Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
- „Schule im Kontext sprachlicher und soziokultureller Pluralität: Gruppe 2 – Esra und Leopold“
- „Schule im Kontext sprachlicher und soziokultureller Pluralität: Gruppe 3 – Liv und Lili“
Einleitende Bemerkungen
Zahra, Nour (NI) und Nuriya (N2) besuchen die Sophie-Scholl-Grundschule im A-Bezirk, auf die knapp 85% Schülerinnen mit nichtdeutscher Herkunftssprache gehen. Nour und Nuriya gehen in die gleiche 4. Klasse, Zahra in die 6. Klasse. Alle drei sprechen Zuhause Arabisch. Zwischen den drei Mädchen gibt es damit im Vergleich zu den anderen Gruppendiskussionen die größten Übereinstimmungen. Sie besuchen regelmäßig das Kinder- und Jugendzentrum.
Die Mädchen wollen gerne an der Gruppendiskussion teilnehmen und sind sehr gesprächsbereit. Es gibt fast ununterbrochen schnelle Wechsel der Sprecherinnen, sodass sich die Beiträge häufig überschneiden. Das Gespräch wird stellenweise durch Zahra dominiert, die die längsten Abschnitte spricht und immer wieder die Gesprächsleitung übernimmt. Am wenigstens spricht Nour, die stellenweise um Beachtung kämpft. Die Selbstläufigkeit gelingt überwiegend gut. Zwischendurch gibt es viele Phasen der Selbstdarstellung. Das Gespräch dauert etwa 25 Minuten.
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Erste Beschreibung der Schule [1] [2]
Auf den Eingangsimpuls hin erfolgt als Erstes eine Charakterisierung des Gesamtkollegiums sowie eines einzelnen Lehrers. Damit wird die Beziehung zu den Lehrkräften von Beginn an als besonders relevant gekennzeichnet. Die Gesamtbewertung ist dabei eher positiv, es gibt „viele lehrer“, von denen nur „fünf“ negativ auffallen. Mit Herrn Zapf wird direkt der negative Gegenhorizont einer „schlimmen“ Lehrkraft entworfen. Diese ist gekennzeichnet durch eine Minderung der Intelligenz („sehr krank im Kopf“, „so dumm“) und nicht nachvollziehbarem („was ist das eine logik“), willkürlichem Verhalten, das es den Schülerinnen schwierig macht, sich erwartungsgerecht zu verhalten. Mit dieser Begründung werden im Laufe der Gruppendiskussion weitere Lehrkräfte negativ eingestuft.
Nuriyas Ansatz, den Spitznamen einer Lehrerin wiederzugeben, wird von Zahra abgeblockt („nuriya, lass jetzt“). Anscheinend will sie verhindern, dass Nuriya Wissen preisgibt, das in Zahras Augen nicht öffentlich gemacht werden sollte. Diese Situation wiederholt sich öfter. Zahra versucht an mehreren Stellen, bloßstellende Äußerungen zu verhindern bzw. zu maßregeln.
Beziehung zu den Lehrkräften
An dieser Passage auffällig ist einerseits der univoke Modus zwischen Nour und Nuriya; andererseits die Art und Weise der Bezugnahme auf die Klassenlehrkraft. Zunächst geht es um die Verhandlung zweier gegensätzlicher Meinungen: Aus Nours und Nuriyas Perspektive ist die besprochene Lehrerin ungerecht und autoritär. Zahra hingegen zieht den Wahrheitsgehalt dieser Erzählung in Zweifel, ihrer Erfahrung nach verhält sich die Lehrerin sehr wohl schülerinnenorientiert („sagt nicht pech“). Zahra verschiebt die Diskussion auf Nour und Nuriyas Klassenlehrer[3] und nimmt ihre vorherige Aussage, dass er „eine katastrophe“[4] ist, zurück. Diese prompte Erwiderung von Zahra zuvor lässt darauf schließen, dass die Klassenlehrkraft offensichtlich für die Mädchen eine besondere Bezugsperson darstellt, deren Ansehen man auch gegen andere verteidigt. Das Einlenken nun lässt sich als Angebot lesen, durch die gegenseitige Anerkennung des netten Wesens den Streit beizulegen. Durch den initiierten Themenwechsel lenkt Zahra das Gespräch auf eine dritte Lehrerin und gibt mit einem despektierlichen Kommentar („dieser fisch“[5]) auch den Rahmen vor. Nuriya und Nour nehmen das Angebot an und wenden sich in der Folge Frau Fischer zu (nicht abgedruckt).
