Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

In einer 3. Grundschulklasse erzählt die Lehrerin von Mose. Mose hat einen ägyptischen Aufseher getötet, aber die Tötung bleibt nicht unbeobachtet. Mose muss nach Midian fliehen und hütet die Schafe. Eine Schülerin meldet sich.[1]

1. L: Marie, kannst du dich erinnern?
2. M: Nein, em aber ich hab ne Frage.
3. L: Ja.

  1. Durch Melden signalisiert Marie, dass sie etwas sagen möchte. Die Lehrkraft unterbricht nach einiger Zeit ihre Erzählung und adressiert Marie, indem sie sie mit Namen anspricht. Mit ihrer Frage „Marie, erinnerst du dich?“ adressiert sie die Schülerin als eine Person, bei der man damit rechnen kann, dass sie die biblische Mosegeschichte bereits kennt. Möchte die Lehrkraft, dass Marie jetzt weitererzählt? Möchte sie Marie die Gelegenheit geben, vor den anderen Kindern zu bestätigen, dass sie die Geschichte kennt? Jedenfalls markiert die Lehrkraft das Kennen der biblischen Mosegeschichte als anerkennbare Norm. Sie unterstellt, dass Marie gemäß dieser anerkennbaren Norm zu erkennen geben möchte, dass sie die Geschichte schon kennt. Die Lehrkraft markiert damit auch eine mögliche Differenz zwischen Marie und den (meisten) anderen Kindern. Denn wenn sie davon ausgehen würde, dass die Mosegeschichte allen Schülerinnen und Schülern bereits bekannt wäre, müsste sie sie nicht erzählen. Sie macht Marie dadurch zu einer (potenziellen) Expertin in Sachen Mose.
  2. Marie reagiert ablehnend: „Nein, em aber ich hab ne Frage.“ Worauf bezieht sich die Ablehnung? Möglicherweise weist Marie die Unterstellung zurück, dass sie die Mosegeschichte bereits kenne. Vielleicht weist sie aber auch die Unterstellung zurück, sie habe ihre Kenntnis der Moseerzählung vor der Klasse kundtun wollen. Dann würde sich zeigen, dass die Norm des „besser Informiertseins“ zweischneidig ist. Was in den Augen der Lehrkraft positive Anerkennung findet, könnte von der Klasse als „Strebertum“ wahrgenommen werden. Mit ihrer Äußerung negiert Marie die Differenz zwischen sich und der übrigen Klasse, die die Lehrkraft markiert hatte: Ihr geht es nicht darum, ob bzw. dass sie die Geschichte schon kennt, sondern sie hat eine Frage. Damit steuert sie das Gespräch in eine neue thematische Richtung – ohne gleich zu erkennen zu geben, welche Richtung das ist. Da Marie die ganze Zeit ausschließlich die Lehrerin ansieht, während sie spricht, gibt sie zu erkennen, dass sich ihre Frage an die Lehrkraft richtet. Damit schreibt sie ihr – und nicht etwa sich selbst – die Rolle der Expertin zu. Marie formuliert aber nicht direkt ihre Frage, sondern sie wartet auf die Reaktion der Lehrerin: Wird sie ihrer Frage – obwohl sie offenbar nicht mit einer Frage gerechnet hatte – Raum geben?
  3. Welche Anschlussmöglichkeiten eröffnen sich nun der Lehrerin? Sie könnte den Versuch Maries, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, zurückweisen (etwa durch ein: „Das passt jetzt gerade schlecht“ o.Ä.). Aber sie hat Marie zu einem gewissen Maß bereits zugestanden, auf die Themensteuerung einzuwirken. Schließlich hat sie sich ja unterbrochen, um Marie dranzunehmen. Außerdem hat sie Marie gerade vor den anderen eine hohe Kompetenz zugeschrieben – muss sie ihr da nicht auch zugestehen, dass ihre Frage „wichtig“ genug ist? Mit ihrem „Ja“ lässt sich die Lehrkraft auf die Themensteuerung durch Marie ein.

Vergleichen wir diese kleine Szene nun mit einer anderen, die in gewisser Hinsicht Ähnlichkeiten aufweist. Die Szene stammt aus derselben Unterrichtsstunde. Zwischen beiden Szenen liegen wenige Minuten.

