler der anderen neunten Klasse die Klasse von Ahmet beneiden. Als Grund wird angegeben, dass sie „eine Klasse unter aller Sau“ waren, was durch ein Lachen als lustig gekennzeichnet wird. Das Lachen dokumentiert in diesem Kontext ein typisches Zeichen einer antagonistischen Habitusform. Es ist lustig, einer Klasse anzugehören, die aus dem Rahmenwissen der Institution Schule als „eine Klasse unter aller Sau“ gekennzeichnet werden kann. Die Jugendlichen finden das lustig, was aus der Sicht der Institution Schule als „unter aller Sau“ bewertet wird; hier findet eine Umkehrung der Außenperspektive statt. Sowohl Hakan als auch Ahmet beschreiben ihre Klasse als „unter aller Sau“ und „schlimm“ mit Attributen, die aus der Perspektive der institutionellen Vorderbühne als äußerst problematisch zu betrachten sind. Gleichzeitig erscheint die schlimme und krasse Klasse in der Selbstbeschreibung der Schüler jedoch nicht negativ, sondern positiv besetzt; von ihren Mitschülern fühlen sich diese Schüler der 9b beneidet. Es zeigt sich, dass die Schüler das Kontextwissen der Felder von Vorder- und Hinterbühne beherrschen, jedoch umdrehen. Sie wissen, dass auf der Vorderbühne des Unterrichts die 9b als krasse und schlimme Klasse gilt. Auf der anderen Seite fühlen sich die Schüler durch den Vandalismus auf der Vorderbühne im Feld der Hinterbühne bewundert. Es findet auch hier die Umkehrung der Außenperspektive statt. Was im Feld der institutionellen Vorderbühne als problematisch gilt, bringt im Feld der Hinterbühne aus der Perspektive dieser Schüler soziale Anerkennung und Bewunderung. Der regelmäßige Versuch, das Feld der Hinterbühne auf die Vorderbühne des Unterrichts auszuweiten, zeigt dabei, dass den Schülern Hakan und Ahmet die soziale Anerkennung der Hinterbühne wichtiger ist als die Erwartungshaltung der institutionellen Vorderbühne. Sie sehen sich gerne als die „krasseste Klasse“, welche sie abgrenzt von den Regeln und Logiken des Feldes der institutionellen Vorderbühne. So ergibt sich eine typische Sphäre des Kampfes zwischen den Interessen[9] und Erwartungshaltungen der Vorder- und der Hinterbühne, die sich auch an den von Zinnecker vorgenommenen unterschiedlichen Rollenbeschreibungen festmachen lässt. Demnach ist für die Lehrer das Feld der Hinterbühne eher sekundär, wohingegen die Peergroups demselben großes Gewicht geben. Die Funktion des Lehrers besteht nun darin, „als Wächter der Situation“ (Zinnecker, 2001, S. 259) die Vorderbühne des Unterrichts gegenüber Angriffen aus der Hinterbühne zu verteidigen. Die Schüler haben im Gegensatz dazu „ein Interesse, für die Ausdehnung der Hinterbühne in der Institution Schule zu kämpfen.“.

Im Sinne einer „Praxeologischen Wissenssoziologie“, (Bohnsack 2003, S.187 ff.) die unterschiedliche Perspektivität der Akteure mit einbezieht, ist – anders als im Zinneckerschen Modell – nicht im Vorhinein geklärt, was Hinter- und was Vorderbühne ist, oder wie sich die beiden zueinander verhalten. Vielmehr lassen sich verschiedene Lehrer- und Schülertypen in dieser Kampfsituation je nach Habitusform und sozialen Feldbezug unterscheiden. So kommt es beispielsweise vor, dass während eines Konfliktes der Lehrer zwar auf der Vorderbühne argumentiert, der Schüler sich jedoch auf die Hinterbühne bezieht. Was für die eine Habitusform der Lehrer und Peer Group die Vorderbühne des Unterrichts darstellt, ist für andere Habitusform von Lehrern und Peergroup unter Umständen die Hinterbühne des Schulgeschehens. Es ist daher ratsam, nicht durch eine begriffliche Vorbestimmung von Vorder- und Hinterbühne die Beobachterposition mit der zu rekonstruierenden Perspektive zu vertauschen. Wie sich die unterschiedlichen Akteursgruppen auf die Felder beziehen, ist nur empirisch zu klären. An dieser Stelle zeigt sich, dass der Feldbegriff einen praxeologischen Zuschnitt erfährt, der sich von rein subjektivistischen oder objektivistischen Begriffsbestimmungen ablöst. Einerseits wird mit dem Feldbegriff ein modus operandi rekonstruiert, der gruppenübergreifend funktioniert, andererseits bittet der Feldbegriff gleichzeitig die Möglichkeit gruppeninterne Konstruktionsprinzipien in ihrer Relation zu sozialen Strukturierungen in den Blick zu nehmen. So zeigen die angeführten Beispiele schon, dass die subversive und die antagonistische Habitusform recht unterschiedliche Praxisformen haben, um sich auf die Felder von Vorder- beziehungsweise Hinterbühne zu beziehen. Während es der antagonistischen Habitusform um eine Umkehrung der Logik des Feldes der Vorderbühne geht, versucht die subversive Habitusform abseits und ohne direkten Bezug auf die Vorderbühne ein eigenes Feld der Hinterbühne zu schaffen, dessen Logik sich weniger an der der Vorderbühne abarbeitet, sondern die sich gewisser Maßen parallel gestaltet.