Der univoke Modus zwischen Nour und Nuriya zeigt sich im Laufe der gesamten Diskussion. Offenbar machen sie innerhalb ihres Klassenverbandes identische Erfahrungen, aus denen sich kollektive Orientierungen generieren. Diese Orientierungen werden nun mit Zahra, die aus einem anderen Klassenverband stammt, neu verhandelt.
Als Merkmal einer als positiv wahrgenommenen Lehrkraft artikuliert sich hier die Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse der Schülerinnen. Weitere Merkmale kommen zu einem späteren Zeitpunkt zur Sprache, als die Diskussionsleiterin fragt, inwieweit sich die Lehrkräfte für persönliche Angelegenheiten der Schülerinnen interessieren:
Interesse an persönlichen Angelegenheiten wird von den Mädchen positiv bewertet. Für Herrn Thalmann, der beispielhaft genannt wird, sind sie voll des Lobes („der beste, beste lehrer“). Im Unterricht zeigt er zwar durchaus Autorität. Die Bezeichnung „frech“ deutet aber daraufhin, dass es sich dabei um Situationen handelt, die von den Schülerinnen ebenfalls als unangemessen eingestuft werden, sodass seine Reaktion nachvollziehbar ist. Die Bezeichnung von Herrn Thalmann als „beste[n] lehrer“ findet im Folgenden allerdings eine Einschränkung:
Herr Hansen ist mindestens ebenso gut wie Herr Thalmann, wenn nicht sogar „besser“ und zwar deshalb, „weil er der Schulleiter ist“. Dem pflichtet auch Nuriya bei, was angesichts ihrer vorherigen extrem positiven Bewertung von Herrn Thalmann erstaunt. Anscheinend genießt Herr Hansen aufgrund seiner Position als Schulleiter einen Sonderstatus.
Im Folgenden elaboriert Zahra ihre Einschätzung, indem sie ein Beispiel für sein Verhalten gibt: Vor Kurzem war Herr Hansen bei ihr zuhause und hat dort arabischen Kaffee getrunken. Das dadurch entgegengebrachte Interesse an Zahras Lebensumfeld wird somit auch hier positiv gesehen. Ihre Betonung, dass er „arabische[n] kaffee“ getrunken hat, lässt darauf schließen, dass sie dies für eine besondere Situation hält. Herr Hansen lässt sich an dieser Stelle auf den Lebensstil der Familie ein, der von seinem eigenen vermutlich abweicht. Dass er „immer mehr“ wollte, betont seine Wertschätzung zusätzlich. Zugleich wird dadurch verdeutlicht, dass er sich aus Zahras Perspektive bei ihr zuhause wohlgefühlt hat, denn die Aussage deutet auf einen längeren Aufenthalt hin.
