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Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die Geschlechtszugehörigkeit der Schülerinnen und Schüler wird von Lehrkräften in der Form hervorgehoben, dass sie zum Einen stereotype Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit sichtbar werden lassen, zum Anderen mit Geschlechterdifferenzen in ritualisierter Art und Weise umgehen. Dies wird anhand zweier Fälle erläutert.

Stereotypisieren

Stereotype können als verallgemeinerte Annahmen über die Eigenschaften einer bestimmten Gruppe verstanden werden. Umgekehrt aktivieren diese Eigenschaften die dazugehörigen Stereotype und beeinflussen die Wahrnehmung mit der Folge, dass eine Person Mitglied einer Gruppe und nicht als Individuum betrachtet wird. „Stereotype wirken sich auf unsere Wahrnehmung aus und formen soziale Interaktionen“ (Hirschauer & Kulimann, 2010, S. 353).

Im Sportunterricht einer 4. Klasse (8 Mädchen, 7 Jungen) lässt die Lehrerin Frau P. Völkerball spielen. Vor Beginn des Spiels kündigt sie an, dieses bei Bedarf zu unterbrechen, um bestimmtes Spielverhalten zu thematisieren.

Yvonne befindet sich mit einigen anderen Schülerinnen im Innenfeld und wirft den Ball aus der Mitte des Feldes in das gegnerische Innenfeld, ohne jemanden zu treffen. Frau P. unterbricht das Spiel und fordert alle Schülerinnen dazu auf, sich vor dem Abwurf in Richtung des gegnerischen Feldes zu bewegen, um aus einer besseren Position zu werfen. Nachdem Yvonne erneut aus der Mitte des Feldes wirft, unterbricht sie das Spiel nochmals und fragt die Schülerin: „Kannst du mir erklären, warum ihr immer noch aus dieser Position werft? (Hervorh. J. F.)“

Die Unterbrechung des Spiels ist zunächst einmal sachlich nachvollziehbar. Frau P. gibt den taktischen Hinweis, aus einer möglichst vorteilhaften Position zu versuchen, Spielerinnen und Spieler aus dem gegnerischen Feld abzuwerfen, um die eigene Mannschaft zum Erfolg zu führen. Allerdings kommuniziert sie ihren Hinweis nicht als individuelle Korrektur der Spielhandlung von Yvonne, sondern unterstellt allen Mädchen, aus einer größeren Distanz nicht zielgenau werfen zu können. Zudem erwartet sie von Yvonne als Repräsentantin ihrer Geschlechtergruppe, verallgemeinernd für alle Schülerinnen Stellung zu nehmen. Es wird deutlich, dass Frau P. die mitspielenden Mädchen nicht als einzelne Individuen betrachtet, sondern als Angehörige einer Gruppe von Mädchen, deren Wurfkompetenz nicht ausreicht, um aus der Mitte des Spielfeldes Kinder in der gegnerischen Hälfte abzuwerfen.

Ritualisieren

Rituale sind ein unverzichtbarer Bestandteil des Sportunterrichts und sorgen in vielen Fällen für einen zeitsparenden und reibungslosen Ablauf. Im koedukativen Sportunterricht finden sich Rituale mit Bezug zur Geschlechterdifferenz z. B. in Formen der Gruppenbildung, in denen die Vorgabe gemacht wird, dass die Anzahl der Mädchen und Jungen in einer Gruppe gleich sein soll. In einer Stunde zum Ringen und Raufen soll in einer 4. Klasse (13 Mädchen, 8 Jungen) nach einem Stationsbetrieb Tauziehen den Abschluss der Stunde bilden.

Als Abschlussspiel kündigt Frau K. Tauziehen an. Als direkte Reaktion darauf rufen Jungen und Mädchen der Klasse, „Ja, Jungen gegen Mädchen!“. Ohne darauf zu reagieren bildet Frau K. selber zwei Mannschaften, die jeweils die gleiche Anzahl von Jungen und Mädchen aufweisen. In zwei Durchläufen gewinnt beide Male die gleiche Mannschaft. Der Abschlusskommentar von Frau K. lautet: „Beide Mannschaften waren prima!“.

Die Schülerinnen und Schüler fordern den direkten Vergleich von Mädchen und Jungen ein, doch Frau K. ignoriert den Wunsch und lehnt ihn ab, indem sie ein anderes Verfahren der Gruppenbildung initiiert. Es kann vermutet werden, dass sie bei einem Kräftemessen zwischen geschlechtshomogenen Gruppen ungleiche Gewinnchancen erwartet, denn die von ihr zusammengestellten Gruppen bestehen aus jeweils der gleichen Anzahl Mädchen und Jungen. Frau K. betont damit die Geschlechterdifferenz. Von diesem offensichtlich bekannten Vorgehen verspricht sie sich wohl Chancengleichheit, doch das Ergebnis widerspricht der Erwartung und fällt zweimal zugunsten der gleichen Gruppe aus. Dennoch hält die Lehrerin an dem Wunsch fest, beide Teams mögen gleichstark sein (wie im Abschlusskommentar deutlich wird). Wenn die Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht in Ritualen wie dem beschriebenen der Gruppenbildung erstarrt, ist trotz des vermutlich dahinter stehenden Bestrebens der Lehrkraft nach Chancengleichheit (oder Geschlechtergerechtigkeit) kein reflexiver Umgang mit Geschlechterdifferenzen erkennbar.

Verpasste Chance des Reflektierens

In dem beschriebenen Sportunterricht hätte es durchaus die Chance gegeben, das Geschlechterverhältnis zu thematisieren: Wenn etwa dem Wunsch „Jungen gegen Mädchen“ stattgegeben worden wäre und angesichts der Überzahl der Mädchen (13 zu 8!) ein Gewinnen derselben wahrscheinlich geworden wäre, hätte dies zum Anlass genommen werden können, über Krafthaben und Überlegenheitsansprüche zu sprechen. Ein solches Reflektieren wäre in einem reflexiv koedukativen Sportunterricht zu erwarten gewesen, konnte jedoch in keinem der Fälle ausgemacht werden.

Literaturangabe:

Hirschauer, M. & Kullmann, H. (2010). Lehrerprofessionalität im Zeichen von Heterogenität – Stereotype bei Lehrkräften als kollegial zu bearbeitende Herausforderung. In J. Hagedorn, V. Schürt, C. Steber, W. Waburg (Hrsg.), Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule (S. 351-374). Wiesbaden: VS.

Mit freundlicher Genehmigung des Czwalina-Verlages.
http://www.feldhausverlag.de/shop/EDITION-CZWALINA-Sportwissenschaft/Schriften-der-Deutschen-Vereinigung-fuer-Sportwissenschaft/Geschlecht-und-bewegungsbezogene-Bildung-sforschung::2978.html

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