Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die 3. Stunde der Einheit beginnt…

Lehrer:                 Martin, die Wanderzeit ist vorbei

Martin:                  Ja, ich muss (noch), (hab) mein Taschentuch weggeschmissen… [es wird ruhig]

Lehrer:                  welche Gruppen haben den Arbeitsvorschlag eins bearbeitet? welche Gruppen haben den Arbeitsvorschlag zwei bearbeitet?

Alex S.:                 Herr *** (ich muss) dazu noch mal was sagen, Sören S. hatte das, und ??? nicht da ist

Mathilde leise:    ich war nicht da Herr ***

Lehrer:                  und welche haben Arbeitsvorschlag drei bearbeitet? dann haben wir also alle drei

Mathilde leise:    Herr ***, ich war nicht da (Lehrer: hm?) weil an dem Tag als wir das aufgekriegt haben, bin ich nach Hause gegangen

SCHm von gegenüber: was (ich) versteh nicht

Mathilde laut:      du brauchst das auch nicht zu verstehn

Der Lehrer ruft dem Schüler Martin in Erinnerung, dass „die Wanderzeit“ nun vorbei ist, woraufhin der Schüler erklärt, dass er gerade sein Taschentuch in den Papierkorb befördert hat. Noch auf dem Weg durch den Klassenraum hat er vermutlich nicht realisiert, dass soweit alle Voraussetzungen für den Unterrichtsbeginn erfüllt sind. Der Lehrer benutzt eine bildhafte metaphorische (poetische) Beschreibung, ja ironische Übertreibung, mit der er gleichsam stellvertretend das Startsignal für alle Beteiligten gibt, und ermahnt den Schüler nicht etwa: Setz dich hin. Dass „die Wanderzeit“ vorüber ist (Symbolfigur), enthält die Botschaft: Jetzt beginnt die Unterrichtszeit, die Ernstsituation Unterricht, von nun an ist solcherart freizeitmäßiges (lustbetontes) Umhergehen bzw. Wandern (in Anlehnung möglicherweise an das berufsmäßige Auf-der-Walz-Sein von Handwerksburschen) nicht mehr möglich. Bevor es losgehen kann, sollen alle auf ihren Plätzen sitzen. In der Klasse wird es allmählich ruhig.

Offenkundig ist bereits geklärt, um was es heute gehen soll. Der Lehrer wendet sich relativ unvermittelt an die Schulklasse und beginnt damit, sich einen Überblick darüber zu verschaffen, „welche Gruppen“, welchen „Arbeitsvorschlag“ bearbeitet haben (Abfragestruktur Wer hat was gemacht). Die Schülerinnen und Schüler signalisieren dies wohl per Meldung, denn er kann ohne Unterbrechung von der ersten zur nächsten Frage fortfahren. Dann richtet sich der Schüler Alex S. direkt an den Lehrer und teilt mit, dass Sören S., der vermutlich die Ergebnisse der Gruppe notiert hat, heute nicht anwesend ist. Der Anspruch des Schülers ist offenbar, darzulegen, dass er zwar an der Gruppenarbeit beteiligt war, er aber heute, da sein Mitschüler fehlt, den gemeinsam erarbeiteten Text (gewissermaßen unverschuldet) nicht zur Verfügung hat. Er hätte dies auch zurückhalten können und abwarten können, was als Nächstes geschieht Offenheit/Ehrlichkeit scheint dem Schüler liier angebracht und weniger riskant, als sich im Nachhinein erklären zu müssen. Der Lehrer kommentiert den Hinweis von Alex S. nicht, jedenfalls nicht verbal.

Mathilde weist leise daraufhin, dass sie in der Unterrichtsstunde, auf die sich die Abfrage des Lehrers bezieht, nicht anwesend war. Hat der Lehrer dies überhaupt gehört? Er fährt mit seiner Abfrage fort und fasst zusammen, „dann haben wir also alle drei“. Worauf er vermutlich hinauswill, ist, dass zu allen drei Arbeitsvorschlägen gearbeitet wurde und Ergebnisse vorliegen. Offenbar konnte er bis zu diesem Zeitpunkt davon nicht unbedingt ausgehen. So weit sind die Voraussetzungen zum weiteren Vorgehen – allem Anschein wird es um die Präsentation der Ergebnisse gehen – ausreichend geklärt.

