Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Bülent ist der einzige Jugendliche aus seiner Klasse, der an einer Gedenkstättenfahrt nach Theresienstadt teilnimmt, die während der Schulferien stattfindet. Ich lerne ihn vermittelt durch die Veranstalter der Gedenkstättenfahrt kennen. Er ist zum Zeitpunkt des Interviews 16 Jahre alt und besucht die 10. Realschulklasse. Die Mutter ist türkischer Herkunft, aber bereits in Deutschland geboren. Der Vater ist Türke und kam als sehr junger Arbeitsmigrant in die BRD. Die Eltern sind seit sechs Jahren geschieden. Seit fünf Jahren lebt die Mutter mit einem deutschen Mann zusammen. Ähnlich wie Farhad hat also auch Bülent einen deutschen Stiefvater, mit dem er sich stark identifiziert und eine enge Bindung zu den deutschen Großeltern.
Eröffnungssequenz des Interviews
I: Wie kam es, daß Du Dich mit dem Nationalsozialismus beschäftigt hast?
Ja, wie soll ich sagen – viel durch die Medien, aber auch durch die Schule. Da wird ja auch immer so von geredet – halt bla, bla, bla – auch wegen den ausländischen Kindern, daß die halt anders wären, als die Deutschen, daß die sich dafür nicht viel interessieren würden. Ich weiß nicht, viele Ausländer – werden so angesehen wie richtige Ausländer. Zum Beispiel ich: Ich bin hier zum Beispiel geboren und aufgewachsen. Ich sprech die Sprache besser als meine. Und ich mein, für mich ist da kein Unterschied. Ich kann mich für Dinge interessieren, für die sich jugendliche Deutsche auch interessieren. Zum Beispiel: Es gibt viele deutsche Jugendliche, die überhaupt keine Ahnung haben von deutscher Geschichte […] Das interessiert die Leute eigentlich gar nicht. Die sind der Meinung: Ausländer ist Ausländer und deutsch ist deutsch. Und, ob man hier geboren ist, ist egal.
Bülent geht sofort in die Defensive. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des NS und des Holocaust entfaltet er im Spannungsfeld der Gegenüberstellung: Deutsche und Ausländer. Er beansprucht das gleiche Recht wie deutsche Jugendliche, sich mit dem Thema zu befassen, und kritisiert, daß man Jugendliche nicht-deutscher Herkunft von vornherein stigmatisiere, indem man ihnen ein Interesse an der deutschen Geschichte abspreche und sie wie „richtige Ausländer“ behandelt. Bülent hebt seine Deutschsprachigkeit und die Tatsache hervor, daß er „hier“ geboren ist. Aus seiner Sicht hat er sich längst als Deutscher qualifiziert. Er wehrt sich gegen das Überstülpen der Kategorie Ausländer. Vielmehr fordert er ein differenziertes Bild ein. Bülent strebt nach einer Auflösung der ihm obsolet erscheinenden Dichotomie Ausländer – Deutsche. Dieses Thema der Selbst- bzw. Fremdzuschreibung zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Interview und greift auf die geschichtsrelevanten Themen über. Bülent befindet sich offenbar an einem krisenhaften Punkt der Auseinandersetzung mit sich selbst und seinen Zugehörigkeiten. Er kämpft um eine Mehrfachidentität, deren Möglichkeit durch die Verbreitung dichotomer nationalkultureller Denkweisen blockiert wird. Der Umgang mit der Geschichte des NS wird dabei zu einem Austragungsort dieses Konflikts um die Normalität des Dazu-Gehörens. Bülent fühlt sich berechtigt, an vermeintlich „deutsch“ besetzte Themen in gleicher Weise teilzuhaben wie die deutschen Jugendlichen auch. Bülent erzählt im folgenden Segment, wie es kam, daß er an einer Gedenkstättenfahrt nach Theresienstadt teilgenommen hat.
