Falldarstellung

Transkript (Auszug)

Lehrer: (…) Wer ist denn jetzt beteiligt an diesem Konflikt? (Tafelbild: Beteiligte)
Max: Wollen Sie jetzt genaue Namen hören oder?
Lehrer: Gruppen und Institutionen. Also jetzt nicht sagen: Fritzchen Meyer, Fritzchen Meyer aus Lüchow-Dannenberg, Moritzstraße 1. Wollen wir nicht, sondern wir wollen Gruppen und Institutionen.
Max: Jetzt sowas wie CDU oder Töpfer?
Lehrer: Ja, bloß Töpfer steht für irgend etwas. Ja?
Max: Ja, okay.
Lehrer: Töpfer steht für eine Institution. Nehmen wir es einmal so ganz allgemein. So, wir versuchen es einmal. Jessica ist sich so halb am Melden.
Jessica: Also das Oberverwaltungsgericht von Lüneburg, dann die Umweltministerin Angela Merkel von der CDU, und dann halt die Frau Griefahn.
Lehrer: Griefahn. Ist ja richtig. Auch Umweltministerin von? Von?
Schüler: Niedersachsen.
Lehrer: Niedersachsen. Gut Wer ist noch beteiligt? Wer ist noch beteiligt? Und dann verallgemeinern wir. Wer ist noch beteiligt?
Schülerin: Die Bevölkerung im Wendland.
Lehrer: Aha. Sagen wir nicht: die gesamte (Bevölkerung). Ich war ja nicht beteiligt. Hätte sein können. Aber war ich nicht. Ich war so einer, der sich da rausgehalten hat
Schülerin: Im Wendland.
Lehrer: Die Betroffenen. Sagen wir die Betroffenen. Und wer ist noch beteiligt? Nicht nur die Betroffenen, sondern es sind auch noch andere beteiligt Einzelpersonen oder Gruppen, die nicht unbedingt im Wendland leben müssen. Christiane.
Christiane: Generell die Demonstranten, die eigentlich dagegen sind.
Lehrer: Also Bürgerinitiativen zum Beispiel. So, eine ganze Reihe von Bürgerinitiativen. So, da haben wir es jetzt. Jetzt versuchen wir ein bißchen, das zu verallgemeinern. Oberverwaltungsgericht, Verwaltungsgericht fassen wir zu „Gerichte“ zusam­men. Ja? Dann halten wir gesagt: Merkel, Bundesministern! Merkel. In diesem Fall nehmen wir entweder die Bundesregierung oder wir sagen: der „Bund“. Vereinfachen wir einmal. Ja? Dann halten wir Umweltministerin Griefahn. Für wen steht die denn? Wen vertritt die denn jetzt? Dörte.
Dörte: Das Land Niedersachsen.
Lehrer: Das Land Niedersachsen. Und dann haben wir die Betroffenen. Und dann können wir versuchen, das Ganze noch mal ein bißchen zu strukturieren. Wir sind dabei zu strukturieren, damit es uns klar wird. Bei den Beteiligten, jetzt findet die Auseinandersetzung auf verschiedenen Ebenen statt. Welche Ebenen haben wir denn eigentlich? Wir haben Gerichte, wir haben Bund, Land, Betroffene und Bürgerinitiati­ven. Versuchen wir das einmal verschiedenen Ebenen zuzuordnen und dann werden wir versuchen, die Wechselwirkung herauszufinden. Schwierig. Was wir jetzt machen ist ganz schwierig. Das ist Wissenschaft Nora. Sie ist begeistert, was sie kann in der Wissenschaft.
Nora: Ich würde sagen: einmal sind es die Gerichte.
Lehrer: Toll.
Nora: Und dann ist es also, die Regierung ist so, na ja, ein kleines Machtspiel, ob die auf die Weisung hören oder nicht. Und dann sind es die normalen Bürger, die beteiligt sind.
Lehrer: Gut. Wobei wir Bürger und Politiker zusammenfassen können. Das wäre sozusagen die politische Auseinandersetzung. Also wir haben zwei Ebenen. Ich ver­suche es noch einmal, genau das, was Nova gesagt hat, nochmals zu verdeutlichen. Wir haben einmal die Auseinandersetzung auf der rechtlichen Ebene. Sprich: Ge­richte. Und dann haben wir die Auseinandersetzung auf der politischen Ebene. Wer zählt denn dazu? Zur politischen Ebene? Wer streitet sich denn politisch mit unter­schiedlichsten Mitteln? Wer war denn das jetzt? Wen müssen wir dazu packen? Birgit.
Birgit: Die Politiker untereinander.
Lehrer: Und?
Birgit: Demonstranten und Polizei.
Lehrer: So, dann haben wir die Beteiligten. Jetzt versuchen wir das Ganze. Ich hoffe, daß ich das hier (an der Tafel) hinkriege. Also, die rechtliche Ebene und wir haben die politische Ebene So. das waren die beiden Ebenen. Nun gucken wir uns einmal an. Die Gerichte, wir hatten gesagt wir haben einmal das Oberverwaltungsgericht.
Max: OVG.
Lehrer: Wenn ihr so toll seid, machen wir: OVG. Ja. ihr wißt, was das heißt OVG. Oberverwaltungsgericht
Max: Nein! (Lachen)
Lehrer: Und darunter, was haben wir da? Ihr habt ja wunderbaren Unterricht in der 9. Klasse gehabt. Nicht das, OVG, auch das spielt eine Rolle da.
Schüler: BVG.
Lehrer: Nicht BVG (Lachen). Das Bundesverfassungsgericht meinst du wohl, was? Das spielt noch keine Rolle da. BVG. Lassen wir weg.
Max: LVG. Landesverwaltungsgericht.
