Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Hinweise auf Ungewissheit beschäftigt sich das diesem Beitrag zugrunde liegende qualitative Forschungsprojekt mit folgenden Fragen:
- Auf welchen Ebenen thematisieren Lehrkräfte Gewissheit bzw. Ungewissheit im Umgang mit Gewalt in der Schule und aufweiche Weise geschieht dies?
- Wie gehen Lehrkräfte mit diesen Gewissheiten bzw. Ungewissheiten um?
- Und welche Implikationen ergeben sich aus diesem Umgang für die Frage nach pädagogischer Professionalität?
In diesem Zusammenhang wurden die Interviewpartner auch nach der Bedeutung eines kollegialen Austauschs gefragt, denn es stellt sich die Frage:
- Inwiefern hat der individuelle Umgang mit Gewissheit bzw. Ungewissheit Ein- fluss darauf, welche Bedeutung einem kollegialen Austausch beigemessen wird?
- Bzw. inwiefern beeinflusst der kollegiale Austausch mit Kollegen den individuellen Umgang mit Gewissheit bzw. Ungewissheit?
Zur Beantwortung dieser Fragen wurden mit sechs Lehrkräften verschiedener Schulformen episodische Interviews (vgl. Flick 2006) geführt.
(…)
Im Folgenden werden – aufgrund der gebotenen Kürze anhand zweier Interviews – Zusammenhänge zwischen dem Umgang der Lehrkräfte mit Gewissheit bzw. Ungewissheit und der Bedeutung eines kollegialen Austauschs erläutert.
Gefragt nach einem Austausch mit Kollegen hinsichtlich Gewaltsituationen in der Schule machen beide Lehrkräfte deutlich, dieser habe eine „große“ (Frau Diekmann) bzw. „sehr große“ (Frau Friedrich) Relevanz. Die Bedeutung eines Austauschs wird von den Lehrerinnen also hoch eingeschätzt, dabei ist die Bewertung dieser Relevanz eindeutig, da der Modus der jeweiligen Aussage auf Gewissheit (ersten Grades) hinweist.
Sind sich beide Befragte einig, dass ein kollegialer Austausch wichtig ist, so zeigen sich bei der Frage, aus welchem Grund ein solcher wichtig erscheint, Unterschiede.
So erklärt Frau Friedrich, eine Lehrerin Mitte Fünfzig, die an einer Grundschule in einer deutschen Kleinstadt tätig ist:
„Ne, dass wir uns da ausgetauscht haben und (3) und einfach auch mal so dieses äh nen Ablassventil zu haben, wenn schon wieder irgendwas war so ((lacht))
(I: Mhm).
Dass man dann in die Pause reinging und sowas erzählen konnte ne?
(I: Mhm)“
Zwar erläutert Frau Friedrich nicht explizit, worüber sie sich im Kollegium austauscht, das Wort „Ablassventil“ lässt aber darauf schließen, dass es u.a. darum geht, Ärger oder Frustrationsgefühle angesichts von Gewaltsituationen abzumildern, indem man mit Kollegen darüber spricht. Insofern kann angenommen werden, dass Frau Friedrich im kollegialen Austausch u.a. Verständnis sucht für belastende Erfahrungen im Schulalltag. Zugleich schränkt sie die Möglichkeiten eines kollegialen Austauschs jedoch ein:
„Ehm, also im Schulalltag selber bleibt sehr sehr wenig Zeit
(I: Mhm).
Und es gibt eigentlich nur so einige wenige Kolleginnen, wo ich das Gefühl hab so, die haben gleiche Einstellungen wie ich.“
Behindert wird der Austausch durch zwei Aspekte: Zum einen fehlt ausreichend Zeit, worauf Frau Friedrich auch an anderer Stelle hinweist. Zum anderen wird deutlich, wie wichtig es für Frau Friedrich ist, dass ihre Kollegen hinsichtlich der Wahrnehmung und Interpretation von Gewalt sowie entsprechender Reaktionen gleiche Ansichten vertreten. Verknüpft man diese Interpretation mit dem zuvor benannten Streben nach kollegialem Verständnis, so lässt sich hieraus schließen, dass zumindest in diesem Kontext die Funktion eines Austauschs für Frau Friedrich darin besteht, Entlastung zu erfahren angesichts belastender Erfahrungen.
Die Formulierung „gleiche Einstellungen“ referiert somit implizit auf eine gewünschte Gewissheit (zweiten Grades) in Sinne einer Sicherheit darüber, dass die eigene Einschätzung von Kollegen geteilt wird und das eigene Verhalten angemessen ist. Insofern kann hier von einer Schließung potenzieller Ungewissheitsmomente gesprochen werden.
