- „Zur biographischen Entwicklung von Sportlehrern – “ Schule ist nicht mehr der eigentliche Lebensinhalt für mich““
- „Zur biographischen Entwicklung von Sportlehrern – Abschließende Betrachtungen“
Falldarstellung
M.: Als ich hier in der Schule anfing, bin ich in ein sehr persönliches Kollegium mit persönlicher Schulleitung gekommen – trotz der Riesen-Größe; an der Größe hat sich nichts verändert, aber an der Führung, d.h. wir haben einen neuen Schulleiter bekommen, der natürlich zwangsläufig neue Entwicklungen angehen musste – auch im Rahmen der normalen schulischen Veränderungen, völlig klar, der aber eine Fähigkeit deutlich nicht hat, er ist keiner, der mit Menschen umgehen kann und der ein solch‘ Riesen-Kollegium von der menschlichen Seite führen kann; d.h. es ist insgesamt die Atmosphäre unpersönlicher geworden und die Dinge, die für mich vom Berufsbild immer von Bedeutung waren – Pädagogik sag ich jetzt mal als Stichwort – ist für ihn keine wesentliche Sache und wenn man sich etwas mehr in den Beruf einbringen möchte, gerade über Sport ist es häufig möglich Kontakte aufzubauen, Schülern bei persönlichen Problemen zu helfen und solche Dinge, stoßen da auf sehr wenig Gegenliebe und Verständnis, d.h. es ist eher die formaljuristische Seite und die damit zwangsläufigen Auseinandersetzungen und Reibereien treten natürlich völlig in den Hintergrund, wenn Du solche Dinge privat erlebst [Pflegen der schwerkranken Mutter, Anm. d. Autors], dann relativiert sich das. Du sagst also, es gibt wichtigere Dinge, als um manchen kleinen Kram sich zu streiten, das ist also völliger Quatsch.
I.: Also, man wird gelassener irgendwie.
M.: Ja, richtig. Als ich feststellte, dass vieles in eine Richtung lief, mit der ich mich nicht so ganz identifizieren konnte, habe ich versucht, über aktive Arbeit, Lehrreferat, SV-Lehrer und solche Dinge etwas zu bewegen und in Gang zu setzen bzw. zu verstärken, habe dann auch mit vielen Kollegen zusammengearbeitet, die mich unterstützt haben, muss ich dazu sagen, und wir haben dann nach einer Zeit gemerkt, dass bestimmte Dinge nicht mehr zu verändern waren, weil die entsprechenden anderen Leute nicht bereit waren und nicht mehr lernfähig waren, sondern nur sehr einseitig die Dinge gesehen haben. Und ich hab weiterhin gemerkt, dass ich durch diese vielen Berührungspunkte und sehr sehr starkes Engagement diesen Ärger eigentlich für mich persönlich verstärkt habe. Meine Gelassenheit, meine eigentliche Ruhe in solchen Dingen etwas mehr verlor. Mein Sohn sagte damals im Alter von 5 oder 6 Jahren, wenn ich zur Schule ging: „Schöne Grüße an Deine Schüler“ so als Verabschiedung morgens früh. Und einmal sagte er dann: „Schöne Grüße an Deine Schüler und ärger Dich nicht mehr so viel“. Und da war für mich der Punkt. Moment, Du bringst einfach zu viel nach Hause, das geht nicht und da muss einfach eine Grenze irgendwo sein. Und meine Konsequenz war dann, für solche Dinge mich nicht mehr zur Verfügung zu stellen, so dass auch Reibungspunkte weggenommen waren und ich mich einfach verstärkt wieder auf die Schüler konzentriert habe und seitdem ich diesen Weg gefunden habe, ist die Konfrontation nur noch so, dass es wirklich nur noch um Dinge geht, die meine Schüler oder mich angehen, wie auch immer. Mit dieser Einstellung bin ich einfach besser gefahren.
/.: Also eine deutliche Rücknahme Deines schulischen Engagements?