Lehrer: Nein, das heißt ja nicht Landesverwaltungsgericht Das machen wir einfach mal so hin: Verwaltungsgericht. So dann haben wir hier die politische Ebene. Castor-Transport. Ich mache es einmal so. Da packen wir zunächst einmal hin: die Beteiligten. Die Betroffenen und. Was soll das nun heißen: BI? Eine ganz blöde Abkürzung, wird aber häufiger verwendet. …
Max: Bürgerinitiativen….
Lehrer: Gut. So machen wir hier den Bund hin und hier das Land. So, schauen wir erst einmal das an. Ihr merkt, wir machen das ganz schnell heute. Wir gucken erst einmal das hier an. Wer kann denn miteinander? Und wer kann nicht miteinander? Wer hat also mehr also mehr oder weniger übereinstimmende Interessen und wer hat gegensätzliche Interessen in dieser Auseinandersetzung? Das tragen wir hier ein. Wer kriegt sich in die Wolle? Ich sage es noch einmal anders. Und wer liebt sich? In Anführungsstrichen natürlich. Bettina.
Bettina: Der Bund und das Land Niedersachsen.
Lehrer: Was machen die? Die umarmen sich?
Schülerin: Die streiten.
Lehrer: Wunderbar. Die streiten. Das heißt Streit (Symbol im Tafelbild). Gegensätzliche Ziele heißt das. Ja? Weiter. Wer kann sich auch noch nicht riechen? Sebastian.
Sebastian: Die Betroffenen und der Bund, die können sich auch nicht riechen.
Lehrer: Logisch. Die können sich nun gar nicht riechen. Als die Merkel in Gorleben war und sich das alles einmal anguckte, wurde sie ausgepfiffen bis zum Geht-nicht-mehr. Ja? So, alle mögen sich nicht. Oder? Gibt es auch Leute, die miteinander können, die mehr oder weniger übereinstimmende Ziele haben? Lena.
Lena: Naja. Land und Betroffene.
Lehrer: Im Prinzip schon nicht? Und worin stimmen die denn überein?
Lena: Die selben Interessen.
Lehrer: Worin stimmen die überein? Ganz konkret.
Lena: Na ja. daß das halt der Ort ist wo das Lager hin soll.
Lehrer: Konkret. Worin stimmen die Überein? Was ist das übereinstimmende? Sie sind sicher nicht in allen Sachen einig. Wir haben hier einen Konflikt. Und worin stimmen sie da in diesem Konflikt überein? Andrea.
Andrea: Daß das Zwischenlager nicht in Gorleben sein soll.
Lehrer: Klar, und der soll nicht da hin. da Castor. Den wollen sie dort nicht haben in Gorleben. Das will weder die Regierung in Hannover noch wollen es die Betroffenen und die Bürgerinitiativen. Wunderbar. Das ist das eine, die politische Ebene. Da haben wir schon mal die Konfliktlinien. So, jetzt gehen wir mal einen Schritt weiter. Was machen die jetzt und auch die auf der rechtlichen Ebene? Die können sich einmal politisch auseinandersetzen, dann können sie sich natürlich auch noch rechtlich, sie können auch noch die rechtliche Ebene einschalten. Was läuft denn da an? Was passiert da? Christoph.
Christoph: Die Gerichte sollten am Anfang nicht unparteiisch (gemeint ist wahrscheinlich: nicht parteiisch) sein und sich dann erst das Urteil bilden.
Lehrer: Was machen die jetzt? Die wollen das verhindern. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Streiks und Demonstration, und all das, was wir gehört haben. Und an die Presse gehen, alles das machen die ja. Sie leisten großen Widerstand. Machen wir es einmal hin (Tafelbild). Die leisten Widerstand. Das heißt: leisten Widerstand. Ja? Sie bekämpfen das. Gut. Nun haben sie noch eine andere Möglichkeit, den Transport zu bekämpfen. Aus dem Verlauf wird es klar. Aber jetzt kriegen wir es noch ein bißchen klarer. Boris.
Boris: Die Betroffenen wenden sich gegen das Gericht oder an das Gericht.
Lehrer: Richtig. Sie rufen Gerichte an. Und der Bund? Und der Bund? Max.
Max: Ebenfalls. Die halten dagegen.
Lehrer: Klar, wenden sich auch an die Gerichte. So, jetzt kommen wir zu einer ganz wichtigen Überlegung. Das muß man richtig erst einmal kapieren, sonst versteht man Politik nicht. Wir haben zwei Ebenen hier, das seht ihr, zwei Ebenen. Wann kann diese rechtliche Ebene sozusagen sich nur in einen Konflikt einschalten? Das muß man erst mal richtig, mit Genuß sozusagen, sich Überlegen. Zunächst einmal klingt es so: zwei Ebenen und beide sind sie gleichberechtigt Wann wird die rechtliche Seite sozusagen tätig? Lena.
Lena: Wenn klar wird, daß es zu keiner Einigung kommen kann.
Lehrer: Nein. Guckt euch die Pfeile an. Guckt die Pfeile an. Eine ganz wichtige
Sache. Andrea.
Andrea: Wenn die Betroffenen und der Bund sich an das Gericht wenden.
Lehrer: Prima. Nur wenn sich irgend jemand sozusagen an ein Gericht wendet, in diesem Fall die Beteiligten, die Betroffenen oder der Bund. Wenn sich niemand an die Gerichte wendet schalten sie sich auch nicht ein. Das muß man erst einmal so klar im Kopf haben. Egal, um welchen Konflikt es sich dreht: die Gerichte werden nur dann tätig, wenn irgendjemand sie anruft, der an dem Konflikt beteiligt ist (…)

