Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die Zusammensetzung der Mädchen in den jeweiligen Gruppendiskussionen ist sehr unterschiedlicher Art und es lässt sich beobachten, dass mit dem Austausch der Gruppenkonstellation auch eine Veränderung der kollektiven Orientierungen (v.a. bzgl. Schule) einhergeht. Auffällig scheint, dass keines der Mädchen, die in der ersten Erhebungsphase von Aylin zur Gruppendiskussion eingeladen wurden, zur zweiten Diskussion zwei Jahre später gebeten worden ist. In der ersten Erhebungswelle fand die Diskussion mit den Mädchen Juwan, Malek, Shirin und Dimah statt, welche alle unterschiedliche Migrationskontexte aufweisen. Auch die familiären Hintergründe der Mädchen lassen Ähnlichkeiten v.a. bezüglich der Abschlüsse der Eltern erkennen. So weisen die Mütter von Dimah und Juwan zwar die Hochschulreife auf, doch sind trotz dieser Qualifikation als Hausfrauen bzw. in gering qualifizierten Jobs tätig. Die Väter der Mädchen gehen alle Handwerksberufen nach oder befinden sich bereits im Ruhestand.

Eine umfassende habituelle Übereinstimmung, die die Mädchen verbindet, ist ihre starke Orientierung an Solidarität und gegenseitiger Hilfeleistung, sei es in privaten oder schulischen Belangen. Schule als Ort der Qualifikation spielt für die etwa zwölfjährigen Mädchen dagegen noch keine Rolle.

In der nächsten Erhebungsphase wird diese Peergroup vollständig durch eine neue ersetzt. Die neuen Mitglieder sind alle aus dem schulischen Kontext rekrutiert und haben ebenfalls einen Migrationshintergrund. Die Gruppendiskussion fand mit den Mädchen Samira, Aziza, Nesli, Bahar, Ebru, Fatima und Tanja statt, deren Eltern, ähnlich zu denen der anderen Mädchen, oftmals gering qualifizierende oder auf Grund der politischen Situation im Libanon gar keine Schulabschlüsse aufweisen. Dies ist auch unter dem Aspekt von Relevanz, dass von den Mädchen berichtet wurde, dass ihre Eltern mitunter den Weg der Hochschulreife gehen wollten, diesen jedoch abbrechen mussten. Die Väter der Mädchen verfügen zum Großteil über einen Haupt- oder Realschulabschluss, wobei in keiner Gruppendiskussion ein männliches Elternteil mit dem Abitur erwähnt wird. Es wird berichtet, dass sie als Aushilfen handwerklichen Tätigkeiten nachgehen oder keine Erwerbsarbeit innehaben, während die Mütter allesamt den Haushalt übernehmen. Weiterhin mokieren sich die Mädchen über die Schwarzarbeit ihrer Bekannten, da sich in ihrer Wahrnehmung nahezu alle Migranten ihrer Umgebung durch solche Tätigkeiten etwas zu ihrem Lebensunterhalt dazu verdienen.

Eine wesentliche Veränderung innerhalb der Peergroup, die ein vormals konstitutives Moment für die Gruppe ausmachte, betrifft die nunmehr wenig emotionale und problemlösende Unterstützung der Mädchen. Weiterhin verhält sich der dominantere Teil der neuen Freundschaftsgruppe auch in schulischen Belangen vielmehr als Risiko- denn als Unterstützungspotenzial.