Als Kinder, deren Familien früher aus verschiedenen Ländern nach Deutschland gekommen sind, werden von der Gruppe ausschließlich Kinder benannt, die erst seit Kurzem in Deutschland leben. Kinder aus der sogenannten 2. oder 3. Generation werden hingegen nicht berücksichtigt. Die Relevanz des Themas wird daran festgemacht, dass die Kinder aufgrund fehlender Vorerfahrung den schulischen Anforderungen nicht gerecht werden können. Dies bezieht sich einerseits auf angemessenes schulisches Verhalten als solches, andererseits auf fehlende Deutschkenntnisse. Dahinter steht offensichtlich eine Normalitätsvorstellung, welches Wissen und welche Sprachkenntnisse Schülerinnen haben sollten. Die neu angekommenen Kinder werden einzig daran gemessen. Welche Kenntnisse sie mitbringen, wird hingegen nicht thematisiert. Gleichzeitig markieren die Mädchen hier eine deutliche Differenz zu sich selbst: Sie erfüllen diese Vorstellung so gut, dass sie sogar gebeten werden, die neu angekommenen Kinder einzuweisen. Der DaZ-Unterricht wird in diesem Zusammenhang als primär für Kinder mit keinerlei Vorkenntnissen im Deutschen wahrgenommen. In der sich direkt anschließenden Passage geht es um die Kinder, die vor Kurzem aus Bulgarien gekommen sind:
Die kurze Passage zeigt, dass es innerhalb der Schule unter den Schülerinnen Ressentiments aufgrund der Herkunft zu geben scheint. In den Äußerungen dokumentiert sich ein Gefühl der Fremdheit und stellenweise der Ablehnung. Auch wenn nicht alles akustisch gut zu verstehen ist, wird dennoch schon an ihrem schroffen Tonfall deutlich, dass sich Nour in abfälliger Weise über die Namen der Kinder äußert. Nuriya versucht die Situation zu klären, indem sie die Namen mit der Herkunft der Kinder in Verbindung bringt. Sie vollzieht dabei eine klare ethnische[6] Abgrenzung zwischen diesen Kindern und der eigenen Gruppe und verdeutlicht dadurch die wahrgenommene Distanz. Diese ethnische Zuschreibung scheint ein wichtiges Differenzierungsmerkmal zwischen den Schülerinnen zu sein, die von keinem der Mädchen infrage gestellt wird.
Zahra lehnt die abwertenden Aussagen ab. In ihrer Begründung (Z. 103f.) steckt einerseits ein Perspektivwechsel: Aus Sicht der bulgarischen Kinder ist ihre Sprache, Arabisch, vermutlich ebenso ungewöhnlich wie umgekehrt. Andererseits lässt sich auch die Befürchtung erkennen, selbst diskriminierende Erfahrungen zu machen.
Es schließt sich folgende Passage an:
Das uneindeutige „das“ in der Frage der Diskussionsleiterin wird von den Mädchen verstanden als Situation, dass Kinder neu nach Deutschland und an ihre Schule kommen. Diese wird von ihnen einhellig negativ bewertet. Sich daraus möglicherweise ergebende Vorteile scheint es für sie nicht zu geben. Die Begründungen sind allerdings unterschiedlich. Nuriya orientiert sich an ihrem persönlichen Wohlbefinden in der Schule, das sie durch die neuen Kinder eingeschränkt sieht. Die zuvor beschriebene Haltung der Distanz lässt sich im Klassenraum auf körperlicher Ebene nicht einhalten: Als ihre Sitznachbarin überschreitet das Mädchen offenbar die Grenze des für Nuriya Aushaltbaren. Die zuvor ausgemachten Ressentiments zeigen sich hier also wieder. Zahra versucht wiederum, abwertende Aussagen zu verhindern, indem sie ihre Relevanz in Zweifel zieht. Ihre eigene Begründung zeigt wieder die zuvor ausgemachte Orientierung an den schulischen Anforderungen, denen die Kinder aufgrund ihrer mangelnden Deutschkenntnisse nicht gerecht werden können[7].
Präsenz im Schulalltag
In der Wahrnehmung der Präsenz religiöser Feste an der Schule zeigt sich eine kollektive Orientierung, die die Thematisierung sowohl unter den Schülerinnen als auch vonseiten der Lehrkräfte negativ bewertet. Dies wird sowohl an der distanzierten Haltung, einer extrem parodierenden Sprechweise als auch an konkreten abfälligen Kommentaren sichtbar. Dies scheint daran zu liegen, dass Schülerinnen wie Lehrkräfte ausschließlich von sich selbst erzählen. Ein gemeinsamer Austausch oder Unterrichtsinhalt, der über das persönliche Erleben hinausgeht, scheint nicht zu erfolgen. Die Einschränkung „nur“ (Z. 135) lässt jedoch darauf schließen, dass eine Thematisierung darüber hinaus für die Mädchen denkbar und vermutlich auch wünschenswert wäre. Auffällig ist, dass hier nicht zwischen verschiedenen Lehrkräften differenziert wird, die, wie gezeigt, ansonsten immer individuell besprochen werden. Herausragende positive Gegenbilder scheint es nicht zu geben.
