Falldarstellung
Es folgt nun eine weitere Szene (dazu auch der Fall Aktionismen im Klassenraum – Zweikampf) aus der Übergangsphase, bei der die konjunktive Dimension des Geschlechts im Vordergrund steht. Die Szene ereignet sich etwa eine halbe Minute, nachdem David Jeanette einen provokativen Tritt ins Gesäß verpasst hatte. Im Raum sind neben den Hauptakteuren einzelne Kinder anwesend, weitere treten ein:
David kommt aus dem Bereich der Garderobe wieder den Mittelgang entlang. Einen langen schwarzen Schal hält er in der Linken, ein Brot in der Rechten, die Mütze noch weiter auf dem Kopf, die Jacke geöffnet. Als er an Jeanette vorbeigeht, die an ihrem Tisch sitzt und, den Kopf zur Seite geneigt, mit einem Stift schreibt oder malt, hält David inne, wendet den Kopf schnell zur Seite und blickt auf sie. Er nimmt den Schal in die Rechte, geht einen Schritt seitlich versetzt zurück und hebt die Hand. Zeige- und Mittelfinger voneinander abgespreizt, hält er sie dicht an Jeanettes Hinterkopf. Dabei blickt er zurück zur Kamera und ruft aus: „Guck mal hier ist ein Hase in der Kamera!“ David lacht. Jeanette blickt zu ihm auf, zieht eine Miene und entgegnet etwas (unverständlich). David lässt ab und geht weiter. Jeanette fährt fort in ihrem Tun. Madeleine, die gerade in den Raum zurückgekehrt ist, kommt ihm rufend entgegen: „Mann, lass meine Freundin in Ruhe!“. Dabei runzelt sie die Stirn. Beide bleiben stehen. Ein Pfeifen ist zu hören, während David den Schal über den Arm legt. Dann wendet er sich ab, kehrt um, isst vom Brot und geht einige Schritte wieder Richtung Garderobe. Madeleine ruft ihm, während sie zu Jeanette geht, hinterher: „Die mag Dich nicht, lass sie“. David dreht sich erneut um und ruft ihr zu: „Die mag mich“. Jeanette wendet ganz kurz den Kopf nach hinten und blickt David an. Dann fährt sie fort zu schreiben. Madeleine nimmt das Mäppchen von Jeanettes Tisch (links), lässt es auf der anderen Tischseite rechts von Jeanette wieder fallen und geht wieder zu ihrem Platz. Dort setzt sie sich auf den an der Tischseite stehenden Stuhl, beugt sich zu ihrer Tasche herab und entnimmt in der Folge einzelne Gegenstände, die sie auf ihrem Tisch platziert. David geht zu Jeanette, blickt ihr kurz über die Schulter, wendet sich etwas ab, verharrt einen Moment, beugt sich dann wieder über ihre Schulter und schaut auf das, was sie vor sich liegen hat. Schließlich wendet er sich ab und geht auf die Kamera zu. Fortwährend isst er dabei an seinem Brot.
Interpretation
Noch mit Überjacke und Mütze bekleidet, kehrt David aus dem Garderobenbereich zurück. Er trägt das Frühstücksbrot mit sich, von dem er hin und wieder isst. Lediglich der Schal ist vom Körper gezogen. David ist also nicht daran orientiert, Unterrichtsbereitschaft herzustellen. Vielmehr bringt er etwas vor der Kamera zur Aufführung, indem er Jeanette symbolisch Hasenohren aufsetzt. Damit Jeanette und die Anwesenden der aktuellen Aufführung gewahr, und das heißt zu seinem Publikum werden, ruft er lachend aus: „Guck mal hier ist ein Hase in der Kamera!“. Diese performative Aussage spielt mit einer Doppelung der Rollen: zum einen, indem David sich selbst, als derjenige, der das Beobachtete hervorbringt, in die Position eines Zuschauers begibt, der etwas sieht, das er allen kundtut; zum anderen, indem Jeanette hier durch das Attribut der Hasenohren zum beobachteten Akteur wird, zugleich aber auch als Zuschauerin angesprochen ist. Damit wird eine komikartige Performance in Szene gesetzt.
Dieser metaphorische Spaß mit Jeanette, die als „Hase“ vorgeführt wird, enthält mehrere Bedeutungsebenen. Jeanette zeigt in geradezu idealtypischer Weise den rollenförmigen Handlungsmodus der ‚braven Schülerin’: Zu diesem frühen Zeitpunkt, als die Mehrheit der Klassenangehörigen noch gar nicht anwesend sind, sitzt sie bereits an ihrem Platz und schreibt oder malt. Das heißt, sie hat – in deutlichem Unterschied zu David – die kommunikativen Mikrorituale der Herstellung einer Unterrichtsbereitschaft bereits vollzogen. Indem David ihr Hasenohren aufsetzt, veralbert er sie in ihrer eingenommenen (Schüler-)Haltung und distanziert sich davon. Zugleich ironisiert er die Situation des Beobachtetwerdens durch das Videogerät. Denn der „Hase“ befindet sich „in der Kamera“. Damit verbunden ist ein Spaß mit den Ängsten, die diese Beobachtungssituation auslösen kann, nämlich eine ‚schlechte Figur’ abzugeben, sich lächerlich zu machen. Schließlich enthält die Metapher des Hasen, die Jeanette attribuiert wird, die Bedeutungsebene einer Zuschreibung des Weiblichen, das als niedlich, harmlos, süß und ängstlich dargestellt wird. Das heißt, mit diesem Attribut vollzieht David eine geschlechtsspezifische Degradierung und markiert so eine geschlechtsspezifische Grenze. Jeanette gibt ihrem Missfallen gegenüber Davids veralbernder Provokation mimisch (und verbal) Ausdruck. Sie verwirft die Attribuierung ihrer Person. Wie im Folgenden deutlich wird, verwirft sie jedoch nicht den in der Provokation enthaltenen Versuch der Anbahnung einer Beziehung zu ihr.