Nesli und Bahar sind in der dritten Erhebungswelle die einzigen Gruppenmitglieder, die von Aylin erneut zu einer Gruppendiskussion eingeladen werden – interessanterweise die beiden Charaktere, die sich in der Gruppe wohl am deutlichsten gegenüberstehen: Nesli als die weiterhin stigmatisierte Strebsame, die offensichtlich diese Risikorolle von Aylin übernahm, und Bahar als die Gruppenführerin, deren schulische Gegenwehr konstitutiv für einen Teil der Gruppe in der zweiten Erhebungsphase war. Innerhalb der Gruppe wird jedoch v.a. durch die anderen beiden Mädchen Selima und Janina klar, dass diese Schulablehnung nun nicht mehr Bestandteil des Kollektivs ist, da gleichsam von allen Mädchen Schule als ein Ort erfahren wird, der unerlässlich für die eigene Bildungsbiografie ist: Schule bedeutet „Zukunft“ (GD: Aylin 2009/10, 348). In diesem Zusammenhang scheint es sehr interessant, dass Bahar ihre frühere Einstellung geändert haben muss, um in der neuen Peerkonstellation erneut als Anführerin Akzeptanz zu erfahren – „äh Zukunft is mir wichtich, Schule is mir auch sehr wichtich“ (GD: Aylin 2009/10, 418f.). Unter diesen Umständen unterliegt Aylin nun nicht mehr einem Risikopotenzial, das von ihren Peers ausgeht, sondern befindet sich im Rahmen eines die Schule akzeptierenden und affirmierenden Netzwerks.

Die Entwicklung der Einbindung in die Peernetzwerke: Aylin – von der diffamierten Streberin zur autorisierten Unterstützerin

Wie bereits angedeutet, durchlief Aylin eine Reihe unterschiedlicher Adressierungen seitens ihrer Peers, die sich zu jedem Erhebungszeitpunkt mit dem Wechsel der Peergroup änderten. So wurde während des ersten Erhebungszeitpunkts die Peerwelt noch als Gegenwelt typisiert und damit von den Peers das Thema Schule kaum in den gemeinsamen Peeralltag integriert oder absichtlich degradiert, bzw. sind Freundschaften genutzt worden, um die elterlichen Leistungserwartungen durch emotionale Hilfestellungen zu kompensieren (vgl. Krüger/Köhler/Zschach 2010, S. 48).

In der zweiten Erhebungswelle spitzt sich der Konflikt zwischen Aylins höheren individuellen Leistungsorientierungen und ihren Peers zu, wobei die Peers sogar als Risikopotenzial für die individuelle Bildungsbiografie betrachtet werden können. Dies äußert sich darin, dass sich ein Teil der Peergroup schulnonkonform verhält und damit Aylins Leistungsbestrebungen diskreditiert. Aylin und ihre Freundin Nesli, welche ebenfalls an der Gruppendiskussion teilnahm, sehen sich aus diesem Grunde der Stigmatisierung als Streberinnen ausgesetzt.

Dies birgt nun die Gefahr für Aylin, dass sie zu Gunsten des ‚Sich-attraktivmachens‘ für die Gruppe ihre individuellen Leistungen mindern oder verheimlichen muss, um nicht aus der Gruppe exkludiert zu werden. Gleichwohl konnte sie auch einer anderen Strategie nachgehen und sich teilweise dem Blickfeld der anderen entziehen, indem sie Nesli als diejenige identifizierte, die noch strebsamer ist als sie selbst – „die macht am meisten, ich nich //zeigt auf Nesli//“ (GD: Aylin 2007/08, 147).

Wie in der längsschnittlichen Betrachtung ersichtlich wird, verändern sich Aylins Schulnoten nur unwesentlich, und auch ihre Ambitionen bzgl. ihrer Schulaufgaben und ihrer Karriere-Ziele ändern sich kaum. Stattdessen verfolgt sie weiterhin ihren Weg und wird, erneut durch eine Veränderung in der Peergroup, nicht mehr dem Strebervorwurf ausgesetzt, sondern ganz im Gegenteil von den Peers als autorisierte Unterstützerin im Schulalltag erlebt. Sie ist nicht nur beim Lernen oder bei den Hausaufgaben behilflich, sondern gewährt ihren Peers auch das Abschreiben der Hausaufgaben und Anfertigen von Spickzetteln. Gleichzeitig wird auch ersichtlich, dass eine Transformation in der Peerzusammensetzung selbst stattgefunden haben muss, da die eigentümliche schulische Widerständigkeit aufgegeben wurde und auch Aylin die Hilfe ihrer Peers in Anspruch nehmen kann – „oder bei den Hausaufgaben wie hast du das gemacht kannst du mir helfen oder soll ich dir helfen“ (I: Aylin 2009/10, 578f.).