Umgang mit Mehrsprachigkeit
Der Umgang mit Sprachkenntnissen neu hinzu gekommener Schülerinnen wurde bereits zu Beginn des vorherigen Kapitels thematisiert. Wie ausgeführt, werden ausschließlich die als unzureichend eingestuften Deutschkenntnisse als relevant markiert. Die bulgarische Herkunftssprache der Kinder wird nur in abwertender Weise kommentiert.
Die Präsenz der deutschen Sprache an der Schule wird später vertieft:
Zahra erzählt zunächst einen Vorfall, bei dem ein Junge von ihrem Lehrer eine Verwarnung bekommt, weil er trotz Aufforderung nicht in die deutsche Sprache wechselt. Es dokumentieren sich sowohl Kritik am Verhalten des Lehrers als auch am Verhalten des Mitschülers. Der Lehrer reagiert nach Zahras Einschätzung in übertriebener Weise („direkt eine Verwarnung gegeben“). Der Junge hätte allerdings die Möglichkeit gehabt, dies durch einen Sprachwechsel zu verhindern. Dass er dies nicht getan hat, deutet für Zahra auf eine Minderung seiner Intelligenz hin. Weiterhin die Herkunftssprache zu sprechen, obwohl dadurch schulische Nachteile entstehen, ist also unklug.
Die sich daran anschließende Passage scheint im Widerspruch dazu zu stehen. Die Frage der Diskussionsleiterin nach einer Regel, im Unterricht nur Deutsch zu sprechen, wird direkt und deutlich von allen dreien bejaht. Diese Regel hat für sie allerdings keine Gültigkeit, sie wird komplett abgelehnt und ihre Legitimität zurückgewiesen („das geht wohl gar nicht“). Dass das Sprechen der eigenen Herkunftssprache für die Schülerinnen eine nicht zu verbietende Normalität darstellt, zeigt sich auch deutlich in der Beschreibung der Lehrkräfte: Dass diese auf einer aus Perspektive der Mädchen offenkundig unangemessenen Regel bestehen, lässt Zweifel an ihrem Geisteszustand aufkommen. Die Mädchen erleben die Regel ausschließlich als im Interesse der Lehrkräfte, die dadurch die Gesprächsthemen besser kontrollieren können. Die Heftigkeit, mit der die Diskussion betrieben wird, zeigt, dass es sich um ein Thema handelt, dass für sie sehr präsent und emotional aufgeladen ist.
An dieser Passage fallen zwei Aspekte besonders auf. Zum einen ist Wahrnehmung und Einschätzung der Situation durch die drei Mädchen absolut identisch. Offenkundig handelt es sich hier um eine jahrgangsübergreifende Orientierung. Der Eindruck wird durch das verwendete „wir“ verstärkt, mit dem die Schülerinnenschaft den Lehrkräften gegenübergestellt wird. Zum anderen fällt auf, dass die Lehrkräfte hier als eine Gruppe erscheinen, deren Haltung in diesem Aspekt absolut abzulehnen ist. Falls es Lehrkräfte gibt, die diese Regel nicht durchsetzen, scheinen sie für die Mädchen kein Gewicht zu haben.
Nach einem kurzen Themenwechsel kommt Zahra auf das Deutschgebot zurück:
Das Deutschgebot begründet sich also nach Zahras Erzählung im Verhalten eines Einzelnen, der in einer für nicht alle verständlichen Sprache schlecht über andere Kinder gesprochen hat.
Im Anschluss dokumentiert sich hier die gleiche Haltung wie zuvor: Zahras „das ist so“ ist mehr als nur eine Bestätigung von Nuriyas Aussage. Die Betonung lässt eher darauf schließen, dass auch sie hier wieder betont, dass es sich beim Sprechen der eigenen Herkunftsspräche um eine nicht zu ändernde Tatsache handelt.