Madeleine scheint sich zunächst mit ihr zu solidarisieren, wenn sie David in seinem aktionistischen Tun quasi Einhalt gebietet. Allerdings bleibt hier eine entsprechende, sprachliche oder habituelle Validierung von Jeanettes Seite aus, auch hinsichtlich der Situierung ihrer Beziehung zu Madeleine als Freundschaft, mit der diese ihre Fürsprache rahmt und legitimiert. Auch die weitere Aussage Madeleines über sie wird von ihr nicht bestätigt: Madeleine begründet ihre an David gerichtete Aufforderung, Jeanette „in Ruhe zu lassen“ damit, dass diese ihn nicht „mag“. Dies lässt erkennen, dass körperliche Übergriffe zwischen Jungen und Mädchen innerhalb der Peergroupkultur als Annäherungsversuche gedeutet werden. David kontert mit der unverhohlenen Aussage über Jeanette: „Die mag mich!“. Diese Aussage ruft nun die einzige sichtbare Reaktion Jeanettes auf die Auseinandersetzung zwischen Madeleine und David um ihre Person hervor: Sie dreht sich nach David um und blickt ihn kurz an. Das kann als körperlich-mimische Validierung der Aussage verstanden werden. Entsprechend lässt sie im Anschluss daran seine verschiedenen vorsichtigen körperlichen Annäherungsversuche ohne Abwehr zu.
Ganz offenbar sucht David auf dem Wege von Aktionismen Möglichkeiten, eine Beziehung zu Jeanette anzubahnen. Mit dem Aufsetzen von Hasenohren konstruiert er Geschlechter-Differenzen und verweist zugleich (ähnlich dem Tritt ins Gesäß als einem körperterritorialen Bereich, der sexuell aufgeladen ist) symbolisch auf Formen der Geschlechterbeziehung, die normativ-generalisierten Verhaltenserwartungen entsprechen. Dies wird noch einmal performativ in den eingenommenen Geschlechterrollen – David als der aktive, Jeanette als der passiv-gewährende Part – in Szene gesetzt. Das empirische Videomaterial zur liminalen Phase enthält wiederkehrend solche Szenen mit vergleichbarer Rollenverteilung. Es lassen sich jedoch auch solche konjunktiv-rituellen Formen der Konstruktion und Bearbeitung von Geschlechterdifferenzen in der Iiminalen Phase erkennen, die über die genannten traditionellen Schemata hinausgehen, indem gerade mit ihrer Umkehr aktionistisch experimentiert wird (vgl. Wagner-Willi 2005, S. 204f£ ). Die liminale Phase des Übergangs von der Pause zum Unterricht eignet sich zu solchen aktionistischen Formen der Anbahnung von Geschlechterbeziehungen gerade deshalb, weil die Interakteure es hier mit einer Phase des ,Dazwischen‘, des ,Nicht-Mehr‘ und ,Noch-Nicht‘ zu tun haben. Im Unterschied zu einer Unterrichtssituation, sind die Kinder hier noch nicht auf die Regeln der Unterrichtsorganisation verpflichtet. Im Unterschied zur Hofpause, in der nach unseren Beobachtungen die Aktivitäten (z.B. Fußballspielen) überwiegend in geschlechtshomogen strukturierten Gruppen vollzogen werden, kann in der Schwellenphase in diesem bunten Geflecht der Interaktionssysteme mit differenten Geschlechtsrollen ‚im Spaß’, ‚aus Zufall’ und ohne größere Gefahr der Blamage experimentiert werden. Das übertreibende Spiel mit Metaphern und Symbolen, Körperlichkeit und Expressivität ist ein Charakteristikum des Performativen dieses liminalen Handlungsraums. Die konjunktiv-rituellen Aktivitäten und Aktionismen entfalten sich in der Schwellenphase im Schutz des Unverbindlichen und der Flüchtigkeit.
Deutlich wird auch an dieser Szene, wie sich die verschiedenen simultan verlaufenden Aktivitäten miteinander im Zuge der sequenziellen Prozessualität verschränken und wieder auseinanderlaufen. So wird die gleichzeitig laufende Kamera, also ein Aspekt der Simultanstruktur der sozialen Situation (a) (Forschungssituation) thematisch aufgegriffen und eingebunden in die soziale Interaktion (b) zwischen David und Jeanette. Die durch David hervorgebrachte aktionistische Provokation gegenüber Jeanette ist es dann, die eine Suspendierung ihrer nonverbalen Aktivitäten auf individueller Ebene (c) zugunsten der vorübergehenden Interaktion mit David bewirkt. Dies wiederholt sich am Ende der Szene, als Jeanette, sitzend und schreibend am Tisch, zugleich die Geschehnisse um sich herum wahrnimmt und zu David aufblickt, der unverblümt die ihr unterstellten Gefühle ausspricht. Ebenso verschränken sich die Aktivitäten der in den Klassenraum eintretenden Madeleine mit denjenigen Davids und laufen anschließend wieder auseinander. Die für soziale Situationen, Interaktionen und individuelles Agieren charakteristische Verschränkung von Simultaneität und Sequenzialität führt also durch die je spezifische Prozessualität zu Verdichtungen, die sich wieder auflösen oder verlagern können.
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