 

Interpretation

Das Transkript stammt aus einer 2-stündigen Kurzsequenz, die im Vorfeld eines Werkstattseminars der Bundeszentrale für politische Bildung aufgezeichnet wurde.

Wir möchten im folgenden den Versuch machen, den dokumentierten Auszug aus dem Transkript der ersten Stunde zum „Castor-Transport“ unter fachdidaktischen Fragestellungen zu untersuchen.

Als Interpretationsfolie nehmen wir bewußt nicht auf die in der Fachdidaktik diskutierten Variablen- und Kriterienmodelle[1]  bezug, vielmehr möchten wir induktiv vorgehen und eng am konkreten Material fachdidaktisch relevante Aspekte rekonstruieren[2]. Die Aspekte resultieren aus einem Vorverständnis, das in den beschriebenen Leitfragen verdeutlicht wurde.

Die zweistündige Kurzsequenz führt der Lehrer vor einer fremden Klasse durch. Als Vorgabe zielen Thema und Anlage der Sequenz darauf ab, politische Urteilsbildung anzubahnen. Bewußt wird auf handlungsorientierte Methoden verzichtet. Die beiden Stunden wurden an zwei aufeinanderfolgenden Tagen, einmal in der dritten, dann in der sechsten Unterrichtsstunde der 10.Klasse eines Berliner Gymnasiums durchgeführt und mit Video aufgezeichnet.