Frau Diekmann wiederum, eine junge Lehrerin Anfang Dreißig, die in einer deutschen Großstadt sowohl an einer Grundschule als auch an einer Realschule unterrichtet hat und zur Zeit des Interviews als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einer Universität tätig ist, begründet die Relevanz eines kollegialen Austauschs, indem sie die Pluralität und Verschiedenheit der Ansichten über Gewalt positiv herausstellt:
„[…] aber das war was wo ich auch (..) wenn man an nem anderen Fall gearbeitet hat, wo durch diese Vielfalt der Ideen, die dann zusammengetragen wurde, da hab ich auch viel von gelernt.“
Im Gegensatz zu Frau Friedrich sucht Frau Diekmann im kollegialen Austausch nicht nach „gleiche[n] Einstellungen“, sondern vielmehr andere, ihr bisher unbekannte Ansichten und Ideen. Insofern kann hier im Gegensatz zu einer Schließung von einer Offenheit oder Öffnung gegenüber Ungewissheit (zweiten Grades) gesprochen werden. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Frau Diekmann als einzige der Befragten an einer Schule gearbeitet hat, an der das Kollegium sich regelmäßig zu Intervisionsrunden trifft.
Welche Konsequenzen ergeben sich nun aber für die Befragten aus der Bedeutung und Funktion, die sie einem kollegialen Austausch zuschreiben?
Da wie bereits erwähnt „nur so einige wenige Kolleginnen […] gleiche Einstellungen“ wie Frau Friedrich haben, überlegt sie mittlerweile genau, „mit wem mach ich was, wem erzähl ich was so“, denn es bestehe die Gefahr, dass einem vorgeworfen werde: „du kommst nicht klar mit Kindern“.
Hier wird Ungewissheit (ersten Grades) in Form einer Unvorhersehbarkeit thematisiert, und zwar in Bezug darauf, wie Kollegen mit dem Offenlegen von Schwierigkeiten bzw. Unsicherheiten umgehen. Frau Friedrich hat die Erfahrung gemacht, dass man sich als Lehrkraft nicht per se gewiss sein kann, ob der Gesprächspartner ein solches Offenlegen wertschätzt oder aber als Inkompetenz auslegt. Diese Ungewissheitserfahrung beeinflusst wiederum Frau Friedrichs Erwartungshorizont, denn sie überlegt nun genau, mit wem sie sich austauscht. Die Ungewissheit führt somit zu einem Bedürfnis nach Gewissheit darüber, dass einem vertrauensvolle Äußerungen gegenüber Kollegen nicht zum Nachteil gereichen.
Stattdessen macht Frau Diekmann an verschiedenen Stellen im Interview deutlich, sie habe „extrem davon profitiert“, sich regelmäßig mit Kollegen austauschen zu können. So habe die kollegiale Offenheit im Umgang mit Problemen oder Hilflosigkeit entlastend gewirkt, „weil mir ganz schnell klar wurde, ok, auch die die sechzigjährige Kollegin, die richtig gut ist und viel Erfahrung, stößt mit solchen Situationen an Grenzen“ Im Gegensatz zu Frau Friedrich hat Frau Diekmann keine negativen Erfahrungen gemacht im Austausch über Gewalt in der Schule. Stattdessen hat sich im Erwartungshorizont von Frau Diekmann die Gewissheit (ersten Grades) eingelagert, dass ein entsprechender Austausch es ermöglicht, Ungewissheiten zu thematisieren.
Diskussion
Wie gezeigt ermöglicht die angewendete Analysemethode, sowohl explizite als auch implizite Gewissheitsstrukturen und Ungewissheitsmomente zu analysieren. Allerdings ergeben sich zuweilen Unsicherheiten in der Interpretation, denn diese kann teilweise nur begrenzt mittels modallogischer Operatoren (Modalpartikel) begründet werden. Stattdessen ist häufiger eine Kontextualisierung notwendig, um Aussagen treffen zu können. Daher ist davon auszugehen, dass eine umfassende qualitative Erforschung von Ungewissheit auf diesem Wege relativ aufwendig ist.
