Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

[…] Jede Biografie ist unvollendet, so lange der Mensch lebt. Die Suche nach der eigenen Identität – bewusst oder unbewusst – ist eine permanente Auseinander­setzung, ohne die Gewissheit des ,richtig‘ oder ,falsch‘. Die Möglichkeiten der Entwicklung sind vielfältig. Unterstützung und Hilfestellungen für diese Ent­wicklungsprozesse zu bieten, ohne einzuengen und vorzugeben, ist ein Balan­ceakt, der zu den schwierigen Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern gehört. Die hier interpretierte Unterrichtsstunde geht noch einen Schritt weiter und macht die Identität der Geschlechter in der Vergangenheit und Gegenwart zum Thema. Meine Analyse versucht, einige Besonderheiten der Kommunikation der Lehrerin mit den Schülerinnen und den Schülern der Grundschule zu be­leuchten. Die leitende Frage lautet: Gibt es eine weibliche Kompetenz der Ver­ständigung? Zur Bearbeitung dieser Frage wähle ich Sequenzen aus, die weder die Vollständigkeit noch die Komplexität des Unterrichts wiedergeben können.

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Nach einem „Ausflug“ in die Geschichte der Ritter- und Bauernkinder, wie Mädchen und Jungen früher aufgewachsen sind, steht die Frage im Zentrum, woher es wohl kommt, dass es heute immer noch Sprüche gibt: „Das ist doch nichts für ein Mädchen!“ oder „Das ist doch nichts für einen Jungen!“ Die Schülerinnen und Schüler tauschen miteinander Erfahrungen aus, wann und zu welcher Gelegenheit sie mit solchen Aussagen Erwachsener konfrontiert wurden. Sehr entspannt und lebendig erzählen sie sich diese Geschichten, mit dem Tenor: Ich mache es trotzdem. Den Anstoß für diese Erzählungen gibt die Lehrerin, die aus ihrer Familie berichtet (Zeile 237f.):

Lehrerin: „Meine Oma sagt zum Beispiel – die sagt zu meiner Tochter manchmal: Du hast ja ‘ne Pistole. Das ist doch überhaupt nichts für Mädchen (…).“

Der besondere Spaß für die Schülerinnen und Schüler scheint zu sein, sich gegenseitig zu bestätigen, wie selbstbewusst sie sich als „moderne“ Mädchen und Jungen verhalten. Oberflächlich scheint es gleichgültig zu sein, ob das Geschlecht weiblich oder männlich ist. In dieser Phase lenkt die Lehrerin stark, sie unterstützt die Argumente der Kinder mehrfach, wie z.B.:

Lehrerin: „Ja, das ist ganz genau richtig. Es gibt keinen Grund dafür, besser gesagt, es gibt überhaupt gar keinen Grund zu sagen: Das ist doch nichts für Mädchen und das ist doch nichts für Jungen. Das ist ein ganz wichtiges Stichwort. Was denkt ihr denn, wie so was ent- wie so was entstanden ist? (….) Aber heute können wir sagen, so wie Clemens das eben gesagt hat: Also das ist doch völlig egal, ob wir Junge oder Mädchen sind, wir können alles lernen (.) .“ (Zeile 277ff.)

Die Begeisterung über die Übereinstimmung der Lehrerin mit ihren Schülerinnen und Schülern schlägt so hohe Wellen, dass kurze Zeit später die Identifikation der Lehrerin mit den Kindern verbalen Ausdruck findet:

Lehrerin: „ (…) Hier haben wir wieder Frauen und Männer heute. Vielleicht hat das (die Lehrerin deutet auf die Abbildung) irgend etwas mit uns Kindern oder euch Kindern vielmehr, ich bin ja kein Kind mehr, euch Kindern zu tun (…).“ (Zeile 315f.)