M.: Ja, ich denke, es wird auch bedingt durch die Tatsache, dass uns als Lehrern sowieso immer mehr Möglichkeiten genommen werden, Dinge durchzuführen. Typisches Beispiel: hier in L. ist es möglich, Kanus zu mieten und mit ausgebildeten Leuten vom Wassersportclub hier ’ne geführte Tour zu machen mit Schülern. Wir selbst haben den DLRG-Kurs gemacht und so weiter. Jetzt wird die Veranstaltung nicht mehr durchgeführt in dem Moment, wo nicht alle Schüler ihr Bronze- Schwimmabzeichen vorlegen können. Ich kenne keine Klasse bei uns in der Schule, wo das erfüllt wird. Heißt konkret: kann ich nicht mehr machen. Ja, und dadurch werden natürlich auch Möglichkeiten genommen auf solche Dinge mal einzuwirken und neue Erfahrungen zu ermöglichen.
Würdest Du nicht sagen, dass Du heute noch in der gleichen Art unterrichten kannst, wie Du das vor 15 Jahren getan hast?
M.: Nein, nein. Da haben sich Dinge verändert, auch von Seiten der Schülern verändert. Ich denke, gerade in den letzten drei, vier Jahren haben wir sehr viele Diskussionen gehabt über Schülerverhalten und ich habe teilweise heute sicherlich Verhaltensweisen oder Methoden im Programm, die ich eigentlich von mir nicht erwartet hätte vor 15 Jahren, weil Du merkst, dass Du in bestimmten Bereichen immer mehr an die Grenze stößt. Also es ist nötiger, manchmal viel mehr erforderlicher als ich das eigentlich erwartet habe, durch bestimmte eindeutige Grenzen und vielleicht auch Sanktionen, Kontrolle auch bei erwachsenen Schülern, Leistungen einzufordern, weil es auf eine vernünftige Art und Weise mit Ansprache weniger funktioniert als früher. Also die Sache mit der Idealvorstellung, die sicherlich vor fünfzehn, achtzehn Jahren noch da war, mit möglichst viel Freiheit und möglichst viel Partnerschaft Dinge rüberzubekommen, hat sich ein wenig verschoben. Diese Auseinandersetzungen, die normal sind in diesem Bereich, die laufen in einer anderen Qualität ab auch von Seiten der Schüler, so dass also die Bereitschaft, durch Gespräche Dinge zu erreichen, sich verschoben hat. Man ist eher dann bereit, sich bei irgendwelchen Dingen einfach durchzusetzen, i: Würdest Du sagen, dass sich bei Dir da auch was verschoben hat?
M.: Ja, sicherlich auch. Man tendiert dazu vielleicht, das auf Entwicklungen insgesamt zu schieben. Ich denke einfach mal an die normale Routine, die man entwickelt, von den Fächern her, vom Stoff her, leidet vielleicht auch mal Unterricht, dass man also Dinge eher mal aus dem Ärmel zieht als früher. Vielleicht auch manchmal gedankenloser. Was sich auch verändert hat, ist das Verhältnis zu den Kollegen. Unsere Sporthalle versuchen wir z.B. seit Jahr und Tag in den Griff zu bekommen, was so das äußerliche Bild, Aufräumen, Ordnung usw. angeht und wir sind mit 15 Sportkollegen da und ich weiß, 10 Leute machen da mit und 5 Kollegen machen nicht mit. Und die Bereitschaft, immer wieder für diese Leute die Arbeit mit zu erledigen, und solche Dinge, verändern einen wahrscheinlich auch, mit der Bereitschaft, so was noch mal für andere mitzutragen. Ich denke, so was ist sicherlich mit drin.
I.: Also Resignation wäre zuviel gesagt?
M.: Doch, irgendwann schon zu sagen, hier ist auch für mich jetzt die Grenze. Wobei ich hoffe, dass meine prinzipielle Bereitschaft, auf Schüler zuzugehen, die Offenheit, Dinge darzulegen, meine Vorgehensweise, meine Zensierungen darzulegen, offenzulegen und darüber zu diskutieren; ich hoffe, dass sich daran in diesen wesentlichen Dingen nichts geändert hat. Ja, und ich glaube, da wird sich auch nichts dran ändern, weil das zu dem Berufsbild gehört, das ich eigentlich lange vorher hatte und wo ich sagen muss, das hat sich auch durch den Beruf bestätigt und nicht verändert. Das war mein Ziel, mit Menschen zu arbeiten und dieser pädagogische Anspruch, der ist geblieben und das ist auch der Punkt, wo ich nach den Ferien gerne wieder in die Schule gehe und mich darauf freue, dass es wieder losgeht. Dass sich meine Berufsvorstellungen erfüllt haben, hängt aber sicherlich auch damit zusammen, dass ich einen Beruf gewählt habe, der sehr starken Einfluss auch in meine private Geschichte hat; d.h. also Freizeitgestaltung. Bei uns privat hat sehr viel mit Sport zu tun. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass meine Frau in der gleichen Richtung aktiv ist, oder Interessen hat. Mein zweites Hobby ist die Musik, und ich habe die Entscheidung getroffen, ein Hobby hältst du dir vom Beruf frei. Du wirst immer im Job in eine Routine hineinrutschen, oder vielleicht auch mal negative Dinge erfahren, dann hast du ein Hobby zur Verfügung, mit dem du den beruflichen eventuellen Stress oder die Routine ausgleichen kannst; über Musik einfach Dinge abbauen, die vielleicht sonst auflaufen. Aber nichts desto weniger trotz hat das bei mir, ist das eine sehr enge Verzahnung, die ist kaum zu trennen.