Im dann folgenden Beispiel wechselt die Perspektive auf den Umgang mit der Herkunftssprache in Bezug auf die Eltern. In Zahras Erzählung dokumentiert sich Ärger über verschiedene Aspekte. Zunächst versuchen Mutter und Tochter hier gemeinsam, sich den Sinn der Worte des Lehrers zu erschließen, die offensichtlich nicht ihrem Deutschsprachniveau angepasst sind. Die Kommunikation zwischen den beiden dient also mitnichten dem privaten Austausch, sondern dem besseren Verständnis des Lehrers. Dieses von vornherein asymmetrische Verhältnis wird durch die Reaktion des Lehrers noch verstärkt: Er begegnet Zahras Mutter nicht auf Augenhöhe, sondern verweist sie eher in die Rolle einer Schülerin, die sich seinen Anweisungen widersetzt. Damit wird die Schule auch den Eltern gegenüber als monolingualer Raum markiert, in dem andere Sprachen unterbunden werden. Nuriyas Reaktion zeigt, dass sie den Vorfall für plausibel hält. In ihrer heftigen Aussage („die sollen jetzt mal ihre fresse halten“) verdeutlicht sich ihr Ärger. Die Passage macht deutlich, dass die Mädchen in Bezug auf ihre Eltern ein Verbot der Herkunftssprache für noch unangemessener und „respektloser“ halten als in Bezug auf sich selbst.
Betrachtet man die in diesem Kapitel diskutierten Passagen im Zusammenhang, wird deutlich, dass hier zwei Orientierungen miteinander konkurrieren. Die Mädchen weisen die Legitimität eines Verbots von Herkunftssprachen klar zurück. Für sie steht außer Frage, dass das Sprechen ihrer Herkunftssprache ihr gutes Recht ist und eine derartige Regel so unangemessen, dass sie eigentlich nicht beachtet werden muss. In der Beschreibung der neu hinzugekommenen Kinder sowie der Erzählung aus Zahras Klasse dokumentiert sich aber noch eine weitere Orientierung: Um eine erfolgreiche Schullaufbahn zu absolvieren, müssen bestimmte schulische Anforderungen eingehalten werden. Aufgrund des Deutschgebots stehen diese beiden Orientierungen in Konkurrenz zueinander. Trotz der Heftigkeit, mit der die Mädchen das Deutschgebot kritisieren, ist allerdings anzunehmen, dass sie sich ihm im Zweifelsfall nicht widersetzen. Ärger oder Strafmaßnahmen zu riskieren wäre im Hinblick auf die weitere Schullaufbahn unklug.
Zusammenfassung
Als relevanter Faktor für das positive oder negative Erleben des Schulbesuchs wird von der Gruppe die Beziehung zu ihren Lehrkräften herausgestellt. Insbesondere die Klassenlehrkräfte und der Schulleiter werden als wichtige Bezugspersonen deutlich. In den Aussagen dokumentiert sich einerseits eine Orientierung an einer Berücksichtigung der Bedürfnisse der Schülerinnen und ihrer individuellen Person. Andererseits wird auch eine Orientierung an schulischen Anforderungen deutlich. Die von Nuriya geschilderte Episode zu Beginn zeigt deutlich, dass von der Gruppe solche Lehrkräfte negativ eingestuft werden, deren willkürliches Verhalten es den Schülerinnen trotz Leistungsbereitschaft erschwert, sich schulkonform zu verhalten.
Der Umgang mit soziokultureller und sprachlicher Pluralität wird erst auf Nachfrage von der Gruppe besprochen. Vonseiten der Schule scheint das Thema insgesamt eher wenig Aufmerksamkeit zu erfahren. Für die Gruppe selbst ist es im Schulalltag allerdings durchaus relevant. Durch Selbst- und Fremdethnisierung erfolgt eine klare Abgrenzung zwischen ihnen selbst und den neu hinzugekommenen Mitschülerinnen, mit der zumindest bei Nour und Nuriya starke Ressentiments einhergehen.
Die Orientierung an schulischen Anforderungen zeigt sich auch daran, dass die neu hinzugekommenen Mitschülerinnen ausschließlich aus einer Defizitperspektive beschrieben werden. Dadurch kann die Gruppe ihre eigene Position wiederum stärken. Neben der Abgrenzung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit erfolgt also auch eine aufgrund des wahrgenommenen Leistungsunterschiedes.
