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Falldarstellung

Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll vom 11. Januar 2007

Die Schülerinnen bearbeiten Arbeitsblätter zur Wiederholung und Festigung der bisher gelernten Buchstaben. Nach einiger Zeit behauptet Hasan, dass er fertig sei. Chiara fragt ihn daraufhin: „Und was hast du bei ,t’, Hasan?“ – „Tisch, ist doch klar.“ Erdal mischt sich ein und fragt das Mädchen: „Kannst du das nicht alleine machen, Chiara?“ „Ne, ich kann die ganzen Wörter nicht, ich kann das nur in Italienisch.“ Als Chiara das sagt, sieht sie betrübt aus.

Es lassen sich zwei Gründe vermuten, die dafür sprechen, dass Chiara ihren Mit­schüler nach seiner Lösung fragt. Entweder fragt sie aus Bequemlichkeit nach, da sie so eventuell eher zu einer Lösung kommt oder ihr fällt das deutsche Wort für das italienische Wort ,tavola’ zu diesem Zeitpunkt nicht ein. Zufälligerweise beginnen jedoch die zwei Wörter ,Tisch’ und ,tavola’ beide mit dem Buchstaben ,T’.
Chiara unterschätzt hier ihre Fähigkeiten, hat aber das Selbstbewusstsein, es zuzu­geben. Möchte sie mit ihrer defizitären Selbsteinschätzung sagen, dass ihre Zwei­sprachigkeit eine Belastung für sie ist? Sie verallgemeinert, dass sie die „ganzen Wörter“ nicht auf Deutsch könne. Sie ist aber sehr wohl in der Lage, sich ihrem Al­ter angemessen auf Deutsch auszudrücken und hat einen recht großen Wortschatz. Beide Sprachen unterscheidet sie strikt voneinander: Italienisch als starke Sprache, Deutsch als schwache Sprache. Mit ihrer Äußerung („Ich kann die ganzen Wörter nicht, ich kann das nur in Italienisch.“) macht sie also deutlich, dass sie – wenn sie danach gefragt würde – im Italienischen wohl wesentlich kompetenter wäre. Kom­men ihr italienische Worte schneller über die Lippen, sodass sie sich in der deut­schen Sprache defizitär sieht? Fühlt sie sich eventuell durch Bewertungen in deut­scher Sprache benachteiligt? Würden ihre Italienischkenntnisse anerkannt und ihre Leistungen in deutscher Sprache weniger durch eine defizitären Betrachtungsweise beeinflusst, so hätte dies vermutlich Auswirkungen auf Chiaras Einstellung zum Deutschen.

 

Mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlages.
http://www.paedagogik.de/index.php?m=wd&wid=2196

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