Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

[…] An unseren Forschungen, über die wir hier sehr selektiv berichten, wirkten Jugendliche im Alter von 11 bis 17 Jahren mit. Die Teilnehmer besuchten zum Zeitpunkt der Untersuchung unterschiedliche Schultypen. Im Folgenden beziehen wir uns auf eine einzige Gruppendiskussion, die im März 2000 von drei Gymnasiastinnen und einem Gymnasiasten im Alter von 13 bzw. 14 Jahren bestritten wurde. Die Diskussion fand in einem Raum einer katholischen Gemeinde statt, aus deren Jugendgruppe die Forschungspartner rekrutiert wurden. Zur Teilnahme meldeten sich die Jugendlichen freiwillig, als sie im Rahmen eines ihrer Treffen von dem Diskussionsleiter gefragt wurden, ob sie Lust hätten, sich zu je vier Diskutanden an einem Gruppengespräch zum Thema „Geschichte“ zu beteiligen. Die Teilnehmer besuchten damals die achte Klasse derselben Schule einer mittelgroßen Stadt im Südwesten Deutschlands. […]

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Heide: Wovon redet ihr?
Achim: Nichts. Von ihren Geburtstagen. Das ist auch schon Geschichte.
Karin: Von so Geburtstagen finde ich aber auch immer so gut/für mich ist aber auch schon Geschichte, wenn ich dann so Photos von meinen Geschwistern/
Achim: Ja, ja/
Karin: so als Babies gucke.
Heide: Ja genau. Ich hab son Photoalbum. Das ist sehr interessant. Meine Mutter hat mir n Photoalbum gemacht seit ich geboren wurde bis jetzt und dann gucke ichs mir auch immer wieder an. Das ist so ziemlich interessant.
Diskussionsleiter: mh
Miriam: Ja da hat man auch schöne Erinnerungen.
Karin: Als ich n Baby war, da konnt ich das ja auch nicht miterleben und da erzählt mir meine Mutter, wenn wir das zusammen gucken auch immer so ganz viele Geschichten, was ich denn damals gemacht hab. (Z. 1500-1518)

Anhand der Thematisierung von Geburtstagen wird die eigene Geschichtlichkeit und die der familiären Angehörigen herausgestellt. Dabei dienen einem Photos als materielle Spuren der Vergegenwärtigung von Zeiten, die man zum einen selbst vielleicht gar nicht miterlebt hat – das Aufwachsen der eigenen Geschwister –, und zum anderen ermöglichen sie einem, etwas über die eigene Entwicklung zu erfahren, an die man sich selbst nicht erinnern kann. Dabei fällt die Bedeutung, die nahe Verwandte für diese „Erinnerungsarbeit“ haben, auf: in diesem Fall ist es die Mutter, die für Heide ein Photoalbum angelegt hat, und auch für Karin spielt die Mutter die entscheidende Rolle – bei ihr immer dann, wenn sie beide alte Photos anschauen und die Mutter ihr erzählt, was Karin damals „denn gemacht habe“. Somit fungieren Mutter und Photoalbum als eine Art „Biographiegenerator“ (HAHN 1987) für diejenigen Teile des Lebenslaufs der Tochter, an die diese selbst noch keine eigene Erinnerung haben kann, die sie sich aber nun im Zuge der Erzählungen der Mutter aneignet. An dem gesamten Abschnitt wird schließlich deutlich, dass die Forschungspartner noch keine Unterscheidung zwischen der für das jeweilige Individuum bedeutsamen Autobiographie und der kollektiv bedeutsamen Geschichte treffen: Familiengeschichte und Autobiographie werden umstandslos unter die Kategorie Geschichte subsumiert. Dies mag allerdings nicht bloß für einen bedauerlichen Kategorienfehler sprechen, sondern möglicherweise auch für ein Bewusstsein der Historisierung weiter Bereiche unserer Lebenswelt. Anders als dies wohl für frühere Generationen der Fall gewesen ist, gelten den hier zu Wort kommenden Jugendlichen eben nicht allein die bedeutenden Taten großer Männer als geschichtliche Ereignisse, sondern ebenso die Vergangenheit alltäglicher Menschen.

Literaturangabe:

Hahn, Alois (1987). Identität und Selbstthematisierung. In Alois Hahn & Volker Kapp (Hrsg.), Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis (S.9-24). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Mit freundlicher Genehmigung des Forums Qualitative Sozialforschung.
http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/904
 

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