Neben der subversiven und der antagonistischen Habitusform, konnte noch eine dritte Habitusform rekonstruiert werden, die sich an der untersuchten Hauptschule jedoch weniger häufig finden ließ. Nachdem die Jugendlichen einer Peergroup von dem Interviewer nach ihrem Verhältnis zu den Lehrern gefragt werden, entsteht folgende Passage:

Mit der Erzählaufforderung des Interviewers thematisiert die Gruppe ihr Verhältnis zum Lehrer Bach. Barat führt Herrn Bach, zunächst als „super cool“ ein. Daraufhin entsteht in der Gruppe eine Diskussion um den Status und die fachbezogene Qualifikation von Herrn Bach, an der sich ein spezifischer Umgang mit den Feldern von Vorder- und Hinterbühne zeigen lässt.

Silvia bestreitet, dass Herrn Bach der Status eines Lehrers zukommt, sie sieht in ihm einen „Kumpel“, keinen Lehrer. Durch die Klassifizierung als Kumpel wird dem Lehrer von Silvia ein anderer Status zugesprochen, der dem eines Lehrers nicht entspricht. Herr Bach wird als „Kumpel“, nicht als ein Repräsentant des Feldes der institutionellen Vorderbühne, sondern als ein Akteur der Hinterbühne thematisiert. Damit überschreitet Herr Bach die von Silvia gezogene Grenzen zwischen Vorder- und Hinterbühne, womit er anders kontextuiert wird und seinen Status als Lehrer verliert. Dass es für Silvia eine Grenze zwischen den Feldern der Vorder- und der Hinterbühne gibt, zeigt, dass sie strikt zwischen den Attribuierungen des Feldes der Vorder- und des Feldes der Hinterbühne trennt. Ein Lehrer, als Wächter der Vorderbühne, kann nicht symmetrische Kumpelbeziehungen eingehen, ohne dadurch seinen asymmetrischen Lehrerstatus zu riskieren. Es wird deutlich, dass der soziale Respekt der Hinterbühne, welches sich im sozialen Ansehen bei der Peergroup spiegelt, für den Status der Vorderbühne nicht in gleicher Weise relevant ist, sondern dass auf der Vorderbühne für diese Jugendlichen andere Kompetenzen relevant sind.

Barat teilt die Einstellung von Silvia nicht. Er bestreitet zwar nicht den Kumpelstatus von Herrn Bach, verweist jedoch auf die Differenz zu Herr Bach durch dessen Geschichtsstudium. Barat markiert so einen Unterschied, der für ihn die Bezeichnung Lehrer legitimiert. Herr Bach hat studiert, womit Barat auf die institutionelle Anerkennung von Herrn Bach rekurriert, das ihn bezogen auf sein Wissen als „überkrass“ erscheinen lässt.

Auch Linda sieht den Status von Herrn Bach durch dessen fachliche Kompetenz gegeben. Herr Bach ist in Geschichte so gut, dass sie „nur noch Bahnhof versteht“. Linda verweist hier auf die Kompetenz des Lehrers, dessen Sprachgebrauch sie nicht folgen kann und der ihr so fremd ist, dass sie nichts mehr versteht und nicht mehr mitkommt. Herr Bach kann hier im Gegensatz zu einem gleichberechtigten Kumpel die Ebene in einen Bereich, der von den eigenen Möglichkeiten abgehoben ist, wechseln. Dadurch rechtfertigt sich für Linda, dass Herr Bach nicht nur ein Kumpel, sondern auch ein Lehrer ist. Im Feld der Vorderbühne überschreitet Herr Bach weit die Fähigkeiten und Kompetenzen der Schüler durch seine Wissensressourcen und kann deshalb für sie ein Lehrer sein.