Hermeneutische Interpretation fachdidaktisch relevanter Aspekte

Wenn die Annahme richtig ist, daß Gegenstand von fachdidaktischen Analysen Mikrostrukturen von Fachunterricht sind, dann müssen sich aus dem ausgewählten Beispiel fachdidaktisch relevante Aspekte ermitteln lassen.

Folgende Einzelaspekte können genannt werden: Konfliktanalyse, Beteiligte, Lernprozeß, Kategorien und Methoden.

(1)       Konfliktanalyse

Der Transkriptauszug beginnt mit der einfachen Frage: „Wer ist denn jetzt beteiligt an dem Konflikt?“

Daß es sich um einen politischen Konflikt handelt, war in der ersten Phase der Stunde zunächst vorläufig dadurch ermittelt worden, daß zwei kontroverse Grundpositionen zum Castor-Transport formuliert worden waren:

Transport und Zwischenlager                            Transport und Zwischenlager

sind notwendig und                                              sind nicht notwendig und

verantwortbar.                                                       unverantwortbar.

Anschließend wurde auf der Grundlage der vorbereitenden Hausausgabe der Verlauf der politischen Auseinandersetzung in Form einer „Fieberkurve“ beschrieben. Die Fieberkurve enthielt in der Horizontalen die Zeitdimension, in der Vertikalen wurden die Härte der Auseinandersetzung sowie zentrale Wendepunkte eingetragen.

Im Unterschied zur Problemanalyse, bei der im ersten Schritt das politische Problem formuliert wird, kommt es bei der Konfliktanalyse weniger auf die Definitionsmacht der Akteure an; vielmehr geht es um inhaltliche Positionen.

Nach der Fixierung des Konflikts durch Gegenüberstellung zweier Grundpositionen und nach der Ermittlung des Konfliktverlaufs, folgt ein weiteres konstitutives Element der Konfliktanalyse: die Ermittlung der Beteiligten.

(2)       Beteiligte

In der nachfolgenden Gesprächssequenz wird zunächst ein unklarer Sachverhalt geklärt. Schüler: „Wollen Sie jetzt genaue Namen hören?“

Schülerinnen und Schüler denken in der Altersphase der Adoleszenz noch sehr konkret, so daß die Frage: „Wer war beteiligt?“ auf konkrete Personen bezogen wird („genaue Namen“). Diese Erwartung wird vom Lehrer negiert. Ihm geht es nicht um Personen (karikiert als „Fritzchen Meyer, Lüchow-Dannenberg, Moritzstraße 1“), sondern um „Gruppen und Institutionen“.

Dies zu betonen, begründet sich aus drei Überlegungen:

1.   der Abgrenzung von sozialen Rollen und politischen Funktionsträgern;

2.  der Unterscheidung zwischen sozialem und politischem Lernen und

3.  indirekt der Frage, wer seine Interessen in den politischen Entscheidungsprozeß einbringen kann.

Die erste Überlegung geht darauf zurück, daß die Schülerinnen und Schüler am Ende der Sekundarstufe I sich in ihrem Denken allmählich von Vorstellungen des sozialen Nahbereichs lösen sollten, um mit abstrakteren Kategorien der politischen Makroweit umgehen zu lernen.

Hinzu kommt in der zweiten Überlegung, daß der Schwerpunkt dieser Stunde nicht im sozialen Perspektivenwechsel, in Empathie oder in einer Identifikation liegt, sondern analytisch auf Informationsgewinnung abzielt, die letztlich der eigenen Urteilsbildung dient.

Im politischen Lernen geht es um „Politik“, konkret um den Konflikt um den Castor-Transport. Um diesen nachzuvollziehen, helfen Befindlichkeiten und Mentalitäten wenig, vielmehr ist die Erarbeitung von politischen Strukturen notwendig, wie sie in den Elementen der Konfliktanalyse angelegt sind. Auch wenn die Schülerinnen und Schüler die Tendenz zum konkreten Denken beibehalten („und dann halt die Frau Griefahn“), kann durch Rückfragen die Funktion konkreter Personen innerhalb des politischen Systems erfaßt werden.