Inhaltlich verweisen die Ergebnisse der Analyse auf Zusammenhänge zwischen einem individuell verschiedenen Umgang mit Gewissheit und Ungewissheit und einem kollegialen Austausch über Gewalt in der Schule. So nutzt Frau Friedrich den Austausch dafür, subjektive Ungewissheiten im Sinne von Unsicherheiten durch die Gewissheit abzumildern, dass die eigene Wahrnehmung und Einschätzung von den Kollegen geteilt wird. Ein solcher offener Umgang mit subjektiven Ungewissheiten kann jedoch auf einer anderen Ebene Ungewissheit produzieren, insofern nicht voraussagbar ist, wie die Äußerungen von den Kollegen aufgenommen werden. Eben diese Ungewissheit im Sinne einer Unvorhersehbarkeit wird im Erwartungshorizont von Frau Friedrich als problematisch markiert. Im Kontrast zu dieser Figur einer Schließung von Ungewissheit durch soziale Vergewisserung zeigt sich im Interview mit Frau Diekmann eine Öffnung in Richtung sozialer Ungewissheit, die sich aus der Konfrontation mit heterogenen Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmustern ergeben kann. Ungewissheit wird hier nicht als problematisch bewertete Verunsicherung oder Gefährdung der eigenen Kompetenz interpretiert, sondern in der „Vielfalt der Ideen“ wird ihre produktive Funktion sichtbar. [1]
Ein kollegialer Austausch dient somit nicht notwendigerweise nur der Vergewisserung und Konsensfindung, indem er Ungewissheiten und sich daran anschließende handlungspraktische Unsicherheiten auflöst, sondern im Austausch mit Kollegen können auch gezielt Ungewissheitserfahrungen gesucht werden, die dazu dienen, die eigene Perspektive sowie das eigene Handlungsspektrum zu erweitern. Eine solche affirmative Haltung gegenüber Ungewissheit könnte somit die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass „teilweise tief verankerte konventionelle Muster von Schule und Unterricht […] auf den Prüfstand gestellt und gedanklich durchgearbeitet werden“ (Hericks 2006, 456).
Ob problematisierend oder affirmativ, die Ergebnisse der Analyse zeigen, dass Lehrkräfte in der Auseinandersetzung mit Gewalt in der Schule gar nicht anders können, als mit Gewissheit und Ungewissheit umzugehen, dass diese also auf unterschiedlichen Ebenen virulent sind, u.a. auch im kollegialen Austausch. Ein Wissen über den Umgang mit Gewissheit und Ungewissheit erscheint somit relevant, um Lehrkräfte in ihrem Professionalisierungsprozess zu verstehen und zu unterstützen. Umso erstaunlicher ist daher, dass in der neueren Diskussion um pädagogische Professionalität die Tendenz erkennbar ist, die Frage nach der Bedeutung von Gewissheit und Ungewissheit als wenig praxisrelevant auszublenden (vgl. Baumert & Kunter 2006).
Statt dessen sollten individuelle Formen des Umgangs mit Gewissheit und Ungewissheit gerade in Modellen sich kollegial entwickelnder Professionalität berücksichtigt werden, da die gemeinsame Auseinandersetzung mit Ungewissheitserfahrungen sowie Gewissheitskonstruktionen möglicherweise eine produktive Weiterentwicklung des gesamten Teams fordern könnte – dies wäre näher zu untersuchen.
Bisher, so macht Helsper deutlich, fehlt jedoch „eine gemeinsame, in der Schulkultur institutionalisierte Praxis eines reflexiven Umgangs mit Ungewissheit. Im Lehrerhandeln (…) dominiert eher eine Schließung von Ungewissheit, also eine Abdunklung des «Nicht-Wissen-Könnens»“ (Helsper 2003, 146).
Voraussetzungen dafür, dass ein solcher gemeinsamer Umgang mit Ungewissheit, zumal unter den Bedingungen einer kollegialen Zwangsgemeinschaft, erfolgreich ist, sind jedoch – der Fall Frau Friedrich weist daraufhin — eine vertrauensvolle Atmosphäre im Team so – wie die Erfahrung der einzelnen Teammitglieder, von einem regelmäßigen Austausch mit Kollegen persönlich zu profitieren – so wie es Frau Diekmann schildert.
Gefördert werden könnte ein gemeinsamer Umgang mit Ungewissheit durch die Einführung regelmäßiger kollegialer Beratung, in der ein Austausch über handlungspraktische Unsicherheiten und Misserfolge erlernt und Toleranz und Verständnis gegenüber verschiedenen Ansichten entwickelt werden kann (vgl. Tietze 2010).
In solchen kollegialen Beratungssettings ist laut Hericks jedoch „durch ein geeignetes Arrangement [sicherzustellen], dass derjenige, der den Fall einbringt, in Distanz zu seinen eigenen Problemen treten kann und das personale Zuschreibungen («der Lehrer ist Schuld», «die Lehrerin ist inkompetent») oder Grenzüberschreitungen in Richtung einzeltherapeutischer Settings vermieden werden“ (Hericks 2006, 456). Wie ein solches Arrangement aussehen kann, bleibt bei Hericks allerdings offen.