Wandel der kollektiven Orientierungen vor dem Hintergrund gemeinsamer Freizeitpraxen: Die begrenzte gemeinsame Freizeit im außerinstitutionellen Kontext

Die Schule ist für Aylin und ihre verschiedenen Peergroups stets der Raum und der Rahmen, in dem die meisten kollektiven Praxen ausgehandelt, geplant und verwirklicht werden können, allein die Bedeutung die ihr in diesem Rahmen beigemessen wird, ist eine unterschiedliche. Sie wird in den Erläuterungen durch einen Transformationsprozess gerahmt, der zunächst als Ermöglichungsraum für Peerpraxen fungiert, sich jedoch zum Begrenzungsraum wandelt, der kollektive Praxen auszuschließen scheint.

Zunächst einmal soll jedoch genauer auf die Freizeitpraxen an sich eingegangen werden: Vor allem die Peerkommunikation als kollektive und gruppenkonstituierende Praxis stellt in allen Erhebungszeiträumen die Aufrechterhaltung des Netzwerkes her. Die gemeinsamen Themen wiederum unterscheiden sich je nach der Peerzusammensetzung. In der ersten Freundschaftsgruppe wird deutlich, dass in und außerhalb der Schule über persönliche Angelegenheiten gesprochen wird. So sind spezifische Themen etwa die jeweiligen Familien der Jugendlichen, Jungs, aber v.a. auch gemeinsame Erfahrungen und Bekannte oder die kollektive Freizeitplanung. Vornehmlich sind dies Themen, welche die gemeinsame und interaktive Ver- und Bearbeitung von Erlebnissen und Erfahrungen ausmachen. Die Kommunikation dient der gegenseitigen Unterstützung und Solidarisierung, Freundschaft wird als Gegenhorizont zu den Eltern beschrieben – „mit Freunde kann man alles mögliches reden, aber nich mit mit Eltern kann man ja nich so viel reden. aber mit Freunde kann man alles mögliches reden was man so im Herzen hat und so alles.“ (GD: Aylin 2005/06, 40-42).

In der nächsten Erhebungswelle werden deutlich mehr Bezüge zur Schule angeführt, die Kommunikation dreht sich um Auseinandersetzungen mit Lehrenden und Leistungen, aber auch um familiäre Angelegenheiten und jugendspezifische Themen wie Aussehen, Kleidung und Schönheit. Diese Tendenz setzt sich in der letzten Gruppendiskussion fort, zentrale Diskussionsthemen sind nun schulischer Art. So thematisieren sie beispielsweise den Umgang mit Lehrenden und mit den jeweiligen schulischen Leistungen, zu denen auch das Engagement von Aylin und Nesli gezählt werden kann, und kritisieren das Ganztagsschulkonzept ihrer Schule. Jugendspezifische Themen wie Aussehen und Kleidung oder Jungs und v.a. die Erzählungen über individuelle Erlebnisse finden nur noch im eingeschränkten Rahmen statt.

Ein weiterer kollektiver Orientierungsrahmen, der noch in der ersten Erhebungswelle geteilt wurde, war die Orientierung an der Herstellung von Öffentlichkeit. Diese wurde hauptsächlich durch Ausflüge der Mädchen in die Stadt, aber auch durch gemeinsame Aktivitäten in und außerhalb der Schule verwirklicht und diente u.a. der Eroberung eines Raumes, der sich der familiären Kontrolle entzog und ferner, beispielsweise im gemeinsamen Fußballspiel, ein geschlechtsheterogenes Netzwerk ansprach. Diese Orientierung kann mit den neuen Mitgliedern des Netzwerkes nicht mehr aufrechterhalten werden. Zwar geht die als Parallelwelt charakterisierte Mädchengruppe noch entspannungsorientierten Aktivitäten, wie dem gemeinsamem in die Stadt gehen, Bummeln oder Eis essen nach; wie sich im Folgenden jedoch zeigt, sind diese Aktionismen eher als Höhepunkterzählungen zu verstehen –

„manchma gehn wir auch Shisha rauchen“ (GD: Aylin 2009/10, 14) oder „ab und zu ma zu (Eis)“ (GD: Aylin 2009/2010, 19).