Der Hinweis auf das politische System berührt die dritte Überlegung. Die Formulierung unterschiedlicher Standpunkte zu einer politischen Frage reicht nicht aus, Einfluß auf Entscheidungen zu nehmen. Vielmehr ist zu fragen, welche Interessen damit repräsentiert werden, wie diese politisierbar sind und welche Durchsetzungschancen bestehen.

Im Ergebnis dieses Gedankenschrittes wird ein Spektrum mit fünf Grup¬pen oder Institutionen genannt.

Im Begriff „Beteiligte“ am Konflikt wird systematisch eine Mitte zwischen politischen Akteuren (Funktionsträgern) und gesellschaftlichen Adressaten (von Politik Betroffenen) bezeichnet. „Beteiligte“ sagt noch nichts über die Organisationsfähigkeit von Interessen, über Machtpotentiale und Einflußchancen. Be-„teil“-igte meint lediglich, daß die Gruppen oder Institutionen eine aktive Rolle im politischen Prozeß übernehmen, die öffentlich wahrgenommen werden kann.

Diese Überlegung schließt einen materialbezogenen Aspekt ein: Grundlage der Hausaufgabe war eine Zusammenstellung von Artikeln aus verschiedenen Tages- und Wochenzeitungen, die über den Castor-Transport berichteten.

(3) Lernprozeß

Die Sammelphase, in der die am Konflikt Beteiligten lediglich benannt und funktional im politischen System verortet werden, wird weitergeführt in eine Abstraktionsphase („das zu verallgemeinern“).

Geht man vom konkreten Denken der Schülerinnen und Schüler aus, dann stellt dieser Schritt bereits eine doppelte Abstraktion dar: von Namen und Individuen zu Gruppen und Institutionen, von dort zu zusammengefaßten Einheiten (z.B. „Bund“). Diese Zusammenfassungen dienen der Strukturierung; sie sind zugleich abstrakter und einfacher.

Der Wechsel von konkreter Ebene und abstrahierender Zusammenfassung kennzeichnet die gesamte Stunde. Die Schülerinnen und Schüler sehen sich immer wieder gezwungen, diesen Wechsel der Denkebene mitzuvollziehen. Dies gelingt nicht immer, ist auch nicht immer zwingend.

Dazu zwei Belege aus dem Transkriptauszug.

Auf den Arbeitsauftrag: „Versuchen wir das einmal, verschiedenen Ebenen zuzuordnen“, nennt Nora die Gerichte als eine Ebene und die Regierung sowie die normalen Bürger als weitere Ebenen.

Die beiden letzten sieht sie im bewußten Gegensatz: Regierung versus Bürger. Dieser Gegensatz wird im nächsten Schritt vom Lehrer eingeebnet („Gut. Wobei wir Bürger und Politik zusammenfassen können. Das wäre sozusagen die politische Auseinandersetzung“), obwohl er später als Interessengegensatz nochmals auftaucht.

Zugleich wird ansatzweise das Politikbild der Schülerin deutlich, wenn sie sagt: „Und dann ist es also, die Regierung ist so, na ja, ein kleines Machtspiel, ob die auf die Weisung hören oder nicht.“

Gemeint ist die Auseinandersetzung zwischen der Bundesregierung und der Landesregierung Niedersachsens, beide tragen ein „Machtspiel“ aus.

Mit dem Begriff der Macht taucht eine grundlegende politische Kategorie auf, über die die Schülerin verfugt, allerdings in der Verknüpfung mit „Spiel“. Damit wird dieser Auseinandersetzung der „Ernstcharakter“ abgesprochen. Es geht nur zum Schein um eine Auseinandersetzung.