I.: Also du lebst Deinen Beruf sozusagen.
M.: Ja, würde ich so sagen, oder wir, ich muss das wirklich auf ‚wir“ beziehen, weil unsere Partnerschaft ähnliche Interessen hat und wir Dinge dann gemeinsam machen. Ob das im Wassersportbereich ist oder in anderen Bereichen, Badminton, Volleyball, Tennis, sehr ähnliche Dinge, die wir gemeinsam machen, die wir so auch mal getrennt machen, völlig klar, aber Urlaub heißt für uns, ganz klar, Kanus auf’s Dach, Segelboot hinten dran und los geht’s. Und sobald wir Wasser sehen sind wir erholt, und du kannst damit auch wieder Kräfte sammeln. Das ist eine sehr enge Verzahnung. Natur hilft für mich ganz konkret bei Stressphasen im Schuljahr, weil ich weiß, dass das bei mir immer wirkt. Ich pack mir das Kanu auf’s Dach, fahre also 15 Kilometer weiter, steige auf den Fluss und paddle halt mal rauf und runter und bin also mit einem Aufwand von zwei, zweieinhalb Stunden deutlich erholt, ganz einfache Sache.
I.: Dass Du da Alarmsignale hörst, und Dir dann Deine Regenerationsphase verschaffst?
M.: Ja, und auch mal zu sagen: heute lasse ich die Klassenarbeit noch mal liegen und korrigiere sie nicht und mache sie den nächsten Tag; weil heute hätte ich nicht die Ruhe oder die Sachlichkeit dazu, wo früher vielleicht eher mal anstand: Mensch, möglichst schnell zurückgeben. Damit bewusster umzugehen und dann Dinge auch mal anders zu organisieren, gehört auch dazu.
Interpretation
Herr M., Sport- und Englischlehrer an einer Berufsschule, hat zwar eine krisenhafte Phase durchlebt, diese jedoch gemeistert. Er spricht von Problemen mit der Schulleitung, im Kollegium und von Schülern, die weniger gesprächsbereit und stärker fordernd geworden seien. Gleichwohl wirkt er heute ungebrochen, gelassener und scheint eine Einstellung entwickelt zu haben, die man als „Optimismus trotz widriger Umstände“ bezeichnen kann.
Wie ist seine Lage zu verstehen?
Zunächst – wieder mit Rückgriff auf ANTONOVSKIS Modellvorstellungen – betrachte ich den Aspekt der sozialen Ressourcen bzw. sozialen Unterstützung: Zu Beginn seiner Tätigkeit hat er sich im (Riesen-)Kollegium offenbar recht wohl gefühlt, denn es wurde trotz der Größe ein persönlicher Umgang gepflegt. Das hat sich mit neuer Schulleitung geändert. Es herrsche seitdem ein bürokratischer Geschäftsbetrieb vor, bei dem es mehr auf rechtliches Funktionieren und Absichern ankomme als auf gemeinsames erzieherisches Arbeiten. Seine Versuche, mit anderen Kollegen etwas daran zu ändern, scheitern auf frustrierende Weise. Gleichwohl erfährt er dabei, dass er sich – wie auch im Beispiel der Turnhallen-Umgestaltung – auf einen bestimmten Kreis von Kollegen verlassen kann und auf andere nicht. Der soziale Rückhalt lässt sich also im Bereich des Kollegiums als „partielle Unterstützung“ charakterisieren.