In dieser Passage dokumentiert sich, dass sich die Gruppe aktiv mit der Differenz zwischen der Vorder- und Hinterbühne auseinandersetzt und dass sie die Grenze zwischen diesen beiden Feldern im Gegensatz zu den anderen Habitusformen akzeptiert, weshalb sie in der Folge als affirmative Habitusform gekennzeichnet wird. Anders als bei vergleichbaren Passagen der subversiven und antagonistischen Habitusform, erscheint für die affirmative Habitusform Herr Bachs Kumpelstatus nicht undiskutiert als positives Attribut, weil dadurch auch der asymmetrische Lehrerstatus von Bach auf der institutionellen Vorder-bühne fragwürdig wird. Durch sein auf die Schüler „überkrass“ wirkendes fachliches Wissen erntet Herr Bach von den Schülern Anerkennung, die es ihm erlaubt, den asymmetrischen Lehrerstatus einzunehmen. Neben diesem Status wird Herr Bach aber von einigen der Gruppe auch sozial anerkannt, er ist „super cool“. Bei der Bewertung des Lehrers verbleibt die Gruppe im Rahmen der schulischen Erwartungshaltung. Sie erwarten, dass der Lehrer vor allem eine ausreichende und den Schülern weit überlegene fachliche Kompetenz besitzt. Damit unterscheidet sich die Bewertungskategorie der affirmativen Habitusform für Lehrer grundlegend von den Bewertungskategorien der subversiven und antagonistischen Habitusform, für die soziale Anerkennung und asymmetrische Machtfähigkeiten im Vordergrund stehen.

Auch in der nächsten Passage setzen sich die Schüler mit den Kompetenzen der Lehrer auseinander.

Mit der Erzählaufforderung des Interviewers bezüglich der Lehrer, die sie nicht mögen, nimmt die Gruppe wieder das Thema der fachlichen Kompetenzen auf.

Die Lehrer, die sie nicht mögen, sind „einfach dumm“ und „nicht gebildet“. Im Gegensatz zu den Gruppen mit antagonistischen und subversiven Orientierungen erscheinen in dieser Gruppe nicht die Lehrer, die sich nicht durchsetzen können als negativer Gegenhorizont, sondern die, denen es an intellektuellen und fachlichen Kompetenzen fehlt („die haben nichts drauf). Die affirmative Habitusform erwartet nicht, dass die Lehrer vor allem Macht ausüben können, sondern dass sie durch ihre fachliche Kompetenz und entsprechende Wissensressourcen dazu in der Lage sind, ein asymmetrisches Verhältnis herzustellen. Bei den „dummen“ und „ungebildeten“ Lehrern ist dies nicht möglich; vielmehr kehren sich hier zuweilen die Rollen um, so dass die Schüler den Lehrern „irgendwelche Sachen“ erklären.

Anders als in den anderen beiden Gruppen erfährt die Lehrkraft hier keine Degradierung durch die Konfrontation mit dem Feld der Hinterbühne und den damit verbundenen Personalisierungen, sondern die Degradierung dieser Schüler verbleibt im Feld der Vorderbühne. Es geht nicht um die sozialen Anerkennung im Feld der Hinterbühne der Peergroup, sondern um Differenzen bezüglich fachlicher Wissensressourcen. Wenn sich das Kompetenzgefälle zwischen Lehrer und Schüler umdreht, so dass der „ungebildete“ Lehrer als der zu Belehrende erscheint, währenddessen der Schüler in die Rolle des Erläuternden schlüpft, hat der Lehrer seinen Status verloren. Dabei zeigt sich jedoch, dass die affirmative Habitusform auch in Konfliktfällen eine Grenze zwischen dem Feld der Vorder- und der Hinterbühne akzeptiert. Die Grenze, an der sich die affirmative Habitusform orientiert, befindet sich innerhalb des Feldes der Vorderbühne des Unterrichts und wird an dem Besitz oder an dem Fehlen von Kompetenz und Wissensressourcen der Lehrkraft festgemacht. Im Feld der Vorderbühne distinguiert sich die affirmative Habitusform von den Regeln und Erwartungshaltungen der Hinterbühne durch eine Separierung der beiden Felder.

