Einleitende Bemerkungen

[…] Ziel eines Forschungsprojekts der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg ist, den Zweitspracherwerb von Kindern mit Migrationshintergrund in den ersten beiden Schuljahren zu untersuchen und Vorschläge für die Verbesserung der unterrichtlichen Praxis in mehrsprachigen Lerngruppen zu erarbeiten.

Zunächst wird der Sprachstand aller Kinder einer Grundschule zum Zeitpunkt der Einschulung erhoben (n = 60). Im Laufe der ersten beiden Schuljahre sind weitere Messzeitpunkte ge­plant, sodass von allen Kindern ein sprachliches Entwicklungsprofil entsteht. Die Testsituation wird aufgezeichnet, um die Daten einer Profilanalyse zugänglich zu machen.

In einer Pilotstudie wurden verschiedene Vorgehensweisen und Tests erprobt. Ein Verfahren, das schließlich zur Anwendung kam, ist das HAVAS (Hamburger Ver­fahren zur Analyse des Sprachstandes bei 5-jährigen, Reich & Roth 2004). Es wurde an 527 Kindern, davon 184 zweisprachig, in Hamburg erprobt und optimiert. Es beruht auf der Erhebung freier Sprachproben, weil dies nach Ansicht der Autoren geeignet ist, Erst- und Zweitsprache zu berücksichtigen und die Verbindung zwi­schen den Sprachen zu erfragen. Es kann in mehreren Sprachen durchgeführt wer­den. Im Mittelpunkt des Verfahrens steht die Fähigkeit des Kindes, eine Situation angemessen zu erfassen und darin sprachlich zu handeln. Dem Kind wird ein visuel­ler Sprechimpuls in Form einer Bildergeschichte mit 6 Bildern vorgegeben (eine Katze versucht vergeblich einen Vogel zu fangen). Die Äußerungen werden aufge­zeichnet, transkribiert und analysiert, bei der Auswertung werden grammatikalische, kommunikative und lexikalische Aspekte berücksichtigt. Unter anderem soll die Frage beantwortet werden, ob das Kind das Geschehen mehr oder weniger vollstän­dig, genau und im Zusammenhang darstellen kann. Mit dem HAVAS wurde erst­mals der Versuch unternommen, Sprachentwicklung zweisprachig aufwachsender Kinder zum Bezugspunkt zu nehmen. Das Spektrum erfasster sprachlicher Handlun­gen ist vergleichsweise breit, mit einiger Übung ist bei der Auswertung ein Ergebnis zu erwarten, das Auskunft über zu fördernde sprachliche Bereiche bei einem Kind gibt.

Über die Anwendung des HAVAS hinaus wurde mit den Kindern ungefähr eine halbe Stunde lang gespielt und kommuniziert. Somit liegt eine Fülle spontansprach­licher Daten vor. Im Folgenden wird nicht die Auswertung des Verfahrens beschrie­ben, vielmehr wird mit Hilfe des Transkripts einer Testsituation angedeutet, wie die Analyse grammatischer Fähigkeiten und Schwierigkeiten eines mehrsprachigen Rindes um den Zeitpunkt der Einschulung aussehen könnte. Am folgenden Beispiel wird also nur ein Aspekt sprachlicher Handlungsmöglichkeiten des Kindes erörtert.

Der Junge Baris (Name geändert) ist türkischer Herkunft. Er wird zum Schuljahr 2005/2006 in die Grundschule eingeschult. Baris ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Er hat einen älteren Bruder und ist in Deutschland in den Kindergar­ten gegangen. Mit seiner Familie spricht Baris Türkisch.

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Bei der Analyse muss beachtet werden, dass es sich um einen mündlichen Text handelt. Viele „Fehler“ des Kindes entstehen, weil im mündlichen Sprachgebrauch, insbesondere bei der Bildbetrachtung, nicht alles expliziert werden muss. So wäre auch meine Äußerung in Zeile 16 als fehlerhaft zu betrachten, wenn man die korrekte schriftliche Form zum Maßstab nehmen würde.