Was könnte dahinter stecken? Spekulativ bieten sich mehrere Möglichkeiten an:

– ein generelles Mißtrauen gegen Politik(er), das z.T. aus der Differenz zwischen umweltpolitischen Programmen und Handeln resultiert;

– dahinter können auch klare Kompetenzen liegen, die den Handlungsrahmen

von politischen Institutionen von vornherein festlegen (z.B. Bundesrecht bricht Landesrecht oder Weisungsbefugnis der Bundesbehörde gegenüber Landesbehörden nach dem Atomgesetz);

– vielleicht spielt die Erkenntnis eine Rolle, daß auch symbolische Handlungen politische Wirksamkeit entfalten (etwa auf die Energiekonsensgespräche) und Parteien von der Besetzung von Feldern und Positionen profitieren (Agenda setting).

Der dokumentierte politische Lernprozeß läßt sich als Pulsschlag von Konkretion, Abstraktion und Rekonkretisierung (Hilligen) charakterisieren. In dieser dialektischen Anlage des Denkens wird in der alltäglichen Unterrichtspraxis vielfach der dritte Schritt übersehen. Der Lernprozeß beginnt beim konkreten Fall oder Problem und endet nach der Analyse in einer abstrahierenden Zusammenfassung. Rekonkretisierung aber hieße, die Ergebnisse auf den Fall bzw. auf das Problem rückzubeziehen.

Ansatzweise läßt sich dies im transkribierten Unterricht erkennen. Nachdem die Befragten benannt (konkret) und strukturiert zugeordnet sind (abstrakt), folgt ein weiterführender Impuls: „Wer zählt zur politischen Ebene? Wer streitet sich denn politisch mit unterschiedlichsten Mitteln?“

Die Frage nach den Konfliktlinien greift das Bisherige auf, erweitert es, indem die Mittel der Beteiligten berücksichtigt werden. Dieser Rückbezug dient sowohl der Klärung der Struktur des Erarbeiteten, hier der Unterscheidung zweier Ebenen, als auch der Weiterführung zur nächsten Teilfrage.

Aus diesem Wechsel der Ebenen konkret und abstrakt kann sich ein Kommunikationsproblem dann ergeben, wenn der abstrakter denkende Erwachsene den Weg nicht zu den konkret-anschaulich denkenden Jugendlichen findet und umgekehrt. Die Folge davon ist: Man redet aneinander vorbei, zwar nicht inhaltlich, aber bezogen auf den Abstraktionsgrad.

Will man politisches Lernen anstreben, kann man die Schülerinnen und Schüler nicht von Abstraktionsleistungen entlasten; diese Abstraktionen steigern sich noch, wenn man mit Kategorien arbeitet und diese dann in politik-theoretische Zusammenhänge einbindet (und mit anderen Theorien konfrontiert).

Der Lernprozeß läßt sich auch mit Hilfe von Anforderungsbereichen untersuchen. Während das Benennen der Beteiligten noch zum ersten Anforderungsbereich (Kenntnisse) zählt, handelt es sich bei der Strukturierung und Zuordnung um eine typische Transferaufgabe des zweiten Bereichs. Die „Wechselwirkung“ der verschiedenen Ebenen erkennen, setzt hohe analytische Fähigkeiten voraus ebenso wie komplexes Denken; diese Aufgabenstellung nähert sich dem dritten Anforderungsbereich (selbständige Urteilsbildung, Synthese).

Fachwissenschaftlich betrachtet erfahren die Schülerinnen und Schüler in dieser Abfolge etwas von der Komplexität der Politik.

(4) Kategorien: Konflikt, Recht, Interessen

Betrachtet man das Konflikthafte als das Typische eines politischen Willens- bildungs- und Entscheidungsprozesses, dann stellt sich die Frage, welche Faktoren diese Auseinandersetzung beeinflussen. Mit Hilfe des Politikzyklus wird dieser Prozeß modellhaft erfaßt. Im konkreten Ausschnitt sind es drei zentrale Kategorien, die den verkürzten Politikzyklus andeuten: die Auseinandersetzung selbst als Konfliktanalyse, die Verhältnisbestimmung zwischen Politik und Recht und die Interessenanalyse zur Bestimmung der Konfliktlinien.

Während die erste Kategorie bereits behandelt wurde (s. Punkt (1)), sollen die beiden anderen jetzt erläutert werden.

Unter dem Titel „Recht und Politik“ (Berlin) existiert eine eigene Fach-zeitschrift. Das Verhältnis wird zweifach bestimmt: Recht als Voraussetzung und Recht als Ergebnis politischen Handelns. Auch ist von Recht als „geronnener Politik“ die Rede. Manche Autoren definieren Politik auch über den Rechtsbegriff: Politik meint dann die Umwandlung von Interessen in Recht.

