Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Der nachfolgende umfängliche Lernbericht aus einer dritten Grundschulklasse zeigt einen ganz anderen Gestus. Die ausführliche Beobachtung und perspektivisch nutz­bare Hinweise zum künftigen Lernen verbinden sich zu einem situativen „Bild des Kindes“ und bezeugen eine Tonart der Anerkennung, die sich als ein adressatenbe­zogenes Dialogangebot versteht.

Lieber Tom, es ist schon eine Freude, einen so unterhaltsamen und humorvollen Jungen in der Klasse zu haben wie dich. Dein Kopf ist immer voller ungewöhnlicher Gedanken, Vorschläge und Witze, die wir weder in den Pausen noch im Unterricht missen möchten. Gleichzeitig bist du sehr selbstbewußt und mutig geworden ja, manchmal bist du sogar übermütig! Dann versuchst du, die Grenzen, die wir uns gesetzt haben, zu überschreiten, reagierst aber auf unsere Kritik mit einem einsich­tigen und verschmitzten Lächeln und korrigierst anschließend dein Verhalten. Ge­wöhne dir jedoch ab ‚Entschuldigung’ zu sagen, wenn du es nicht so meinst. Im Unterricht bringst du besonders dann all deine Talente ein, wenn wir über Themen sprechen, die dich besonders interessieren oder wenn ihr sehr selbstständig im eige­nen Rhythmus arbeiten könnt. Lesen ist für dich mittlerweile selbstverständlich ge­worden. Mit deinem feinen Ohr für Texte nimmst du stets sowohl das Wesentliche als auch die Pointen der Geschichten und Gedichte wahr und kannst sie geschickt formuliert wiedergeben. Es ist schön zu beobachten, wie konzentriert du dabei bist. Auch beim Schreiben hast du Fortschritte gemacht. So zeigst du bei der Recht­schreibung, wieviel du schaffen kannst, wenn du die Übungen regelmäßig und gründlich erledigst. Ebenso fragst du beim freien Schreiben immer wieder nach der richtigen Schreibweise der Wörter und drückst damit deinen Wunsch aus, dich auf diesem Gebiet zu verbessern. Nutze aber in Zukunft öfter dein Wörterbuch, du kannst ja mit ihm umgehen. Deinen Geschichten mangelt es natürlich nie an origi­nellen Ideen und es gelingt dir, da du in der Rechtschreibung sicherer wirst, zuneh­mend besser, sie ausführlicher und fehlerfreier zu erzählen. In Mathematik bist du meistens erfolgreich, denn du hast Spaß am Rechnen. So hast du den Zahlenaufbau bis 1000schnell verstanden und die schriftlichen Rechen verfahren bereiten dir keine Mühe. Ebenso wendest du die erlernten Größen richtig an und bei Sachaufgaben findest du in der Regel die richtigen Lösungswege. Schreibe aber deine Zahlen im­mer deutlich und vermeide Flüchtigkeitsfehler. Dein besonderes Interesse gilt nach wie vor der Sachkunde. Lebhaft arbeitest du in diesen Stunden mit, zeigst, was du schon alles weißt und fragst stets wissbegierig nach. Darüber hinaus bist du in der Lage, Informationen zu einem Thema zu sammeln und sie sinnvoll zu nutzen. Deine ausgezeichnete Themenmappe, die du über „ Die Erde “ angelegt hast, ist ein Beweis dafür. Auch an dem Projekt „Karte und Kompass “ hast du erfolgreich teilgenom­men. Lm Technikunterricht gehst du mit Freude an jede Aufgabe heran und setzt deine tollen Ideen mit großem handwerklichem Geschick um. Im Kunstunterricht bist du noch immer ein begeisterter Zeichner, dessen Bilder häufig durch ihre witzi­gen Details bestechen. Bei unserem kleinen Theaterstück singst und spielst du eifrig mit. Im Sportunterricht bist du bei Turnübungen recht gewandt und mutig. Bei Lauf- ­oder Ballspielen machst du meistens einsatzfreudig und ausdauernd mit. Auch bist du ein sicherer Schwimmer geworden. Ich freue mich auf das nächste Schuljahr mit dir!

Sofort fällt in den Blick, dass die Lehrerin die Briefform und damit die direkte An­rede des Kindes wählt. Im einleitenden Abschnitt würdigt sie Tom in seiner kindli­chen Eigenart. Sie schätzt seine Art zu denken, sich zu äußern und all dies mit dem ihm eigenen Wortwitz zu kommunizieren:

Dein Kopf ist immer voller ungewöhnli­cher Gedanken, Vorschläge und Witze, die wir weder in den Pausen noch im Unter­richt missen möchten.