Mathilde setzt noch einmal leise an, diesmal reagiert der Lehrer („hm?“). Sie stellt klar, dass sie zum Zeitpunkt der Aufgabenstellung nicht am Unterricht teilgenommen hat. Der Anspruch der Schülerin ist offenbar darzulegen, dass sie aufgrund ihrer Abwesenheit nicht weiß, worum es geht, sie folglich auch keiner Gruppe angehört usf. Möglicherweise ist ihr dies (sie spricht leise) unangenehm. Sie hat zwischenzeitlich nicht nachgeholt bzw. nicht nachholen können, was sie versäumte. Auch ihr scheint es wichtig zu sein, die Karten auf den Tisch zu legen (im Sinne von: Auch mit meiner Mitarbeit kann nicht gerechnet werden).

Ein Mitschüler, der Mathildes leise Erklärung vermutlich akustisch nicht verstanden hat, hakt nach. Daraufhin macht Mathilde laut und vernehmlich klar, dass ihn dies nichts angeht. Sie wollte lediglich den Lehrer vom Stand der Dinge unterrichten und weist den Mitschüler, der sich interessiert zeigt, barsch zurück.

Der Lehrer geht, dies wird anhand der Anschlussäußerung (siehe nächste Passage) deutlich, weder auf den Hinweis von Mathilde noch auf das daraus hervorgehende Intermezzo mit dem Mitschüler näher ein.

Zunächst mal kann festgehalten werden, dass Alex S. und auch Mathilde auf etwas abzielen, wonach der Lehrer nicht explizit gefragt hatte, außerdem durchkreuzen sie seine Ansprache bzw. fallen ihm ins Wort.

Vermutlich geht der Lehrer auf die vorgebrachten Hinweise nicht ein, weil er mit dem Unterricht beginnen bzw. fortfahren will (eventuell üben die aufgestellten Mikrofone zusätzlichen Druck aus). Und wichtig ist ihm, zunächst einen Überblick darüber zu bekommen, dass und von wem Ergebnisse vorliegen, auf die aufgebaut werden kann. Die vorgebrachten Versäumnisse tun nichts zur Sache, vielleicht hat der Lehrer sie auch unausgesprochen auf dem Konto versäumter Schülerleistungen verbucht Wahrscheinlich ist, dass es zwischen dem Lehrer und der Klasse eine Vereinbarung darüber gibt, nicht erbrachte bzw. zu erbringende Leistungen rechtzeitig (zum Beginn der Stunde, besser noch vor Stundenbeginn) zu signalisieren, denn Alex S. und Mathilde tun dies gewissermaßen unaufgefordert. Es hat den Anschein, als ginge ihr Verhalten für den Lehrer in Ordnung.

Insgesamt werden Bedingungen und Voraussetzungen für die Präsentation von Arbeitsergebnissen, die aus der vorhergehenden Stunde hervorgegangen sind, geklärt. Mathilde und Alex S. zeigen im Vorwege Versäumnisse an, für die sie in beiden Fällen nicht wirklich verantwortlich gemacht werden können. Sie hätten auch warten können, bis sich im Verlauf des Unterrichts dazu eine passende Gelegenheit bietet. Handeln die beiden hier aus der Perspektive ernst genommener mündiger Schülerinnen und Schüler? Oder: Stehen sie unter Rechtfertigungsdruck? Reagieren sie auf eine allen bekannte Vereinbarung, auf Erfahrungswerte, die darin bestehen: Hier wird nicht geschummelt, hier mogelt man sich nicht durch?

Zurück zum Transkript:

Lehrer: so, würde vorschlagen, wir hörn dann, jetzt mal eine Gruppe von Arbeitsvorschlag eins …, und diejenigen, die dann etwas noch zu ergänzen haben, zu eins, die ergänzen dann mit Meldung Clara

Clara: eh auch noch die Frage?

Lehrer: Ja, lies natürlich die Frage vor, ich glaub nicht, dass alle andern wissen, welcher Arbeitsvorschlag da gemeint ist, und ich würde auch Vorschlägen, da wir bei Arbeitsvorschlag eins das Bild brauchen, dass alle das Buch auf Seite hundertfünfundfünfzig [ca 11.48 Uhr] aufschagen, und sich während Clara das vorliest, das Bild dann auch ansehn …