Auch und gerade dann, wenn die Schüler annehmen, bei den „ungebildeten“ Lehrern nichts lernen zu können, ja, sogar dümmer zu werden, zeigt sich, dass ihre Orientierung auf ein Lernen bezogen ist. Das Nicht-Lernen-Können erscheint als negativer Gegenhorizont zu einer eigenen Orientierung, die am Lernen interessiert ist.

 

Zusammenfassung der Ergebnisse

Zusammenfassend lässt sich für die antagonistisch und subversiv orientierten Habitusformen festhalten, dass sie sich primär an den Regeln und Erwartungen des Feldes der institutionellen Hinterbühne orientieren, wohingegen sich die affirmative Habitusform an den Regeln und Erwartungshaltungen des Feldes der Vorderbühne orientiert.

In der Komparativen Analyse zeigen sich bei den drei Habitusformen unterschiedliche Distinktionspraxen in dem Feldverhältnis von Vorder- und Hinterbühne. Die subversive Habitusform distinguiert sich von den Regeln und Erwartungshaltungen des Feldes der Vorderbühne, indem sie ihre Peer-Praxen verdeckt zum institutionellen Ablaufmuster gestaltet. Die Felder von Vorder- und Hinterbühne werden hier parallelisiert. Auch die antagonistische Habitusform distinguiert sich von den Regeln und Erwartungshaltungen der Vorderbühne, indem sie versucht durch eine offen ausgetragene Umkehrung der Außenperspektive die Ausweitung des Feldes der Hinter- auf die Vorderbühne zu bewirken, um damit das institutionelle Ablaufmuster zu konterkarieren. Die Felder von Vorder- und Hinterbühne werden hier umgekehrt. Von der subversiven und antagonistischen Habitusform ist die affirmative Habitusform abzugrenzen. Durch die strikte Trennung der Felder von Vorder- und Hinterbühne distinguiert sich die affirmative Habitusform im Feld der Vorderbühne von den Erwartungen und Regeln der Hinterbühne. Die Felder von Vorder- und Hinterbühne werden hier separiert.

In Anschlussuntersuchungen könnte es nun darum gehen, das Wechselverhältnis zwischen Habitus- und Feldformen in weiteren Dimensionen zu differenzieren. So wäre es interessant zu untersuchen, inwieweit beispielsweise geschlechts- oder bildungsmilieuspezifische Unterschiede die mehrdimensionale Typenbildung der antagonistischen, subversiven und affirmativen Habitusformen weiter differenzieren könnten.

Fußnoten:

[1] Die untersuchte Hauptschule gilt als problematisch, insofern sie einerseits einen besonders hohen Anteil von Schülern aufgenommen hat, die schon auf andern Schulen gescheitert sind, anderseits erfährt die Schule eine gehäufte negative Berichterstattung innerhalb der örtlichen Boulevardpresse.

[2] Innerhalb der Forschung wurden drei Gruppendiskussionen mit Peergroups der betreffenden Schule durchgeführt. Als Peergroups galten in diesem Zusammenhanf jugendliche Gruppen, die Angaben auch jenseits des institutionell-organisierten Klassenverbandes regelmäßig miteinander in Beziehungen zu stehen. Neben den Gruppendiskussionen wurden in zwei Schulwochen teilnehmende Beobachtungen sowohl des Unterrichtes als auch des Pausengeschehen durchgeführt. Die Beobachtungsprotokolle wurden dabei jeweils am selben Tag erstellt.

[3] Zur Forschungspraxis der komparativen Analyse vgl. Nohl 2001.

[4] Zu Verbindungen und Unterschieden zwischen der dokumentarischen Methode und der Habitusrekonstruktion vgl. Meuser 2001, Bohnsack 2003, S 150ff.. Zur Verbindung von dokumentarischer Methode und einer im weiteren Sinne Feldrekonstruktion vgl. Rosenberg 2009.

[5] Für eine ausführliche Darstellung vgl. Rosenberg 2008.

[6] Zu einer begonnenen Soziologie des Feldes vgl. Bourdieu 2001.

[7] Zu subversiven Aktionismen von Jugendlichen in der Schule vgl. auch Wagner-Willi 2005, S.150 ff.

[8] Die antagonistische Habitusform wird von anderen Autoren auch als kontrakulturelle Orientierung beschrieben vgl. hierzu Streblow 2005, Yinger 1960, Sack 1971.

[9] Zum Begriff des Interesses vgl. Bourdieu 1998, S.140 ff.

Mit freundlicher Genehmigung des Barbara Budrich Verlages
http://www.budrich-journals.de/index.php/zqf/issue/view/259

 

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