Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Einleitende Bemerkungen

An der nachfolgend dargestellten Passage sind zwei Lehrerinnen und ein Lehrer beteiligt. Sie arbeiten gemeinsam an einer Grundschule einer westdeutschen Großstadt. Eine der Lehrerinnen, Cf, ist ausgebildete Sonderpädagogin, die anderen beiden haben Grundschullehramt studiert. Sie sind alle gleichermaßen Teil des Kollegiums der Schule. Die Schule, an der die drei tätig sind, kann auf eine mehrjährige Tradition als integrativ arbeitende Schule zurückgreifen. Die Schülerinnen und Schüler der Schule kommen, nach Aussagen der Lehrkräfte, überwiegend aus sozial benachteiligten Familien und verfügen über familiäre oder eigene Migrationsgeschichten. Die ausgewählte Passage entstammt dem Beginn des Gesprächs, der noch eng an den Diskussionsimpuls anknüpft, jedoch bereits eine Selbstläufigkeit aufweist. Die interaktive Dichte der Passage unterstreicht dies. Das in dieser Passage von der Gruppe Gezeiten bearbeitete Thema ist inhaltlich vergleichbar mit jenem der Gruppe Kontinent. Es geht um die Beschreibung von Differenzen zwischen Kindern in der Lerngruppe und ihre Heterogenität.

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Cf: °ja° Leistungsunterschiede fällt mir gerade ein ist heute haben wir nämlich das schnellste Kind in der Rechtschreibleiter ist auf Stufe neun und das langsamste auf Stufe drei
Am: °Ja°
Cf: Fällt mir dazu ein und die haben die gleiche Arbeitszeit gehabt
Bf: Ja aber können ihrem Tempo nach so zu dem Umgang in der Rechtschreibleiter arbeiten und wenn einer auf Stufe drei ist und der andere auf neun ist das nicht schlimm weil sie wissen wie das funktioniert und können darin arbeiten und sonst Leistungsunterschiede kriegen sie unterschiedliche Wochenpläne
Cf: ramhm
Bf: so versucht man dem Herr zu werden
Cf: Arbeiten teilweise an verschiedenen Zielen also (.) teilweise also zieldifferent teilweise je sogar unterschiedlichen Klassenstufen zugeordnet also ist im dritten Schuljahr aber arbeitet noch an Zielen der Klassen zwei
Am: Auch mit den entsprechenden Materialien ne
Cf: Ja
Am: Das ist schon bei den Stufe (#unverständlich#) Joa (Gruppe Gezeiten)

Die Lehrkräfte berichten beginnend am Beispiel des Deutschunterrichts, dass es langsame und schnellere Kinder in ihren Klassen bzw. Lerngruppen gibt. In der gleichen Zeit gelingt es den Kindern in unterschiedlichem Ausmaß, Aufgaben bzw. Material zu bearbeiten. Die Kinder können im beschriebenen Unterricht in ihrem eigenen Tempo arbeiten. Dies ist möglich, da sie mit den unterrichtlichen Materialien und Aufgabenstellungen vertraut sind. Auch in den Wochenplänen, an denen die Kinder arbeiten, werden ihre Leistungsunterschiede berücksichtigt. Die Unterschiede zwischen den Kindern beschreiben die Lehrenden in Schuljahren.

Die Lehrkräfte unterscheiden in der Passage ihre Schülerinnen und Schüler entlang unterschiedlicher Arbeitstempi und Leistungsunterschiede. Dies erfolgt entlang des Materials „Rechtschreibleiter“, auf der unterschiedliche Stufen bestehen. Die Kinder arbeiten bzw. lernen auf je unterschiedlichen Stufen. Der Wochenplanunterricht berücksichtigt die Unterschiede ebenfalls.

Cf: Ansonsten ja gut was mir noch dazu einfällt ist dass sie natürlich hier sehr unterschiedlich schon ankommen (2) das ist immer so diese ne der Schüler A mit den vier Schuljahren oder
Bf: Mmhm
Cf: Und die Spannen haben wir jetzt nicht mehr so ganz aber eigentlich fast schon noch von (3)
Bf: Meinst du jetzt in der zweiten Klasse dass du noch Kinder hast die
Cf: mmhm in der zweiten ja
Am: Naja vier Jahre das ist schon
Bf: Vier Jahre nicht ne am aber zwei bestimmt ne also dass einige noch am Anfang der ersten Klasse fast ehm ((räuspert sich)) stehen also wie einige schon in die erste Klasse kommen muss man sagen
Cf: Ja
Bf: Ja
Am: so nich und andere eben ja neunte Stufe Rechtschreibleiter ist ja schon recht ordentlich
Cf: Ja
Am: Ja und Differenzierung erfolgt eben auch ehm nach Menge nich also nach Umfang das ist natürlich auch noch n Kriterium ((räuspert sich)) (3) ja (3)
Cf: Ja stimmt das ist eigentlich auch noch n anderer Unterschied ne es gibt ja Unterschiede von wie viel sie schaffen einfach im Unterricht und das sind also da sind fast noch größere Unterschiede finde ich teilweise
Am: Ja und ehm schaffen im Sinne von durchhalten Durchhaltevermögen
Bf: Ja
Am: also einige werden eben von ihrem Arbeitspensum wü// würden über das Arbeitspensum überhaupt nicht ehm aus er Ruhe gebracht also halten es durch ja die muss man wenns klingelt dann lassen sie den Stift praktisch fallen ja und andere da weiß man dass nach n paar Minuten schon die erste Ablenkung (.) passiert
Bf: Mmhm“ (Gruppe Gezeiten)