Einen zweifellos großen Anteil sozialer Unterstützung erfährt er in der Familie. Die beruflich und privat gleichgewichteten Interessen mit seiner Ehefrau schildert er durchweg als positiv und unterstützend. Auch die Bemerkung seines Sohnes („Schöne Grüße an deine Schüler und ärgere dich nicht mehr so“) spricht für dessen Anteilnahme und deutet auf eine funktionierende Vater-Sohn-Beziehung hin.
Ein wichtiger Beitrag zum Zusammenhalt der Familie hat die Bewältigung eines kritischen Lebensereignisses ergeben, nämlich die Hereinnahme und Pflege der kranken Mutter bis zu ihrem Tode, wie er an anderer Stelle des Interviews ausführlicher erläutert.
Insgesamt gesehen erfährt Herr M also im privaten Bereich umfassende und im beruflichen Leben partielle soziale Unterstützung.
Auch unter dem Aspekt des Kohärenzsinns fallen seine Äußerungen positiv aus: Er vermag seine Lage zu durchschauen, zu verstehen, sie konstruktiv zu handhaben und sinnvoll zu gestalten. Nach dem vergeblichen Bemühen, die Zusammenarbeit mit der Schulleitung und im Kollegium auf mehr Erziehungsarbeit auszurichten, erkennt er die diesbezüglichen Widerstände und Grenzen, gegen die er nun nicht mehr hoffnungslos angeht. Stattdessen orientiert er sich um, indem er sein Engagement auf die Arbeit mit seinen Schülern im Unterricht konzentriert. Die Schüler, die er im Vergleich zu früher als weniger gesprächsoffen und als fordernder erlebt, bilden für ihn keine undurchschaubaren Draufgänger, sondern eine neue Generation, die ihn auf neue Art fordert. Er spricht – an anderer Stelle des Interviews – davon, dass jede Generation ihre spezifischen Probleme habe und er keine größeren Probleme der heutigen Jugend sehe, sondern nur andere.
Dieses Verständnis seiner Situation paart sich mit gelingender Handhabbarkeit. Die früheren Idealvorstellungen von möglichst viel Freiheit und Partnerschaft im Unterricht hat er unter den neuen Bedingungen pragmatisch relativiert. Neben der verbreiteten Zauberformel von „Grenzsetzung und Durchsetzung“ hat er sich allerdings bestimmte erzieherische Ansprüche erhalten, nämlich auf Schüler zuzugehen, offen gegenüber ihnen zu sein und diskussions- bzw. kompromissbereit zu bleiben. Er zeichnet sich also durch eine pragmatische Flexibilität aus, ohne auf ihm wesentlich erscheinende Ansprüche an seine Lehrertätigkeit zu verzichten. Bemerkenswert erscheint auch seine Sensibilität und Fähigkeit, auf innere und äußere „Alarmsignale“ zu achten und zu reagieren. Erhöhten Belastungen begegnet er durch das bewusste Aufsuchen von Schon- und Erholungsräumen (Beispiel Kanufahren); und der bereits zitierte Satz seines Sohnes „Schöne Grüße an deine Schüler und ärgere dich nicht mehr so viel!“ war für ihn Anlass genug, seine Situation zu reflektieren und mehr Distanz zwischen beruflichem und privatem Leben aufzubauen. Diese Distanzierung gelingt ihm insbesondere auch dadurch, dass er sich bewusst und gezielt einen hinreichenden Freiraum für sein Hobby, das Musizieren, erhalten hat. Auf diese Weisen begegnet, reduziert und relativiert er berufliche Belastungen und bleibt somit widerstandsfähig und belastbar.
Verstehbarkeit und Handhabbarkeit der Situation ermöglichen ihm, das zu verwirklichen, was ANTONOVSKI als Sinnhaftigkeit des Tuns bezeichnet. Sein zentrales „Ziel, mit Menschen zu arbeiten“ kann er im Unterricht, in der Arbeit mit seinen Schülern verfolgen. Dessen ist er sich bewusst und deshalb sieht er dem Start der Schulzeit nach den Ferien mit Freude und nicht mit Bedauern oder Befürchtungen entgegen. Damit wird auch verständlich, warum die frustrierende Phase der erfolglosen Auseinandersetzung mit Schulleitung und Kollegium zwar zum Rückzug, aber nicht zur generellen Resignation führte. Die alltägliche Arbeit an und mit seinen Schülern ist ihm geblieben und die bildet das Zentrum und den Sinn seiner beruflichen Tätigkeit. So entsteht das Bild eines gelassenen Optimisten trotz widriger Umstände.
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