Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

[…] An unseren Forschungen, über die wir hier sehr selektiv berichten, wirkten Jugendliche im Alter von 11 bis 17 Jahren mit. Die Teilnehmer besuchten zum Zeitpunkt der Untersuchung unterschiedliche Schultypen. Im Folgenden beziehen wir uns auf eine einzige Gruppendiskussion, die im März 2000 von drei Gymnasiastinnen und einem Gymnasiasten im Alter von 13 bzw. 14 Jahren bestritten wurde. Die Diskussion fand in einem Raum einer katholischen Gemeinde statt, aus deren Jugendgruppe die Forschungspartner rekrutiert wurden. Zur Teilnahme meldeten sich die Jugendlichen freiwillig, als sie im Rahmen eines ihrer Treffen von dem Diskussionsleiter gefragt wurden, ob sie Lust hätten, sich zu je vier Diskutanden an einem Gruppengespräch zum Thema „Geschichte“ zu beteiligen. Die Teilnehmer besuchten damals die achte Klasse derselben Schule einer mittelgroßen Stadt im Südwesten Deutschlands. […]

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Achim: Ich find das auch mit der greifbaren Vergangenheit, Zweiter Weltkrieg und so find ich interessanter – nur kenn halt jemanden, der kann alle möglichen Daten und Fakten, der kann alles aus dem Zweiten weltkrieg auswendig, aber fürs Sachliche, aber mich interessiert dann halt auch das Menschliche. Ich kann halt dann mit meinem Opa, der war zum Beispiel Soldat/
Diskussionsleiter: mh
Achim: und der war dann auch Gefangener bei den Amerikanern und so und der erzählt das dann auch und dann kann man sich auch reinversetzen halt. Kann man sich vorstellen was der gefühlt hat und was der so gedacht hat. (Z.187-202)

Achim äußert ein Unbehagen an reiner Sachkenntnis. Wichtiger als Wissen um Daten und Fakten ist für ihn das „Menschliche“. Das aber vermittelt sich in Erzählungen (von Verwandten). Der Großvater vermittelt ihm noch heute eine Vorstellung davon, was er einst als Soldat und Kriegsgefangener getan und erlebt, gedacht und gefühlt hat. Achims Hinweise konkretisieren noch einmal das bereits behandelte Konzept einer „greifbaren Vergangenheit“. Auch die herausragende Rolle von Erzählungen wird erneut herausgestrichen. Sie – und nicht die Auflistung von Fakten und Daten – sind es, die Achim historisches Verstehen im Modus des Hineinversetzens, Einfühlens und plastischen Vorstellens ermöglichen. Durch diesen narrativ vermittelten Akt historischer Imagination kann Achim die zeitliche Distanz und historische Differenz virtuell überbrücken.

Achim: Das kann ich jetzt zum Beispiel, wenn ich, wenn ich jetzt da sitze, ja ich möchte jetzt wieder nichts gegen die Römer sagen ((lacht)) ich find das auch ganz interessant, aber das ist halt/wenn jetzt/wenn jetzt jemand erzählt und die Römer machten das, das kann man sich heut gar nicht mehr alles so
richtig vorstellen.
Karin: Ja, ich/
Achim: Is/ja ich find das auch ziemlich interessant, aber das kann ich mir heut irgendwie nicht/da kann ich mich nicht reinversetzen/
Heide: also ich find/
Achim: in son Menschen (Z.202-216)

Heide kommentiert wie folgt:

Heide: […] aber ich war, äh, vor ein Jahr oder so in Rom mit meinen Eltern in so ner Gruppe und da warn wir in Ostia Antica und das ist so ne Stadt
die schon mit/so ne Ruinenstadt und ich fand das auch total interessant, weil da warn noch die ganzen Häuser und so und da konnt man sich echt gut reinversetzen – also so Läden und Plätze und so was, ja und ich find, wenn man sich das jetzt mal vorstellt wie das früher so gewesen ist und so, find ich eigentlich interessant.“ (Z.218- 227)

Das „Sich-Hineinversetzen-Können“ ist nicht allein kraft der Erzählung von Zeitzeugen möglich, und es hängt nicht davon ab, dass sich der Gegenstand des geschichtlichen Interesses in relativer zeitlicher Nähe befindet. Auch Ruinen können einem diesbezüglich behilflich sein, jedenfalls dann, wenn sie, wie in Ostia Antica, das Bild einer Stadt vermitteln, in der man auf „ganze Häuser“, „Läden und Plätze“ trifft. Alles in allem ergibt sich, dass für die Gruppe nicht der zeitliche Abstand mit den Barrieren und Möglichkeiten des historischen Verstehens korreliert ist. Das Mittelalter kann als fremder erlebt werden als die Römerzeit. Das zeitlich Fernere kann am Ende die greifbarere Vergangenheit sein.

Mit freundlicher Genehmigung des Forums Qualitative Sozialforschung.
http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/904
 

Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.