In diesem zweiten Teil der ausgewählten Passage beschreiben die zwei Lehrerinnen und ihr Kollege den Unterschied zwischen Schülerinnen und Schülern in Jahren bzw. in Schuljahren und ihren Umgang mit diesen Differenzen im Unterricht. Die beschriebene Differenz machen sie an den Materialien und Inhalten bezogen auf Schulstufen fest, die die Schülerinnen und Schüler bearbeiten. Die Aufgaben und Anforderungen, ausgedrückt in Schuljahren, decken sich nicht immer mit den Schulbesuchsjahren der Kinder. Die Lehrkräfte differenzieren die Aufgaben der Kinder in Form von Menge und Umfang und geben ihnen solche, die ihrer tatsächlichen Entwicklung und nicht der in besuchten Schuljahren entsprechen. Eine weitere Differenzdimension, die sie zwischen den Schülerinnen und Schülern sehen, liegt darin, konzentriert zu lernen. Einen weiteren Unterschied zwischen Kindern sehen die Diskutierenden darin, wie leicht oder schwer Schülerinnen und Schüler von ihrer Lernaufgabe abzulenken sind sowie welches Arbeitspensum sie bewältigen können.

Geteilter Orientierungsrahmen

Vor dem Hintergrund der formulierenden Interpretation im vorangegangen Abschnitt wird hier der geteilte Orientierungsrahmen, der in der reflektierenden Interpretation erfolgt, dargestellt. Eine Rahmenkomponente besteht darin, Kindern, die mit sehr unterschiedlichen Lernausgangslagen und Entwicklungsständen sowie Mitarbeitsmöglichkeiten in die Schule bzw. den Unterricht kommen, entsprechend unterschiedliche Anforderungen und Aufgaben zu stellen. Hierbei differenzieren die Lehrkräfte nach der zu bearbeitenden Menge innerhalb eines Zeitraums und berücksichtigen dabei auch, wie lange sich einzelne Kinder konzentrieren können. Diese Art der Berücksichtigung von Unterschieden der Kinder wird von den Lehrkräften in Verbindung mit Materialien, die die Schülerinnen und Schüler kennen und mit denen sie selbstständig arbeiten können. Differenzen zwischen Schülerinnen und Schülern werden von der Gruppe Gezeiten zunächst differenziert beschrieben, ohne dass sie in eine binäre Zuschreibung münden. Dies relativiert sich jedoch insofern, als dass eine Differenz zwischen Entwicklungstand und Schulbesuchsjahren aufgemacht wird. Dies eröffnet im aktuellen Unterricht eine Perspektive auf das einzelne Kind und seine Situation, könnte aber im Moment von Beurteilung und Bewertung konkreter schulischer Leistungen nicht haltbar sein. Über letzteres kann auf der Datengrundlage keine Aussage gemacht werden, allerdings wird darauf verwiesen, dass die „Spannen“ (jetzt) nicht mehr so groß sind wie zu Beginn. Dies deutet auf eine Orientierung der Angleichung der Lern- und Entwicklungsstände der Kinder hin. Den positiven Horizont des Orientierungsrahmens stellen somit die individuellen Entwicklungsschritte von Kindern dar und ein gemeinsames Ziel. Jedes Kind lernt von seinem jeweiligen Entwicklungstand und seinen Möglichkeiten ausgehend und erhält entsprechende Aufgaben. Dies gelingt im Unterricht durch die Bereitstellung differenzierten Materials als auch differenzierter Aufgabenstellungen in der Bearbeitung von diesen. In diesem Orientierungsrahmen bestehen Differenzen zwischen Kindern in ihrem aktuellen Entwicklungsstand in der Auseinandersetzung mit den unterrichtlichen Anforderungen. Die Passage lässt offen, worin die Lehrenden die Ursachen für die Differenzen sehen, sie stellen jedoch eine Ausgangssituation des Unterrichts dar.

Der negative Gegenhorizont wird von der Gruppe Gezeiten nicht direkt angesprochen bzw. thematisiert. Er kann – theoretisch – daran festgemacht werden, dass nicht der Entwicklungsstand der Kinder, sondern ein normierter bzw. erwarteter Entwicklungsstand zum Ausgangspunkt genommen werden würde, über den sich die Lehrenden jedoch hinwegsetzen. In diesem Fall würden an alle Kinder die gleichen Erwartungen – in Form von Aufgabenstellungen im Wochenplan – gestellt werden, die ihren Schulbesuchsjahren entsprechen würden. Zugleich stellt der allmähliche Abbau von Leistungsdifferenzen, d.h. die Beibehaltung einer großen Spanne am Ende der Schulzeit tendenziell eine negative Begrenzung  des Orientierungsrahmens der Gruppe Gezeiten dar. Die praktische Umsetzung, also die Realisierung und Bearbeitung der Differenzen zwischen Schulbesuchsjahren und Entwicklungsstand erfolgt im Unterricht wesentlich durch die Orientierung am positiven Horizont.

Mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift für Inklusion Online
http://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/65/65

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