In Bezug auf den Gebrauch der Verben zeigt sich, dass Baris sowohl die Verbzweitstellung im einfachen Hauptsatz (Zeile 26) als auch die Trennung der Prädikatsteile (Zeilen 3, 19) beherrscht. Auch der Tausch von Prädikat und Subjekt (Inversion) bei vorangestelltem Adverbial wird vollzogen (Zeilen 7, 9, 17), außerdem beherrscht Baris die Endstellung des Prädikats im Nebensatz (Zeile 28) sowie die Bildung unregelmäßiger Partizipien (geflogen Zeile 19, geblieben Zeile 22). Damit hat Baris alle Phasen des Erwerbsmodells nach Grießhaber (2005) erworben. Ein Problembereich ist die Übergeneralisierung des Hilfsverbs haben und die gelegentliche Auslassung der Prädikats (Zeile 10). Wesentlich problematischer als der Gebrauch der Verben scheint der Gebrauch der Nomen. Baris verwendet sowohl für Katze, als auch für Vogel einmal das männliche, dann wieder das weibliche Geschlecht oder er lässt den Artikel ganz aus. Folglich kann er auch den richtigen Kasus der Artikel bzw. Nomen nicht bilden. Er scheint in diesem Bereich sehr unsicher zu sein, aller­dings kann Baris bei manchen Nomen auch den richtigen Artikel sicher zuordnen. Unsicherheiten beim Gebrauch der Nomen zeigen sich auch im Zusammenhang mit dem Gebrauch von Präpositionen (Zeile 14).

Diese Interpretation ist nicht vollständig und müsste ausgebaut werden. Die Analyse des gesamten Materials (ca. 30 Minuten Aufnahme) zeigt jedoch, dass der analy­sierte Ausschnitt repräsentativ für die gesamte Stichprobe ist. Beim Vergleich der Sprachproben aller 60 untersuchten Kinder zeigt sich, dass ein Großteil der Kinder mit Migrationshintergrund im Bereich der Nomen wesentlich größere Schwierig­keiten hatte als beim korrekten Einsatz der Verben. Dies bedeutet nicht, dass die An­eignung des korrekten Verbgebrauchs nicht der weiteren Förderung bedarf. Im Falle von Baris und anderen Kindern scheint jedoch zumindest im Moment der korrekte Gebrauch von Nomen und Pronomen in Bezug auf das grammatische Geschlecht (Genus) und den damit verbundenen Kasus, außerdem in Verbindung mit Präpositi­onen, der Bereich zu sein, der besonderer Förderung bedarf.

Da die Kommunikation durch die Wahl des falschen Genus meist nicht beeinflusst wird, ist dies eine Schwierigkeit, die erst in der Schule im Zusammenhang mit dem Gebrauch schriftlicher Texte zu nachhaltigen Problemen führt. Zum Verständnis schriftlicher Texte ist ein Wissen um das richtige grammatische Geschlecht in Ver­bindung mit dem Kasus unerlässlich, unter anderem weil mit Pronomen in komple­xen Sätzen häufig Kohärenz hergestellt wird („Miss von der Strecke, die von a nach b geht, …“). Zudem hängt von der Wahl eines unbestimmten oder bestimmten Arti­kels ab, ob die starke Adjektivflexion (ein großer Mann) oder die schwache Adjek­tivflexion (der große Mann) gewählt werden muss. Für Knapp (1999) ist es ein Aspekt „verdeckter Sprachschwierigkeiten“, dass Probleme beim Erwerb der Grammatik in der Alltagskommunikation nicht oder zu spät erkannt werden und erst bei komplexer werdenden schulischen Anforderungen ein Handlungsbedarf gesehen wird.