Die Orientierung an Spaß, die den Mädchen gemein ist, wird nun nicht mehr durch öffentliche Inszenierungen, sondern nahezu ausschließlich über die kommunikative Verhandlung einzelner amüsanter Erfahrungen der jeweiligen Erzählerin hergestellt. Fokussiert werden hierbei v.a. gemeinsame Klassenkameradinnen oder das Lehrpersonal. Besonders zum letzten Erhebungszeitpunkt wird von den Mädchen klar formuliert, dass sowohl die Schule als auch die Hausarbeit und Unterstützung ihrer Mütter, aber auch das zeitige zu Hause sein, entscheidende Verhinderungsfaktoren für kollektive Freizeitpraxen außerhalb der Schule sind:

Dieser eingeschränkte Freizeitumfang widerspricht den Ergebnissen verschiedener Studien zum Freizeitverhalten Jugendlicher (vgl. Harring 2007, S. 238). Kompensationsmöglichkeiten zur begrenzten Zeit mit den Peers bieten daher Aylins Schwester und Cousine, die einen Ausgleich zum schulischen Alltag darstellen. Gleichzeitig muss hierbei jedoch in den Blick genommen werden, dass gerade durch diese Kompensationsfunktion Beziehungen zu Gleichaltrigen unnötig und möglicherweise sogar verunmöglicht werden.

Wandel des Umgangs der Gruppe mit dem Thema Schule: Wie die Schule ihre universelle Relevanz erhielt

Die bereits erwähnte Gemeinschaftsorientierung der Peers aus der ersten Er- hebungswelle hatte für Aylin eine Unterordnung individueller Bildungs- und Aufstiegsambitionen zur Folge, beispielsweise wurden Differenzen in Bezug auf die Schulleistungen und Zensuren von den einzelnen Gruppenmitgliedern zu Gunsten der Kohärenz nivelliert – „also bei uns is das so; bei uns drei, is das so dass wir ähm alle die gleichen Noten ham und gleiche Fehler“ (GD: Aylin 2005/06, 142f.). Schulleistungen sind auch hier ein wichtiges Thema der Peerkommunikation, aber eben nicht als Qualifikationsleistungen im engeren Sinne, sondern sie bilden eine Grundlage für die wechselseitige Konstituierung als Problembearbeiter und Unterstützer. Der einzige Hinweis, den diese Peergroup auf die Relevanz von Schulnoten und schulischem Engagement liefert, ist die Wichtigkeit einer Minimalanstrengung, um den Verbleib in der Klasse und damit den Erhalt der Peergroup zu sichern (vgl. Pfaff 2008, S. 113). Diese Distanzierung gegenüber schulischen Leistungserwartungen, manifestierte sich bei Aylins Peers schließlich als Schulopposition. Stigmatisiert wurden fortan jene Jugendliche, die sich den Anforderungen gegenüber konform verhielten.

An dieser Stelle wird ersichtlich, dass eine Zweiteilung der Gruppe entsteht, die sich aus den Schulrenitenten und den Strebsamen zusammensetzt. Diese Zweiteilung kann in gewisser Weise auch für den letzten Erhebungszeitraum festgehalten werden, nur, dass jene Widerständigkeit gegenüber der Schule sich ausschließlich in einer Person, in Bahar, widerspiegelt und die Form der Ablehnung deutlich abgeschwächt wurde. Gemeint ist damit, dass die „Schulferne“ der derzeitigen Teilgruppe dadurch gekennzeichnet ist, dass eine Orientierung an Spaß in der Schule in den Vordergrund gerückt wird und damit Bildungsaspirationen zumindest geheim gehalten und vor den Augen der anderen Klassenkameradinnen und -kameraden nivelliert werden können. Auch Nesli passt sich dieser Nivellierung an und wehrt sich gegen die Etikettierung als Streberin, indem sie in der Gruppendiskussion auf eine gemeinsame Erfahrung verweist, in der sie sich zwar in der Schule und vor den Lehrenden als strebsam darstellt, es in Wirklichkeit jedoch nicht ist:

Damit stehen also nicht mehr die Ablehnung der schulischen Normen und Disziplinmaßgaben im Vordergrund, sondern die Spaßorientierung, die zwar als Abgrenzung zu schulischen Leistungserfordernissen, jedoch nicht mehr als oppositionelles Verhalten gelesen werden kann.

