Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
 

Einleitende Bemerkungen

[Es] geht [.] um die Frage, wie sich ostdeutsche Lehrer lebensgeschichtlich und beruflich zu den neuen gesellschaftlichen und schulischen Rahmenbedingungen im Transformationsprozess nach 1989/90 positionieren und welche Anknüpfungspotentiale sie mitbringen, um mit neuartigen pädagogischen Herausforderungen an Schule und Lehrerinnenhandeln professionell umzugehen. […]

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Biografisches Kurzporträt von Annette Harms

Annette Harms, geboren 1955, wächst in einer Familie auf, die durch Einbindung in das katholische Milieu, Innenzentrierung und die beruflichen Selbstverwirklichungsansprüche des Vaters gekennzeichnet ist. Der Minderheitenstatus als Katholikin in der DDR generiert eine eher sperrige Haltung gegenüber dem Regime, Resistenzpotentiale gegenüber politisch-ideologischen Zumutungen und eine wache Sensibilität für gesellschaftliche und politische Konstellationen. Aus ihrer Entscheidung für den Lehrerinnenberuf resultiert eine biografische Vereinbarungsproblematik zwischen ihrer Distanz gegenüber dem Regime als Katholikin und den staatlichen Loyalitätsanforderungen an sie als Lehrerin. Bei der Bearbeitung der damit einhergehenden hohen Balancierungs- und Reflexionsanforderungen kann Annette Harms zum einen auf das Vorbild ihres Vaters zurückgreifen, der ihr die Vereinbarungsproblematik von Christentum, beruflichen Ambitionen und politischen Loyalitätsanforderungen im DDR-System vorgelebt hat. Zum anderen wird Annette Harms während ihrer Absolventenphase in einer abgelegenen katholisch-ländlich geprägten Region in Taktiken und Strategien der Verweigerung, des Unterlaufens und des Umgehens von politisch- ideologischen Anforderungen einsozialisiert und erfährt die Bedeutung inoffizieller Absprachen, die dort von systemdistanzierten Kollegen und Eltern praktiziert werden. Als Lehrerin kann sie an diese Strategien anknüpfen, sie betreibt eine umsichtige Vertrauens- und Milieuarbeit, sucht nach gleichgesinnten Kollegen, testet die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten aus und versucht, ihre pädagogischen Gestaltungsspielräume zu erweitern und sich auch bestimmten politisch-ideologischen Zumutungen zu verweigern. Ihr Engagement im Lehrerinnenberuf und die ständige Bewährungsdynamik, in der sie als Katholikin im DDR-Schulsystem steht, binden Frau Harms dabei stark, für Familiengründung bleibt kein Raum.

Mit dem Zusammenbruch der DDR und dem Systemwechsel erweist sich die Distanz gegenüber dem System der DDR als Zeichen moralischer Integrität und sichert die Anschlussfähigkeit an die gesellschaftlichen Neuordnungsprozesse. Die sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen eröffnen Frau Harms neue Handlungsmöglichkeiten und setzen aufgestaute Kreativitäts- und Gestaltungspotentiale frei, die ihrer (Berufs-) Biografie nach der Wende eine neue Dynamik verleihen. Sie nutzt die sich eröffnenden neuen Bildungs- und Partizipationsmöglichkeiten, engagiert sich in lokalen Initiativgruppen, arbeitet ab 1990 für ein Jahr im Schulamt, wo sie an der Überprüfung der persönlichen und fachlichen Eignung der Lehrerinnen und am Umbau des lokalen Schulwesens beteiligt ist, und tritt 1991 eine Stelle als Schulleiterin an einer Regelschule an. Der weitere berufsbiografische Werdegang von Annette Harms ist untrennbar mit der Initiierung, Gestaltung und Steuerung eines Schulentwicklungsprozesses verbunden. Die hier über die Schulleiterinbiografie generierten Gestaltungspotentiale, aber auch Fehlertendenzen und Gefahren werden im Folgenden kurz Umrissen.

Potentiale und Fallstricke der Schulentwicklung in biografischer Perspektive

Im Kontext einer kollektiven Erfahrungskrise tritt Frau Harms ihre Stelle als Schulleiterin mit einer pädagogischen Vision an, welche sie selbst als Collage „aus den eigenen Erfahrungen, aus den Wünschen, aus den Träumen, aus dem, was man gelesen hat, wo andere gute Erfahrungen hafte«“ bezeichnet. Aufgrund ihrer politisch-moralischen Unversehrtheit eignet sie sich als Integrations-, Führungs- und Symbolfigur für einen Neuanfang und wird zum Kristallisationspunkt der Schulreform. Indem sie mit zwei Kollegen als Initiativgruppe an der Schule antritt, versucht sie jedoch der Gefahr zu entgehen, zu einer .elitären Alleingestalterin zu werden. Frau Harms zeigt eine besondere Sensibilität für die sequentielle Entfaltungslogik der Schulentwicklung, die sie als einen offenen und spiralförmigen Prozess versteht, der immer wieder neue Probleme und Herausforderungen hervorbringt, die kreativ bearbeitet werden müssen. Dabei kopiert Annette Harms nicht andere Reformansätze, sondern begegnet den ostspezifischen pädagogischen Herausforderungen mit eigenen Problemlösungen und Konzepten. Diese sind an den Bedürfnissen und Problemlagen der eigenen Schülerinnenklientel ausgerichtet und zielen auf eine offene, gemeinwesenorientierte Begegnungs-, Lern- und Unterrichtskultur an der Schule. Annette Harms übernimmt es als Reflexions-Professionelle Entwicklungsaufgaben vorzugeben, günstige Rahmenbedingungen für gemeinsame Lernprozesse zu schaffen und verschiedene Räume zu institutionalisieren, die der Selbst- und Prozessreflexion der Schulentwicklung dienen. Zudem sichert sie sich die wissenschaftliche Begleitung durch eine Kooperationsbeziehung mit einer Universität.