In einem anderen Zusammenhang könnte dies ein harmloser Versprecher sein, dem wenig Bedeutung beigemessen werden muss. In dieser Situation folgte eine Erzählung der anderen, eine Zustimmung und Übereinstimmung steigerte die nächste. Das Gespräch dreht sich im Kreis. Die Lehrerin fragt die Schülerinnen und Schüler zwischen den Erzählungen immer wieder nach ihrer Meinung:

Lehrerin: „Was meint ihr? Wie kann so was passieren, dass das heute plötzlich geht? (.)“ (Frauenfußball)

Eine Antwort auf diese Frage erhält die Lehrerin nicht. Jan-Henrik möchte ihr antworten, bricht aber den Versuch ab. Stattdessen bietet ihr Josephine die Schilderung einer traditionell weiblichen Beschäftigung ihrer Mutter an (Häkeln). Die Spirale beginnt von vom. Beispiele über Beispiele werden wie Perlen auf eine Kette gereiht.

Wenn ausschließlich diese Unterrichtsphase betrachtet würde, entstünde der Eindruck, dass die Lehrerin die Schülerinnen und Schüler zwar begeistern kann und die Beteiligung sehr hoch ist, aber die Lenkung des Unterrichtsgespräches das Prinzip der Kontroversität vernachlässigt. Die Gefahr ist hoch, dass in der harmonischen Atmosphäre niemand wagt zu widersprechen. Im ungünstigsten Fall lernten Kinder, die anderer Meinung sind, zu schweigen. Die Stärke der weiblichen Gesprächskultur liegt jedoch darin, dass konversationelle Übereinstimmung gleichzeitig konversationelle Großzügigkeit beinhaltet. Die Nähe durch symmetrische Sprechakte führt nicht zu einer hierarchischen Gesprächssituation, in der niemand wagt zu widersprechen. Carol Hagemann-White hat für die Grundschule festgestellt, dass die Dominanz der weiblichen Lehrenden zum Widersprechen herausfordert und zum heimlichen Lehrplan gehört, den „weiblich“ definierten Anforderungen Widerstand entgegenzusetzen (Hagemann-White 1984: 67). Bei Hagemann-White klingt dies nach Frauenverachtung, insbesondere durch die Schüler. Im Sinne politischer Bildung ist der Widerspruch gegen männliche und weibliche Lehrende durchaus erwünscht und stellt keinen Misserfolg im Lernprozess dar. In dieser konkreten Unterrichtssituation ist der Widerspruch von Magnus ein Beweis für die offene und angstfreie Lernatmosphäre. Obwohl sein Vater kocht und es naheliegt, dass er diesem Vorbild später folgt, verneint er die Frage:

Lehrerin: „Würdest du das später auch machen?“

Magnus: „Nö.“ (Zeile 335f.)

Es wäre für Magnus viel einfacher zuzustimmen. Eine Bestätigung würde in die allgemeine Zustimmung mit den anderen Kindern einfließen. Es ist zu vermuten, dass sich Magnus gegen das androgyne Ideal des Verhaltens wehrt, das in der vorherigen Unterrichtssequenz unterschwellig bevorzugt wird. Er übernimmt weder das Bild der Jungen und Mädchen, wie es die Lehrerin und die Kinder zeichnen, noch das seines Vaters. Von einem anderen Jungen erntet er knapp, aber eindeutig Zustimmung: X: „Ich auch nicht.“ Denkbar ist eine Situation, in der an dieser Stelle der Unterricht kippen könnte. Es wäre möglich, dass ein „Stimmungswechsel“ einsetzt und eine Reihe von Schülerinnen und Schülern umschwenken und ebenfalls widersprechen. Dies wäre wahrscheinlich der Fall, wenn der vorhergehende Konsens nur aus Gefälligkeit für die Lehrerin zustandegekommen wäre. Im Gegenteil: Clemens erzählt, dass er sich mit der Hilfe im Haushalt Taschengeld verdient. Traditionell weibliche Hausarbeit wird nicht allgemein abgewertet oder als „unmännlich“ gebrandmarkt. Die Geschlechteridentität bleibt flexibel und vielfältig. Die Gesprächskultur der Lehrerin gewährleistet Fairness gegenüber den Gesprächspartnern und Ehrlichkeit im Umgang mit der eigenen Meinung.

Quellenangabe:

Hagemann-White, Carol 1984: Sozialisation: Weiblich – männlich? Opladen.

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