Der Lehrer markiert mit „so“ einen Einschnitt (sinngemäß: so, jetzt geht es los) und formuliert dann im Konjunktiv „würde vorschlagen“ (das Subjekt ‘ich’ ist weggelassen; im Abschnitt vorher war bereits mehrfach von „Arbeitsvorschlägen“ die Rede, was auf die Wahlmöglichkeit zwischen drei verschiedenen vorgegebenen Aufgaben zielte). Hier klingt die Rede des Lehrers zunächst so, als wären andere Möglichkeiten/Vorschläge denkbar. Er legt dann dar, wie er sich das weitere Vorgehen vorstellt. Mit „wir hörn dann“ ist in Aussicht gestellt, dass alle etwas Bestimmtes gemeinsam tun, sich zunächst einer Gruppe aufmerksam zuwenden, und zwar einer Gruppe, die „Arbeitsvorschlag eins“ erarbeitet hat. Darüber hinaus räumt er ein, dass „diejenigen, die dann etwas noch zu ergänzen haben“, dies mit „Meldung“ anzeigen. Offenbar sollen zu diesem ersten Arbeitsergebnis von den anderen Gruppen nur Aspekte ergänzt werden, die neu hinzukommen. Der Lehrer favorisiert damit ein didaktisches Verfahren, bei dem ein Text (hier zunächst zu Arbeitsvorschlag eins) für alle weiteren Überlegungen zur Strukturierung dient. Dies erfordert vonseiten der Schülerinnen und Schüler, die dieselbe Aufgabe bearbeitet haben, Aufmerksamkeit hinsichtlich potenzieller Ergänzungen zu dem, was vorgetragen wird. Die Anforderung an die Schülerinnen und Schüler ist nicht etwa zu bestätigen, was andere bereits gesagt haben, sondern Ergänzungen (im Sinne neuer Aspekte) beizusteuern, also auf Unterschiede und Differenzen zu achten.

Es geht demnach um eine Präsentation im Plenum, verbunden mit der Idee, dass – vorausgesetzt bei allen drei Arbeitsvorschlägen wird so verfahren – alle Schülerinnen und Schüler über die Ergebnisse aller drei Arbeitsvorschläge in Kenntnis gesetzt werden und mitreden.

Ist nach der Offenheit verheißenden Beschreibung des Vorgehens die zuvor konjunktivisch vorgebrachte Möglichkeitsform noch gegeben? Ist der Lehrer nicht ganz sicher, ob dieses Vorgehen optimal ist und erwartet er nun eine Rückmeldung (eine Art Vergewisserung) vonseiten der Schülerinnen und Schüler?

Hätte er nicht auch die Schülerinnen und Schüler selber entscheiden lassen können, wie sie ihre Ergebnisse präsentieren möchten, wie vorzugehen ist? Welche anderen Möglichkeiten wären denn überhaupt denkbar unter den gegebenen Voraussetzungen: Es gibt drei Arbeitsvorschläge, zu denen jeweils mehrere Gruppen gearbeitet haben.

Welche Möglichkeiten der Ergebnispräsentation hätte es unter diesen Voraussetzungen noch gegeben?

► Alle oder mehrere Ergebnisse werden jeweils zu den entsprechenden Arbeitsvorschlägen vorgetragen und dann wird nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden gesucht.

► Die Arbeitsgruppen, die jeweils denselben Arbeitsvorschlag bearbeitet haben, setzen sich zusammen und stellen sich untereinander ihre Ergebnisse vor (also alle Gruppen zu eins, alle zu zwei usf.) und bereiten eine gemeinsame Präsentation vor.

► Es setzen sich Arbeitsgruppen zusammen, die jeweils unterschiedliche Arbeitsvorschläge erarbeitet haben, und präsentieren sich ihre Ergebnisse (als eine Variante des Gruppenpuzzle) gegenseitig.

► Es erfolgt zu den Fragen 1-3 jeweils ein kurzes Brainstorming, ein „Wachrütteln“ aller Schülerinnen und Schüler, und dann die Präsentation durch die Arbeitsgruppen.

Es kann aber in einem 8. Schuljahr davon ausgegangen werden, dass die Situation nicht neu ist, dass alle Beteiligten Erfahrungen mit der Besprechung von Gruppenarbeitsergebnissen haben und der Lehrer mit „würde Vorschlägen“ implizit auf die vorhandenen Routinen zielt. Er kann, was das methodische Setting anbelangt, auf Abkürzungsverfahren setzen.

Insgesamt wird der Eindruck erweckt, dass Lehrer und Schulklasse ein „eingespieltes Team“ sind. Sie haben einen Vorlauf/Vorschub an gemeinsamer Erfahrung und Information. Dass die Schülerinnen und Schüler sich einen aus drei Arbeitsvorschlägen aussuchen konnten, deutet darauf hin, dass allen zugetraut wird, eine Entscheidung zu treffen. Dass sich das weitere Vorgehen an einer ersten Ergebnispräsentation orientieren soll, zeugt auch davon, dass der Lehrer darauf setzen kann, dass ein erstes Ergebnis dies hergibt.