Die Lehrkraft erzählt, wie Mose sich dem brennenden Dornbusch nähert. Ein Schüler wird bei der Rede vom brennenden Dornbusch plötzlich aufmerksam, er lehnt sich vor und beginnt, sich „eindringlich“ zu melden. Schließlich, bevor es zur Gottesrede kommt, nimmt die Lehrkraft ihn dran.

1. L: Und als er nich ein bisschenr dichter dran kam, hörte er aus dem Busch eine Stimme, die zu ihm sprach, Marvin.
2. Marvin: Die Geschichte kenn ich. Wir haben zu Hause ’ne Bibel und da steht genau die Geschichte auch drin.
3. L: Genau, die ist ja auch aus der Bibel.

  1. Wie in der ersten Szene geht es um das Kennen von biblischen Geschichten. Marvin hat wenige Minuten zuvor erlebt, dass das Kennen der Mosegeschichte eine anerkennbare Norm darstellt. Nachdem die Klasse sich schon seit zwei Unterrichtsstunden mit der Moseerzählung beschäftigt, fällt Marvin angesichts des markanten Motivs vom brennenden Dornbusch ein, dass er die Geschichte kennt. Das möchte er unbedingt mitteilen. Er wartet aber (ungeduldig) ab, bis die Lehrkraft ihn drannimmt.
  2. Marvin formuliert nun explizit, dass er die Geschichte kennt – was die Lehrkraft vorher Marie unterstellt hatte. Möchte Marvin weitererzählen? Oder wollte er sich „nur“ als Kenner der Geschichte präsentieren? Er richtet seine Aussage an die Lehrkraft, weiß aber natürlich, dass die anderen Kinder „mithören“. Insofern markiert er vor den anderen Kindern eine Differenz zu ihnen – er hätte ja auch nach dem Unterricht zur Lehrerin gehen können, um ihr zu sagen, dass er die Geschichte kennt. Er gibt auch an, woher er die Geschichte kennt: von zu Hause. Dort haben sie eine Bibel. Die Äußerung lässt vermuten, dass Marvin bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht klar war, dass es bei Mose um eine biblische Figur geht. Viel-leicht nimmt er auch an, dass es die Mosegeschichte öfter gibt, u.a. eben auch in der Bibel („da steht die Geschichte auch drin“). Die Lehrkraft benutzt beim Erzählen in der Tat keine Bibel, sondern hat einen Zettel in der Hand, der ihr als Stütze für das freie Erzählen dient. Die Materialität der Erzählung ist also sowohl hinsichtlich des akustisch wahrnehmbaren Wortlautes als auch hinsichtlich der optisch wahrnehmbaren Textgrundlage (Buch oder Zettel) eine jeweils andere. „Die“ Mosegeschichte zerfällt in unterschiedliche Realisierungsformen – und zwar in solchem Maß, dass Marvin erst zu einem sehr späten Zeitpunkt eine Identifikation beider Formen zu ein und derselben Geschichte vornimmt.
  3. In ihrer knappen Kommentierung geht die Lehrkraft nur auf die Verortung der Geschichte in der Bibel ein, nicht aber auf den Umstand, dass Marvin die Geschichte kennt. Ein anerkennendes „Erinnerst du dich?“ fehlt hier. Damit erscheint das Kennen der Geschichte in dieser Situation nicht als anerkennbare Norm. Marvin wird auch keine Experten-rolle zugeschrieben. Die Lehrkraft erzählt selbst weiter.

Ertrag

In beiden Szenen geht es um die Frage des Kennens oder Nicht-Kennens der Mosegeschichte. Es geht also um relevantes Vorwissen, und zwar in einer vergleichsweise simplen Form: dem Kennen oder Nicht-Kennen einer bestimmten Er-zählung. Eine genauere Analyse der zweiten Szene zeigt allerdings, dass schon diese Alternative zu kurz greift. Marvin kennt eigentlich die Geschichte, merkt es aber erst sehr spät, weil er die Erzählung in einem anderen sozialen Feld (Familie) und in einer anderen Materialität (Bibel) kennengelernt hat. Er kann also sein – eigentlich einschlägiges – Vorwissen erst zu einem späten Zeitpunkt für den Unterricht fruchtbar machen. Die Mosegeschichte ist eben keine „Sache“, die man hat/ kennt oder nicht hat/ nicht kennt, sondern sie konstituiert sich auf je unterschiedliche Art und Weise. Hier wird deutlich, dass sich die Möglichkeit der Wissensaktivierung komplex gestaltet und von vielen Faktoren abhängt.