Aus der Analyse sprachlicher Kompetenzen und Fähigkeiten von Baris und anderen Kindern folgt, dass Grammatikunterricht in der Grundschule einen höheren Stellen­wert einnehmen muss. Damit ist kein explizites Üben grammatischer Begriffe ge­meint (unterstreiche die Nomen rot und die Verben grün), sondern ein Unterricht, in dem nicht nur der Inhalt, sondern auch die sprachliche Form thematisiert wird. Dies kann z.B. mit Hilfe von Sprachspielen, Liedern, Versen und Reimen geschehen, bei denen die Thematisierung der sprachlichen Form spielerischen Charakter bekommt (vgl. Belke 2002). Im schulischen Fremdsprachenunterricht sind Aspekte dieses didaktischen Grundsatzes umgesetzt. Darüber hinaus kann durch den Vergleich sprachlicher Formen in verschiedenen Sprachen schon früh sprachliches Wissen gefördert werden (Oomen-Welke 2003). Im Anfangsunterricht ist es sinnvoll, solche Methoden zunächst auf den semantisch-konzeptionellen Bereich zu beziehen.

Grundsätzlich gibt es, im Gegensatz zum Gebrauch der Prädikate, kein System von Regeln, nach denen man das Genus sicher bestimmen kann. Deshalb muss mit Kin­dern, die Deutsch als Zweitsprache lernen, der jeweilige Begleiter, auch im gramma­tischen Kontext, explizit hervorgehoben und durch viel Wiederholen und Üben gelernt werden (vgl. Rösch u.a. 2003, S. 132). Der Hinweis, dass Wörter mit be­stimmten Endungen ein bestimmtes Geschlecht haben (die Zeit-ung) ist im An­fangsunterricht, also mit Kindern, die Schrift noch nicht sicher nutzen können, nicht hilfreich. Es ist allenfalls möglich, die Übereinstimmung des Genus bei bestimmten Sachgruppen zu nutzen (z.B. sind die meisten Früchte feminin). Hilfreich ist z.B., von Beginn an bei Nomen mit farbigen Markierungen je nach grammatischem Ge­schlecht zu arbeiten. Bei der Arbeit mit Begriffen können Gruppen von Wörtern mit gleichem Genus zusammengestellt werden. Besonders in der ersten Klasse kann mit spielerischen Übungsformen (Memorys, Lottos, Bingo,…) das Genus immer wieder benannt und geübt werden. Ein weiteres Beispiel sind Kim-Spiele, bei denen spiele­risch Satzmuster geübt werden, in denen das Genus angewendet wird (wo ist der…, ich suche den…,…) (vgl. Rösch u.a., S. 134f). Diese Übungsformen können gut mit dem Schriftspracherwerb kombiniert werden, da die Kinder sich auch in Bezug auf Schreibungen einen Lernwortschatz aneignen müssen. Solche Methoden sind vielen Lehrerinnen und Lehrern bestens vertraut, insbesondere wenn sie in Förderklassen oder internationalen Vorbereitungsklassen arbeiten. Solche Methoden, die dem Er­werb grammatischer Formen dienen, müssen im Anfangsunterricht in mehrspra­chigen Klassen hochfrequent eingesetzt werden (Engin 2005, Rösch 2003).

Literaturangaben

Belke, Gerlind (2002): Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht. Hohengehren: Schneider.

Engin, Hawa u.a. (2005): Kinder lernen Deutsch als zweite Sprache. Berlin: Scriptor

Knapp, Werner (1999): Verdeckte Sprachschwierigkeiten. In: Grundschule 5/1999, S. 30-34.

Oomen-Welke, Ingelore (2003): Entwicklung sprachlichen Wissens und Bewusstseins im mehrsprachigen Kontext. In: Bredel, Ursula u.a. (Hrsg.): Didaktik der deutschen Sprache Band 1, S. 452-463.

Reich, Hans H. / Roth, Hans-Joachim (2004): HAVAS 5. Hamburger Verfahren zur Analyse des Sprachstandes bei 5-jährigen. Hamburg: Behörde für Bildung und Sport.

Rösch, Heidi u.a. (2003): Deutsch als Zweitsprache. Grundlagen, Übungsideen, Kopiervorlagen. Braunschweig: Schrödel.

Mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlages.
http://www.paedagogik.de/index.php?m=wd&wid=1307
 

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