Bemerkenswert ist auch, dass sie als Sprecherin der Lerngruppe auftritt, in dem sie die erste Person Plural nutzt, das Pronomen „ich“ nur in der Schlusswendung vorkommt. Bei der Kritik im Blick auf die Klassen-Regeln brüskiert sie nicht mit detailreicher Klage. Vielmehr hebt sie hervor, dass Tom mit Sensibilität und Veränderungswillen auf Hinweise in der Gruppe reagiert. Dennoch, eine deutliche Aufforderung zeigt wieder die „Lehrerinnenhandschrift“:

Gewöhne dir jedoch ab, ‚Entschuldigung‘ zu sagen, wenn du es nicht so meinst.

Breiten Raum nehmen die Beschreibungen und Interpretationen von Toms Lernverhalten ein. Die Lehrerin lässt im Text anklingen, dass sie Tom gut kennt, genau beobachtet hat und vor allem seine individuellen Stärken hervorzuheben vermag und damit auch einen individuellen Lernweg zulässt:

Im Unterricht bringst du besonders dann all deine Talente ein, wenn wir über Themen sprechen, die dich besonders interessieren oder wenn ihr sehr selbstständig im eigenen Rhythmus arbeiten könnt. Lesen ist für dich mittlerweile selbstverständlich geworden. Mit deinem feinen Ohr für Texte nimmst du stets sowohl das Wesentliche als auch die Pointen der Ge­schichten und Gedichte wahr und kannst sie geschickt formuliert wiedergeben. Es ist schön zu beobachten, wie konzentriert du dabei bist.

Bei der Rechtschreibung vermerkt sie Fortschritte, sie nimmt sein Bemühen um eine korrekte Schreibweise wahr, rät ihm deshalb öfter das Wörterbuch zu nutzen, um selbstständig an der Verbesserung seiner Texte arbeiten zu können. Hier verbindet sich Kritik mit Anreiz in der Perspektive, eine bestehende Lernleistung zu optimie­ren. So wird festgehalten, dass in der Geläufigkeit des Schreibens der Schlüssel für eine gelungene Präsentation liegt und setzt ihm damit einen neuerlichen Anreiz, seiner Ausdrucksfähigkeit auch Form und Gestalt zu geben:

Deinen Geschichten mangelt es natürlich nie an originellen Ideen und es gelingt dir, da du in der Recht­schreibung sicherer wirst, zunehmend besser, sie ausführlicher und fehlerfreier zu erzählen. In Mathematik benennt sie in Grundzügen die Stationen gemeinsamer Arbeit und kann durchgehend loben. Lediglich ein kleiner Hinweis mahnt zu künfti­ger Sorgfalt: Schreibe aber deine Zahlen immer deutlich und vermeide Flüchtig­keitsfehler. Doch der Einwand zeigt einen Weg zu einer möglichen Verbesserung.

Dass Tom mit seinem Interesse an der Welt und deren Erkundung durch Sprache im Bereich Sachkunde ein Themenfeld vorfindet, in dem er seine Fragelust und seinen Entdeckerwillen besonders entwickeln kann, zeigt ihm die Lehrerin im Rückblick auf Projekte auf und lobt uneingeschränkt seine Sach- und Methodenkompetenz:

Deine ausgezeichnete Themenmappe, die du über „Die Erde “ angelegt hast, ist ein Beweis dafür.

Diese Tonart behält sie hinsichtlich ihrer Einschätzungen zum Tech­nik-, Kunst- und Sportunterricht bei. Allerdings – und dies steht im Gegensatz zum Duktus des Eingangstextes – werden die individuell erbrachten guten Leistungen nicht mehr explizit in ihrer Bedeutung für die Lerngruppe insgesamt gewürdigt. Das hier gewählte Beispiel ist nicht als „Modelltext“ ausgewählt worden, sondern weil es – gerade im Kontrast zum Zeugnis von Simon – eine besondere Qualität hervorbringt: Es hebt die Nähe zum Kind, die Stärkung seiner Kompetenzen und dessen überfachliche Bedeutung hervor. Im Redegestus dem Kind, der Lerngruppe und sich selbst verbunden, kann die Lehrerin situativ, beobachtungsintensiv und individuell einen Lernweg beschreiben, bei dem das Kind stets gegenwärtig ist und mit seinem Zeugnis Bilanz und Einladung zugleich erhält, über sich selbst und sein Lernen nachzudenken. Eine Gesprächspartnerin dafür steht ihm zur Seite.

Mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlages.
http://www.paedagogik.de/index.php?m=wd&wid=1307
 

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