Bei der Durchsetzung von Reformschritten knüpft Annette Harms an ihre in der DDR ausgebildeten Handlungsmuster der Abgrenzung gegenüber staatlichen Konformitätserwartungen an. Sie testet die Grenzen für eigene Entscheidungen aus und tritt der Administration ,auf gleicher Augenhöhe“ entgegen und mit einem selbstbewusst vorgetragenen Anspruch auf professionelle Zuständigkeit auf:

H: ja wir ham dann zwar im Kultus angefragt, ob wir’s dürfen, wie gesagt, aber als wir keine Antwort kriegten, ham wirs dann auch gemacht (I: mhm) und warn da also nich so ängstlich. Ich denke, also wir wussten, was wir wollten. […] Als dann die Gesetze kamen, ham die uns an manchen Stellen wieder eingeengt. Und deswegen ham wir dann gleich äh (.) auch sagen müssen, also wir möchten das natürlich dann nich so machen. Und das is eigentlich die Konsequenz, dass wir jetzt Schulversuch sind, weil wir eben wirklich unsern Weg weitergegangen sind (I: mhm) ne. Und der is, läuft mit diesen Gesetzen nich unbedingt immer konform, ((lacht kurz))

Annette Harms versucht, die tendenziell von ihr ,verordnete‘ Schulreform zugunsten eines gemeinsam vom Kollegium getragenen Gestaltungsprozesses zurückzunehmen, ihre Kolleginnen in die Reformarbeit zu integrieren, deren Eigenkräfte und Eigenverantwortung zu stärken und eine vertrauensvolle Interaktions- und Arbeitskultur aufzubauen, wobei sie an ihre Erfahrungen der Milieu- und Beziehungsarbeit in der DDR anknüpfen kann. Allerdings stellt sie auch hohe Anforderungen an die Leistungs- und Einsatzbereitschaft der Kolleginnen, die Mehrbelastungen auf sich nehmen und an .freiwillig“ deklarierten Fortbildungen und Terminen auch in den Ferien und am Wochenende teilnehmen müssen. Angesichts des hohen Stellen-wertes, den das Schulprojekt in ihrer Biografie einnimmt, läuft Frau Harms Gefahr, ihr Engagement, Innovationspotential und Tempo als Messlatte anzulegen und die Bedürfnisse und Kapazitäten ihrer Kollegen unter das Primat des Schulentwicklungsprozesses zu stellen.

Die im Interview immer wieder auftauchende Wir-Perspektive vermittelt ein harmonisierendes Bild eines Reformprozesses, der von allen gemeinschaftlich getragen wird und konfliktarm verläuft. Nach innen erhöht diese ‚Anstaltsideologie‘ den Erwartungs-, Verpflichtungs- und Homogenisierungsdruck auf die Kolleginnen und verschleiert die zentrale Position der Schulleiterin als pädagogische Visionärin, die die Leitlinien und Richtung vorgibt. So drohen Aushandlungs- und Abstimmungsprozesse angesichts der scheinbaren Homogenität der Interessenlage unnötig zu werden. Ein weiterer Aspekt der Harmonisierung zeigt sich im Gründungsmythos des Reformprozesses an dieser Schule: So initiiert die Schulleiterin bei Antritt ihrer Stelle als ersten Reformschritt die Einführung eines Jahrgangsteams für die 5. Klassen. Dass gerade das Jahrgangsteam mit den Disziplinproblemen, die u.a. aus der Neuverteilung der Schülerinnen zum Schuljahresbeginn 1991 resultieren, am besten zurecht gekommen und mit der beruflichen Situation trotz erhöhter Belastung zufriedener gewesen sei, die Entwicklungsaufgabe also erfolgreich bewältigt habe, wird im Schulgedächtnis mythisch überhöht und als konstitutiv für die Durchsetzung des Teammodells, die Integration von zunächst skeptischen Kollegen und die weitere Reformarbeit an der Schule angesehen.

Auffallend ist schließlich, dass z.B. nicht die Auseinandersetzung mit der DDR- Schule und Defiziten der damaligen Erziehungspraxis die Legitimationsbasis für das 1996 erarbeitete Schulkonzept und damit die Folie bieten, auf der das eigene pädagogische Konzept begründet und erarbeitet wird, sondern ein Zustand der Anomie in der Wende- und Nachwendezeit. Angesichts dieser Ausklammerung der DDR- Schule aus dem Reformdiskurs und des Versuchs, einen Bruch und Neubeginn ohne historische Auseinandersetzung zu konstituieren, stellt sich die Frage, inwieweit sich die Reformakteure nicht über alte Strukturen und Habitualisierungen hinweg täuschen? Der Blick auf die Schülerinnenperspektive verweist hier auf Kontinuitäten und das Fortwirken bestimmter Mentalitäten, Routinen und Handlungsmuster in der Lehrerlnnen-Schülerlnnen-Beziehung.

 

Nutzungsbedingungen:

Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.