Die Unterrichtsstunde zielt nicht auf solche abstrakten Verhältnisbestimmungen ab, fordert aber dennoch einige wichtige Erkenntnisse über den Zusammenhang von Politik und Recht zutage.

Die erste Erkenntnis ergibt sich aus der Verlaufsanalyse: Die „Fieberkurve“ hat in rechtlichen Entscheidungen (Urteilen, Weisungen) ihre Wendepunkte, die zur Verschärfung oder Verminderung der Auseinandersetzung führen.

Die zweite Erkenntnis betrifft die analytische Unterscheidung in eine politische und eine rechtliche Ebene der Auseinandersetzung. Auf beiden Feldern wird die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Mitteln geführt. Politisch als Demonstrationen, Proteste, usw., rechtlich als Anträge auf Einstweilige Verfügung usw.

Die dritte Erkenntnis macht die Komplexität der Politik deutlich: beide Ebenen steht nicht additiv nebeneinander, sondern entfalten Wechselbeziehungen. Alle am Konflikt Beteiligten haben die Möglichkeit, politische Entscheidungen auf ihre Gesetzesförmigkeit überprüfen zu lassen. Zuerst strengen einzelne Bürger eine Einstweilige Verfügung gegen den Transport an, die Erfolg hat und den Transport zunächst stoppt. Die vom Bund angestrengte Überprüfung der Entscheidung in der nächst höheren Instanz kommt zu einem anderen Ergebnis mit der Folge, daß die Rechtsmittel erschöpft sind und der Transport durchgeführt werden kann.

Ausdrücklich formuliert eine Schülerin am Ende der Stunde die sie interessierende Frage: Warum haben das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht unterschiedlich entschieden? Hier bleibt für die Schülerin ein Problem offen, dessen Klärung in einer Folgestunde möglich wäre. Hierzu müßte man allerdings die konkreten Anträge und die Urteilsbegründungen zur Verfugung haben.

Zwar bleibt aufgrund der offenen Frage ein Unbehagen zurück, dennoch kann in diesem Zusammenhang auch ein Mißverständnis geklärt werden: die Gerichte entscheiden nicht, weil die Frage des Castor-Transports politisch umstritten ist und es zu keinem Kompromiß kommt (wie eine Schülerin vermutet), sondern sie überprüfen politische Entscheidungen anhand rechtlicher Normen (z.B. Sicherheitsbestimmungen, Verfahrensabläufen). Daß sie dabei den Verlauf massiv beeinflussen, wurde bereits erwähnt.

(5) Methoden

Bereits im knappen Transkriptauszug wird deutlich, daß die Unterrichtskommunikation lehrerzentriert verläuft. Grundlage war allerdings das in der Hausaufgabe unter bestimmten Fragestellungen zu bearbeitende Material (Zeitungsartikel).

Es dominiert als Methode das stark gelenkte fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch.

Als Vorentscheidung bei der Planung muß erwähnt werden, daß man sich für die 2-stündige Kurzsequenz zum Castor-Transport bewußt gegen handlungsorientierte Methoden entschieden hatte. Im Zentrum dieser ersten Stunde stand die Informationsvemittlung, die kognitiv und analytisch ausgerichtet ist.

Ein Aspekt der Unterrichtskommunikation muß noch hervorgehoben werden: Der Versuch, die Schülerinnen und Schüler für das Thema zu motivieren. Diese Versuche zeigen sich zum einen darin, daß immer wieder gelobt wird („toll“, „wunderbar“); dabei muß die Situation berücksichtigt werden: der Lehrer kommt von außen vor eine fremde Klasse. Die Beziehung muß erst aufgebaut werden.

Zum zweiten versucht der Lehrer die Schülerinnen und Schüler dadurch herauszufordern, daß er an verschiedenen Stellen darauf hinweist, daß die Aufgabe schwierig sei, bzw. daß sie etwas mit „Wissenschaft“ zu tun habe. Dies ist kein taktisches Argument; vielmehr zeigte die fachdidaktische Interpretation, wie viele fachwissenschaftlichen Elemente in dieser Stunde eine Rolle spielten und somit wissenschaftspropädeutisches Lernen angestrebt werden konnte.