Aus diesem Grunde und auch, weil Bahar nahezu als einzige diese in Ansätzen negative Schulhaltung abbildet, kann diese nun nicht mehr als konstitutiver und kollektiver Rahmen für die gesamte Gruppe angesehen werden. Vielmehr ziehen die beiden Teilgruppen der besonders Leistungsorientierten und weniger Leistungsorientierten aus ihren jeweiligen Haltungen entsprechende Vorteile und unterstützen sich gegenseitig. Den leistungsorientierteren Mädchen kommt im besonderen Maße die Aufgabe der schulischen Unterstützung zu, auch in Form des Abschreiben-Lassens. So erhält die Schule nun auch die Funktion des Erwerbs von Qualifikationen. Dies ist auch ein Grund dafür, dass alle Mädchen eine Orientierung an guten Noten haben und Schule als zukunftsweisend einschätzen. So zeigt sogar Bahar, die sich eher als weniger leistungsorientiert stilisiert, einen gewissen Stolz auf ihre Noten – „Bw: nein ich hab ich hab keine fünf ich hab nur ein einzige vier in meim Zeugnis“ (GD: Aylin 2009/10, 517).

Die gemeinsame Abgrenzung, die auch die Grenzen für ihre Freundschaftsbeziehungen und Gemeinschaftlichkeit setzt und konstruiert, erfolgt nun anhand zweier Abgrenzungsfolien: Zum einen über die als Streberin etikettierten Lernenden, mit denen sich niemand aus der Gruppe identifizieren möchte, zum anderen über leistungsschwache Schülerinnen und Schüler, mit denen sich offensichtlich niemand mehr aus der Gruppe identifizieren kann.

Wandel des kollektiven Orientierungsrahmens der Peergroup: Unterschiedliche Spielarten der Kommunikation als Konstitution und Aufrechterhaltung von Peerbeziehungen

Wie bereits beschrieben und deshalb an dieser Stelle nicht noch einmal dezidiert erörtert, stellt in der ersten Erhebungswelle die Solidarisierung der Gruppe durch ihre kommunikativen Praktiken eine wichtige Funktion für den Gruppenzusammenhalt dar. Als negativer Gegenhorizont wird von den Mädchen das Alleinlassen Einzelner mit ihren Sorgen als problematische Umgangsweise abgelehnt (vgl. Pfaff 2008, S. 112). Die Kommunikation ermöglicht es, eine Unterstützungsfunktion zu bieten, die Sorgen und Probleme vom Einzelnen in die Gruppe inkludiert und damit für jedes einzelne Mitglied erfahrbar macht und Empathie hervorruft.

Aus diesem Grunde ist es sehr interessant, dass auch in der zweiten Erhebungsphase die Kommunikation als Hauptpeerpraxis dargestellt wird, jedoch keinerlei Solidarisierung mit den Sorgen der anderen erfolgt und die Gruppe damit genau jenen negativen Gegenhorizont widerspiegelt, der vorher abgelehnt worden ist. So wird beispielsweise auf die Problematik der Gewaltbereitschaft in der Familie eines der Mädchen – „na und ich krieg auch mal geschiergeklatscht wenn ich was Schlimmes gemacht hab“ (GD: Aylin 2007/08, 271f.) nicht eingegangen und entsprechend von der Gruppe nicht weiter thematisiert. Die Solidaritätsfunktion weicht einer Orientierung an Harmonie, die Spannungen und auch die Verhandlung negativer Erfahrungen einzelner Gruppenmitglieder kaum zulässt. Im Zusammenhang mit der Harmonieorientierung tritt nun auch eine Orientierung an Spaß und Freude zu Tage, welche die Gelegenheit bietet, sich innerhalb der Gruppe zu amüsieren und über erfreuliche Themen zu unterhalten. An dieser Stelle wird auch der Verlust an Intensität der Freundschaften klarer umrissen, da problematische Themen in der Gruppe zu Gunsten der Harmonisierung unterbunden werden können. So verhält es sich auch in der letzten Erhebungswelle, in der der Streit der beiden Gruppenmitglieder Aylin und Janina durch die Gruppe nicht nur bagatellisiert, sondern in gewisser Weise auch tabuisiert wird:

Ersichtlich wird diese starke Harmonieorientierung auch daran, dass Streit insgesamt aus dem Gruppenkontext ausgeklammert wird:

Diese Harmonisierung, gemeinsam mit der Orientierung an Spaß und der ausschließlichen Verhandlung angenehmer Themen ist wichtig für den Fortbestand der zweckgebundenen Gemeinschaft, da sonst möglicherweise ein Wiederaufleben des Streites riskiert und damit die Gemeinschaft gefährdet werden könnte. Die Tendenz der Ent-Emotionalisierung nimmt weiterhin zu und führt schließlich dazu, dass die Gruppe kaum gemeinsame Peerpraxen benennen kann.

Weiterhin besteht die Orientierung an Spaß und Freude auch im schulischen Kontext, indem sich beispielsweise über Lehrende lustig gemacht wird und damit gleichzeitig eine Abgrenzung gegenüber einem als strebsam empfundenen Verhalten erfolgen kann. Die Peerkommunikation hält damit zwar ihre gemeinschaftsstiftende Bedeutung aufrecht, nur ist sie nicht mehr emotions- sondern zweckgebunden und zielt damit alleinig auf das schulische Profitieren voneinander.

Wandel des Passungsverhältnisses von individuellen und kollektiven Orientierungen: Kontinuierliche Ausdifferenzierung höherer schulischer Bildungsorientierungen und Wandel der Peers von der Gegenwelt zum Risikopotenzial und zur Parallelwelt

In diesem Abschnitt soll noch einmal auf die Ausgangsfrage verwiesen werden, die die Bedeutung der Peers für Aylin zu ermitteln sucht und spezifischer auf die Relevanz der Peers für ihre Bildungsbiografie verweist. In jeder Erhebungswelle lässt sich herausstellen, dass Aylin eine Orientierung an Gleichaltrigenkontexten hat, in denen gleichberechtigte Interaktionen mit den Peers ermöglicht werden, was sich jedoch derartig nur in ihrem ersten, engeren Peernetzwerk verwirklichen lässt. Ihre Freundschaftskontexte stellen sich in ihrem Verlauf mit abnehmender Intensität dar und enden schließlich als loser Zusammenschluss von Gleichaltrigen.

Obwohl die Freundschaften in der ersten Erhebungswelle dazu dienten, als Gegenhorizont zu den Eltern aufzutreten und eine Möglichkeit lieferten, sich aktiv darzustellen und als Gewährleistung für Entscheidungsfreiheit und Machtsymmetrie fungierten, kann Aylin später durch die Gruppenführerin Bahar kaum selbstinitiativ vorgehen und verhält sich in der Gemeinschaft gleichermaßen passiv unterordnend, was zudem ihr Streben nach Selbstständigkeit einschränkt.

Die Akzeptanz Bahars als erneute Gruppenführerin seit der zweiten Er- hebungswelle kann passförmig zu Aylins passivem Verhalten beschrieben werden: Weder in der Gruppe, noch in der Familie hat sie ohne entsprechende Unterstützer, wie vormals der Schwester, die Chance, selbstständig und aktiv zu werden. Um sich diesen Weg zu bahnen, bedarf es stets der Wegbereiter und -begleiter, die jedoch in unterschiedlichen Etappen ihres Lebens nicht immer zur Verfügung standen. Die in der ersten Erhebungswelle konstatierte Orientierung an der Herstellung von Öffentlichkeit kann nicht aufechterhalten werden, da die Mädchen ausschließlich im schulischen Kontext agieren und außerhalb dieses Kontextes keinen gemeinsamen Zugriff auf Öffentlichkeit haben.