Beim Kennen bzw. Nicht-Kennen handelt es sich also nur zum Teil um eine vorgängige Differenz, die in den Unterricht hineingetragen wird. Bei Marie erfahren wir gar nicht, ob sie nun die Mosegeschichte bereits kennt oder nicht. Marvin erinnert sich erst recht spät. Hier nun kommt der praxeologische Ansatz zum Tragen: Im Fokus steht nicht die Frage, wer aus der Klasse die Erzählung bereits kennt, und wie die Lehrkraft mit dieser vorgängigen Differenz von Kennen und Nicht-Kennen umgeht, sondern die Frage, ob bzw. wie die Differenz von Kennen und Nicht-Kennen im Unterricht qua Adressierung hergestellt und mit Bedeutung versehen wird. Hier zeigt sich durchaus Überraschendes. Eigentlich liegt die Annahme nahe: Wer zu erkennen gibt, dass er über einschlägiges Vorwissen verfügt, dem wird eine Expertenrolle zugeschrieben. Schon die zwei kleinen Szenen zeigen jedoch, dass die Zuschreibungsprozesse viel komplexer sind. Die Lehrkraft schreibt Marie eine Expertenrolle zu, indem sie ihr unterstellt, die Geschichte zu kennen. Das Kennen der Geschichte wird damit zur anerkennbaren Norm deklariert. Ob diese Unterstellung „zu Recht“ erfolgt oder nicht, können wir nicht entscheiden. Jedenfalls weist Marie die Zuschreibung und damit auch die Expertenrolle zurück. Die Differenz zwischen Marie und der übrigen Klasse, die die Lehrkraft markiert hatte, akzeptiert Marie nicht. Ganz anders Marvin: Er gibt von sich aus zu erkennen, dass er über einschlägiges Vorwissen verfügt. Ihm ist es wichtig, dass die Lehrkraft – und die Klasse – darum wissen. Er markiert also seinerseits eine (für ihn) bedeutungsvolle Differenz. Das bringt ihm aber keine (positive) Anerkennung ein. Ei-ne Expertenrolle erhält er von der Lehrkraft nicht. In dieser Situation scheint das Kennen der Geschichte keine anerkennbare Norm zu sein. Die Lehrkraft geht in ihrer Erwiderung lediglich auf den Sachaspekt ein: Ja, die Geschichte stammt aus der Bibel. Marie und Marvin werden also – wahrscheinlich ohne dass die Lehrkraft dies beabsichtigt – im Zuge der Themen-konstitution unterschiedliche Subjektpositionen zugeschrieben (und andere verwehrt).

Ausblick

Weiterführende Analysen könnten nun Aufschluss darüber geben, ob sich diese Zuschreibungsprozesse wiederholen und Muster ausbilden. Wie kommt es dazu, dass Marie eine Expertenrolle zugeschrieben wird? In welchen anderen Situationen geschieht das ebenfalls? Wie verhält Marie sich in anderen Situationen zu diesen Zuschreibungen? In welchen Situationen wird Marvin eine Expertenrolle verwehrt? Wiederholen sich diese Muster in anderen Fächern oder kommt es dort zu Verschiebungen? Welche weiteren Differenzen spielen jeweils eine Rolle? Etc.

Analysen dieser Art liefern keine unmittelbaren Handlungsempfehlungen. Es wäre naiv, angesichts derartiger Analysen die „Gleichbehandlung“ zu fordern. Sie können aber den Blick für Zuschreibungsprozesse schärfen, die unvermeidbar sind und durch die bedeutungsvolle Differenzen im Zuge der Themenkonstitution hergestellt werden. Dieser geschärfte Blick kann dann – in einem zweiten Schritt – auch für die Diskussion um den Umgang mit vorgängiger (religiöser, kognitiver, etc.) Heterogenität fruchtbar gemacht werden.

Fußnote:

[1] Eine umfassendere Analyse der Unterrichts-stunde in primär fachdidaktischer Perspektive findet sich in Hanna Roose, „War das wirklich so?“ Mose im Religionsunterricht der Grundschule: Zwischen Tatsachenbericht und fiktiver Erzählung, in: Gerhard Büttner / Elisabeth Schwarz (Hg.), Theologie für Kinder, Jahrbuch für Kindertheologie, Stuttgart 2013 (im Erscheinen).

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