Als letzter Aspekt soll die Visualisierung im Tafelbild thematisiert werden. Nach den Unterrichtsgesprächen wurden die vier erarbeiteten Teile je- weils an der Tafel fixiert: der Konflikt, der Verlauf, die Beteiligten und die Entscheidung.

Die bildhafte Darstellung des Verlaufs als „Fieberkurve“, der Einsatz von Farben und Symbolen zur Verdeutlichung von Zusammenhängen und Konfliktlinien ergeben im Gesamtbild eine Vorstellung vom (verkürzten) Modell des Politikzyklus (vgl. Tafelbild aus dem Planungsentwurf), die auf weitere politische Konfliktanalysen übertragbar ist.

Für die gesamte erste Unterrichtsstunde können folgende fachdidaktisch relevante Merkmale, festgehalten werden: [3]

dem Lehrer gelingt es immer wieder, die „fremden“ Schülerinnen und Schüler zu motivieren; dies zeigt sich u.a. in der breiten Beteiligung am Unterrichtsgespräch;

die Unterrichtsstunde zeigt exemplarisch die Entwicklung eines systematischen Tafelbildes;[4]

die gut nachvollziehbare Struktur der Stunde resultiert aus einer klaren Fragestellung, einer deutlichen Phasenstruktur sowie der Berücksichtigung unterschiedlicher Anforderungsbereiche; hinzu kommt die Auswahl von Materialien, mit deren Hilfe sich die Schülerinnen und Schüler in der vorbereitenden Hausaufgabe in die Thematik einarbeiten konnten.

Schließlich bildet das Modell des (verkürzten) Politikzyklus die Gesamtfolie dieser Stunde, in dem das zentrale Problem, der Verlauf der Auseinandersetzung sowie die unterschiedlichen Gruppen von Beteiligten auf politischer und rechtlicher Ebene herausgearbeitet werden.

Nach unserer Einschätzung haben die Schülerinnen und Schüler in dieser ersten Stunde wichtige prägende Elemente eines politischen Konfliktes kennengelernt, die sie verallgemeinern und bei weiteren Fallanalysen verwenden können. In der nachträglichen Einschätzung der Kurzreihe formulierten die Schülerinnen und Schüler die Erkenntnis, daß das Fach Sozialkunde/Politik doch schwierig sei, wenn nicht nur unverbindlich diskutiert würde. Diese Einsicht korrigiert das Image des Faches („Laberfach“) hin zu anspruchsvollem Politikunterricht.

Fußnoten:

[1] Ein politologisch geprägtes Urteilsraster, das politisch-gesellschaftliche Rationalität in Effizienz- und Legitimitätsaspekte unterteilt, hat Peter Massing vorgelegt: Was heißt und wie ermögliche ich politische Urteilsbildung? In: ders./Georg Weißeno (Hrsg.) a.a.O., 205- 225.

[2] Vgl. zum rekonstruktiven Verfahren und zur dokumentarischen Interpretation: Ralf Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung, 2. Aufl. Opladen 1993.

[3] Vgl. dazu im einzelnen die Dokumentation (Schriftliche Unterrichtsplanung, Transkripte) der Kurzsequenz in: Politische Urteilsbildung. Aufgabe und Wege für den Politikunterricht, hrsg. v. Peter Massing und Georg Weißeno, Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 344, Bonn 1997.

[4] In der Unterrichtspraxis scheint die Entwicklung von Tafelbildern tendenziell durch den Gebrauch von Folien und Strukturbildern verdrängt zu werden; dabei bietet es sich an, den roten Faden einer Stunde im Tafelbild zu visualisieren. Erfahrungen in der Lehreraus- und – fortbildung zeigen, daß das Trainingselement „Tafelbild“ anregend sein kann, um z.B. Lehrer- oder Schüler-Vorträge oder Texte zu strukturieren; vgl. dazu auch: Georg Weißeno: Das Tafelbild im Politikunterricht, Schwalbach 1992.

 
Mit freundlicher Genehmigung des VS-Verlages.
 

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