Wie reagieren aber die Schülerinnen und Schüler auf den Verfahrensvorschlag des Lehrers?

Der Lehrer ruft die Schülerin „Clara“ auf, die sich vermutlich gemeldet hat. Clara fragt: „eh auch noch die Frage“. Sie schlägt also kein anderes Verfahren vor, vielmehr scheint sie den Vorschlag des Lehrers zu akzeptieren. Sie will – bevor sie das Ergebnis ihrer Partner- bzw. Gruppenarbeit vorträgt – wissen, ob sie die dazugehörige „Frage“ vorlesen soll und erweist sich damit als didaktisch gewieft. Wird der Lehrer von dem raschen Einlenken der Schülerin überrascht? Er reagiert wenig aufmunternd und belehrt die Schülerin: „natürlich“ soll sie die Frage vorlesen, so als sei dies ohnehin selbstverständlich. Er fügt erklärend hinzu, dass er nicht glaubt, „dass alle andern wissen, welcher Arbeitsvorschlag da gemeint ist“. Entwertet er damit das gewissenhaft vorgebrachte Ansinnen der Schülerin? Bevor die Schülerin fortfahren kann, kündigt der Lehrer einen weiteren Vorschlag an. Die konjunktivische Form der Ankündigung („ich würde auch vorschlagen“) erweist sich nun wirklich als floskelhaft, denn offenkundig liegt auf der Hand, dass „wir bei Arbeitsvorschlag eins das Bild brauchen“. Also es gibt ein Bild (siehe Anhang Q, und daher ist es notwendig, „dass alle das Buch auf Seite hundertfünfundfünfzig aufschlagen“. Alle sollen sich, während die Mitschülerin ihr Ergebnis „vorliest, das Bild dann auch ansehn“. Die Formulierung: „würde vorschlagen“ ist hier von der Form und dem Inhalt seiner Rede her unangemessen. Warum sagt er es dann?

► Handelt es sich um eine Form bemühter Höflichkeit (will er sprachlich direktive Aufforderungen/ Anweisungen vermeiden)?

► Handelt es sich um den Sprachstil des Lehrers (verinnerlichter Sprachstil, Redeform, Habitus)?

► Will er Einzelnen offen halten, sich auch anders zu entscheiden? Dies würde aber bedeuten, dass sie dem Unterrichtsinhalt nicht ohne weiteres folgen können? So betrachtet klingt seine Rede ketzerisch (im Sinne von: Ich schlage dies vor, wer etwas anders vorschlägt bzw. wer das Buch nicht aufschlägt, wird ohnehin nicht bei der Sache sein, wird nicht mitreden können).

► Oder meint er sinngemäß: Ich, an Stelle von Clara, würde vorschlagen?

Deutlich wird doch dies: Bevor es inhaltlich losgehen kann, bevor das Verfahren, das der Lehrer „vorgeschlagen“ hat, umgesetzt werden kann, müssen noch weitere Voraussetzungen erfüllt werden. Das Gruppenarbeitsergebnis soll nicht einfach bloß vorgetragen/präsentiert werden, sondern alle sollen anhand der Abbildung aufmerksam verfolgen, was die Gruppe erarbeitet hat. Jeder soll sich offenbar von dem Ergebnis, anhand des Bildes, selber überzeugen können, alle sollen beteiligt sein, mitdenken (und mitreden können) und sich ein angemessenes Urteil bilden: von dem, was die Schülerin vorträgt, und dem, was das Bild dazu hergibt. Soll sich jeder ein eigenes Bild von dem Bild machen können?

Insgesamt kommt es schnell und zügig zu dem von dem Lehrer vorgeschlagenen Verfahren (Handlungsroutine). Wobei der Lehrer mit seiner wederholten Formulierung „würde vorschlagen“ offenbar bloß zum Schein Entscheidungsfreiheit in Aussicht stellt. Die Schülerinnen und Schüler deuten die Redeform aus ihren Erfahrungen mit dem Lehrer (und der Rahmung Unterricht) heraus wohl als eine rhetorische Figur und gehen daher nicht weiter darauf ein.

Können sie darauf vertrauen, dass der Lehrer schon richtig entschieden hat? Welche Möglichkeiten haben die Schülerinnen und Schüler, um auf das Bild zu reagieren bzw. welche Möglichkeiten werden sie ergreifen? Kehren wir zurück zum Transkript.

Mit freundlicher Genehmigung des Klinkhardt Verlages.
http://www.klinkhardt.de/verlagsprogramm/1278.html

Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.