Die Diskussion über Mehrsprachigkeit macht deutlich, dass vor allem die Einschränkung im Gebrauch ihrer Herkunftssprache für die Gruppe eine große Relevanz im Schulalltag hat. Das Sprechen der eigenen Herkunftssprache sehen die Mädchen als ihr gutes Recht an. Dass darüber erst auf Nachfrage gesprochen wird, mag daran liegen, dass dies für die Gruppe kein Differenzierungsmerkmal zu anderen Schulen darstellt und sie eine Erwähnung daher nicht für notwendig halten. Trotz der heftigen Kritik ist allerdings davon auszugehen, dass sich die Mädchen im Zweifelsfall an das Deutschgebot halten werden, um negative Folgen für ihre Schullaufbahn zu verhindern.
Damit mag auch Zusammenhängen, dass die Gruppe trotz der heftigen Zurückweisung des Verbots und der deutlichen Kritik am Verhalten der Lehrkräfte, diese ansonsten insgesamt eher positiv einschätzt. Da die Mädchen grundsätzlich Interesse an einer positiven Beziehung zu den Lehrkräften haben und daran, nicht negativ aufzufallen, treten bei der individuellen Beurteilung andere Aspekte stärker in den Vordergrund. Da das Deutschgebot ohnehin von allen Lehrkräften gleichermaßen durchgesetzt zu werden scheint, bietet es diesbezüglich auch kein Differenzierungspotential.
Die Abweichungen zwischen Nour und Nuriya auf der einen Seite und Zahra auf der anderen Seite lassen einerseits darauf schließen, dass der Klassenverband bei der Genese schulbezogener Orientierungen eine relevantere Rolle spielt als die Schulzugehörigkeit oder der Kontakt außerhalb der Schule. Andererseits zeigt sich hier unter Umständen auch ein altersbedingter Unterschied. Es ist denkbar, dass Zahra aufgrund ihres Alters eine reflektierte Haltung einnimmt und sich auch innerhalb der Diskussionssituation in der Verantwortung sieht, bloßstellende Aussagen zu unterbinden.
Fußnoten:
[1] Die Wiedergabe der Gesprächsabschnitte folgt der Originaltranskription mit folgenden Ausnahmen: ln allen Gruppendiskussionen gab es Unterbrechungen durch Dritte oder Anrufe, teilweise sprangen die Gruppen auch zwischen Themen hin und her oder besprachen zwischendurch tagesaktuelle Ereignisse. In der Wiedergabe der Passagen habe ich solche Stellen als [Unterbrechung] markiert. Darüber hinaus habe ich einzelne Stellen, insbesondere Wiederholungen in Erzählungen einer Einzelnen, gekürzt und durch […] ersetzt.
[2] Die Zeilenangaben entsprechen nicht den Zeilenangaben im Transkript, sondern dienen dazu, sich im Rahmen der Diskussion gezielt auf Zeilen beziehen zu können.
[3] Dass es sich bei Herrn Thalmann um Nours und Nuriyas Klassenlehrer handelt, wird an späterer Stelle deutlich.
[4] Obwohl Herr Thalmanns Name an dieser Stelle (Z. 28) nicht genannt wird, ist es plausibel, davon auszugehen, dass sich der Kommentar auf ihn bezieht.
[5] Der Grad der Herabsetzung durch das Wortspiel mit dem Klarnamen ist meiner Einschätzung nach ähnlich.
[6] Wie bereits in Kapitel II. 1 erwähnt, handelt es sich bei der Kategorie der Ethnizität nicht um eine natürlich gegebene, sondern um ein in Interaktionen hergestelltes soziales Konstrukt. Wenn ich im Folgenden von „ethnischer Zugehörigkeit“ spreche, beziehe ich mich damit immer auf die Perspektive der jeweiligen Mädchengruppe.
[7] Zahra verwendet die Bezeichnung „weniger schlecht“ in der Gruppendiskussion mehrfach; aus den jeweiligen Kontexten ist es plausibel zu schließen, dass sie damit schlecht meint.
[8] Parallel macht Zahra eine Handbewegung, die sich als „nicht ganz richtig im Kopf“ deuten lässt.
Mit freundlicher Genehmigung des Logos-Verlages. http://www.logos-verlag.de/cgi-bin/engbuchmid?isbn=3777&lng=deu&id=Nutzungsbedingungen:
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