Auch Schmehl weist auf die Problematik fehlenden Vertrauens und teaminterner Konflikte hin und schlägt vor: „Derartige Beziehungsstörungen sollten im Rahmen einer Supervision (in Anwesenheit einer externen neutralen Instanz) bearbeitet werden“ (Schmehl 2008, 659).
Neben der Einführung kollegialer Beratungssettings in der Schule könnten auch virtuelle Lerngemeinschaften einen Austausch über Ungewissheit unterstützen. Denn wie Sieland und Rahm zeigen, können über den Austausch in Online-Fachforen „rigide Wahrnehmungs- und Handlungsschemata durch mehrere alternative Ko-Konstruktionen irritiert werden“, wodurch die Wahrscheinlichkeit wachse, „die eigenen Muster zu problematisieren“ (Sieland & Rahm 2010, 249). Zudem könnten virtuelle Lerngemeinschaften auch die Gefahr von Grenzüberschreitungen und Zuschreibungen verhindern helfen, insofern Lehrkräfte, die sich ihren direkten Kollegen gegenüber nicht über Ungewissheiten äußern wollen, in der Anonymität entsprechender Foren möglicherweise eher bereit sein könnten, dies zu tun. Andererseits könnte aber gerade auch die Anonymität dem Bedürfnis nach einer Atmosphäre des vertrauensvollen Austauschs entgegenstehen. Forschungsprojekte, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, wären daher wünschenswert.
Schließlich ist – geht es ja um die Bedeutung eines kollegialen Austauschs über den Umgang mit Gewalt in der Schule – das erfolgreich evaluierte Konstanzer Trainings Modell von Humpert & Dann (2001) zu erwähnen. Hierbei handelt es sich um ein praxisnahes Konzept zur Erweiterung des Handlungsspielraums im Umgang mit Konflikten und Gewalt in der Schule, das gezielt auf einen regelmäßigen kollegialen Austausch sowie Tandemarbeit setzt. Das Trainingsmodell setzt an den subjektiven Theorien von Lehrkräften an, ein reflexiver Umgang mit Ungewissheit wird allerdings bisher nicht explizit berücksichtigt. Interessant könnte es daher sein, wie König vorschlägt, gezielt Tandems zu bilden zwischen „ungewissheitstoleranten und -intoleranten“ (2003,161) Kollegen.
Fazit
Aus den bisherigen Überlegungen ergeben sich weitere Fragen: Müsste es nicht – wenn anzunehmen ist, dass Pädagogen im Laufe ihrer Berufsbiographie immer wieder mit Ungewissheit konfrontiert sind, Ungewissheit also fester Bestandteil pädagogischer Arbeit zu sein scheint — Kriterien geben, anhand derer der individuelle Umgang mit Ungewissheit auf seine Professionalität hin bewertet werden kann? Oder anders gefragt: Nach welchen Kriterien kann ein Umgang mit Ungewissheit als professionell bezeichnet werden? Solche Kriterien wurden bisher jedoch nicht formuliert, was auch daran liegen mag, dass die Auseinandersetzung mit Ungewissheit innerhalb der Erziehungswissenschaft im Vergleich zu anderen Wissenschaftsfeldern zwar nicht neu, aber nach wie vor eher ein Nischenthema ist (vgl. Böhle & Weihrich 2009).
Neben dieser Frage, die insbesondere die theoretischen Grundlagen der Schulpädagogik bzw. die Forschungsfelder der Allgemeinen Erziehungswissenschaft berührt, ist ausgehend von den hier vorgestellten Ergebnissen auf (forschungs-) praktischer Ebene zu fragen, ob und wie ein affirmativer Umgang mit Ungewissheit durch die Einführung kollegialer Beratungssettings gefördert werden könnte und wie sich dies untersuchen ließe.
Das Thema Ungewissheit erweist sich also als ein bisher zu Unrecht vernachlässigtes Forschungsfeld, weshalb eine Ausweitung theoretischer sowie empirischer Forschungsprojekte zum Thema Ungewissheit in der Pädagogik wünschenswert ist.
Fußnote:
1) In Anlehnung an die Untersuchung von König zur Ungewissheitstoleranz bei Lehrkräften kann die Haltung Frau Friedrichs somit tendenziell als ungewissheitsintolerant, die Position Frau Diekmanns hingegen als ungewissheitstolerant bezeichnet werden (vgl. König 2003)
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