Des Weiteren kann festgehalten werden, dass Aylin ihre Bildungsambitionen aufgrund der Orientierungen ihrer Freundinnen nun nicht mehr mindern muss. In den vorangegangen Jahren schien Aylin stets in der Position, ihre Leistungsambitionen entweder geheim zu halten, oder sie unter die Gemeinschaft und deren Orientierung ordnen zu müssen. Die Neuerung in der letzten Erhebungswelle, durch die alle Mädchen ihre individuellen Leistungsorientierungen in unterschiedlicher Intensität verfolgen können, ohne den Ausschluss aus der Gruppe befürchten zu müssen, kam Aylin aus dem Grunde zu Gute, da sie nun weder die Diffamierung noch einen Abwärtstrend ihrer Zensuren in Kauf nehmen muss. Ein Motiv, das in den kollektiven Erfahrungen der Freundschaftsgruppen um Aylin immer wieder auftaucht, ist Schule als Ort des Wahrnehmens von Ungerechtigkeit. Die Schulkritik wird damit zur kollektiven Praxis, die unter der Verhandlung unterschiedlicher Ungerechtigkeiten oder Probleme in jeder Erhebungswelle Bestand hat.

Interessant ist, dass zum letzten Erhebungszeitpunkt Aylins hohe Leistungsorientierung schließlich doch als passförmig zur Gruppe beschrieben werden kann, die nun gleichsam ähnlich ausgeprägte schulaffirmierende Orientierungen verfolgt. Aylin setzt sich hierbei, obwohl sie strebsam ist, keinem Strebervorwurf aus und lässt andere Gruppenmitglieder von ihrer individuellen Orientierung profitieren. Die Funktionalisierung und Instrumentalisierung der Gruppenmitglieder erfolgt demgemäß wechselseitig.

Immer wieder wird damit einhergehend eine Orientierung an Spaß in der Schule betont und über die eigentliche Leistungsorientierung gestellt, um sich nicht in der Öffentlichkeit als strebsame Gruppe zu stilisieren. Da in der letzten Erhebungswelle kein abweichendes oder schulnonkonformes Verhalten der Gruppenmitglieder festgestellt werden konnte, läuft Aylin mit ihrem regelkonformen Verhalten in der Schule nun nicht mehr der Gruppe zuwider, sondern verhält sich passförmig.

Insgesamt zeichnet sie ihren Weg in der Gruppe in Bezug auf Schule immer wieder als gegenläufig zu den Tendenzen der Peergroup bei gleichzeitigem Anhalten ihrer hohen individuellen Leistungsambitionen. Schließlich findet sie in ihrer derzeitigen Peergroup weitere Mitglieder, die ähnliche Anstrengungen leisten und muss sich nicht mehr im Widerstreit zur Gruppe verorten. Außerhalb der Schule haben die Peers kaum mehr die biografische Bedeutung, die sie noch zu Beginn der Analyse einnahmen, da ihre außerinstitutionelle Freizeit im Wesentlichen durch die Familie und im Zusammensein mit den Familienmitgliedern gekennzeichnet ist.

Literaturangaben:

Krüger, H.-H./Köhler, S.-M./Zschach, M.: Teenies und ihre Peers. Freundschaftsbeziehungen, Bildungsverläufe und soziale Ungleichheit. Opladen/Farmington Hills 2010

Harring, M.: Informelle Bildung – Bildungsprozesse im Kontext von Peerbeziehungen

im Jugendalter. In: Harring, M./Rohlfs, C./Palentien, C. (Hrsg.): Perspektiven der Bildung. Kinder und Jugendliche in formellen, nicht-formellen und informellen Bildungsprozessen. Wiesbaden 2007, S. 237-258

Pfaff, N.: Aylin Demir – die Unterordnung des Bildungsanspruchs in einem Migrationsmilieu. In: Krüger, H.-H./Köhler, S.-M./Zschach, M./Pfaff, N.: Kinder und ihre Peers. Freundschaftsbeziehungen und schulische Bildungsbiographien. Opladen/ Farmington Hills 2008, S. 97-117

Mit freundlicher Genehmigung des Budrich Verlages.
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