[…] wir waren ja jetzt in der Fahrt nach Theresienstadt, da haben wir viel davon geredet. Also, das kam von der Schule aus. Da hat ein Lehrer von mir gefragt, wer halt interessiert daran ist, an sowas teilzunehmen. Da war ich halt der einzige aus unserer Klasse. Die anderen hat es eigentlich nicht so interessiert. […] Halt, wie gesagt fünfzig Prozent Deutsche in der Klasse und ich war der einzige Ausländer sozusagen, der sich dafür interessiert hat. […] Theresienstadt an sich war sehr interessant. Die Gegend vor allem. […] Und, wie die Leute gelitten haben. […] unter welchen Umständen die da gelebt haben oder Leben mußten. Und Frau Stern – sie hat uns auch viel darüber erzählt, wie es dort war, was die machen mußten. Also, das fand ich/ also da war eine Schülerin und die hat sie gefragt, ob es da auch normale Tage gegeben hätte. Und das fand ich sehr wichtig, als die Frau Stern gesagt hat, daß es in der ganzen Zeit – in den ganzen zwei Jahren, in denen sie dort war, für sie keinen einzigen Tag gegeben hat, der normal war. Das ist eigentlich das schlimmste. Das schlimmste ist, wenn man nicht normal sein kann. (Er senkt seine Stimme an dieser Stelle und wirkt sehr nachdenklich).
Bülent betont, daß trotz der großen Anzahl an deutschen Kindern in der Klasse, er der einzige aus der Klasse gewesen sei, der sich für das Projekt interessiert habe. Dann kommentiert er in Eindrücken die Gedenkstättenfahrt, die von einer jüdischen Überlebenden des Holocaust begleitet wurde. Interessant ist der Erinnerungsfetzen an die Erzählung der Zeitzeugin, die Bülent im Gedächtnis geblieben ist: die Tatsache, daß es für sie in Theresienstadt keinen einzigen normalen Tag gegeben habe. Das Leben und Überleben im ständigen Ausnahmezustand, in der Anormalität nationalsozialistischer Willkürherrschaft, erscheint Billent rückblickend als das schlimmste. Der interpretatorische Bogen soll an dieser Stelle nicht überspannt werden, zumal Bülent diesen Aspekt nicht weiter ausführt. Es scheint mir dennoch naheliegend, dm Hypothese zu formulieren, daß Bülent sich hier eine Szene herausgreift, die seine eigene Thematik, nämlich seinen Wunsch, in Deutschland als „ganz normal“ betrachtet zu werden; beinhaltet. Bülent beansprucht einen gesellschaftlichen Status, der nicht legitimationsbedürftig ist. Er will normal sein, Gleicher unter Gleichen, und nicht als Ausländer exotisiert werden. Die Vorstellung über lange Zeit – die Zeit der Inhaftierung im Lager, von der die Zeitzeugin berichtet – in einem Zustand der Anormalität unter Fremdbestimmung zu leben, bewegt ihn deshalb möglicherweise ganz besonders.
Auch nach der Fahrt macht Bülent die Erfahrung, sich für seine Entscheidung, an dieser Fahrt teilzunehmen, rechtfertigen zu müssen und zwar vor den deutschen Mitschülern in seiner Klasse:
Aber dann haben die so gesagt: Die meisten Ausländer würden das nicht tun. Aber das ist Quatsch. Ich mein, in meiner Klasse, die ganzen Deutschen, warum ham die das nicht gemacht. Das frag ich mich. […] Am Anfang harn se gesagt: Was willst du eigentlich dort. Fahr doch lieber in die Türkei, bla, bla, bla.
Bülent ist enttäuscht darüber, daß ihn seine Mitschüler nicht anerkennen. Sie exotisieren ihn und sein Engagement in Sachen NS-Geschichte, indem sie ihn zur „Ausnahme“ erklären. Sie halten daran fest, daß dieses Thema Ausländer nicht interessiere. Er ist verärgert darüber, daß er offenbar kein Zeichen setzen konnte, daß man ihn nicht stellvertretend für die Gruppe der Ausländer sehen will, für die er in diesem Moment zu sprechen beansprucht. Hinzu kommt, daß seine Mitschüler ihn bereits vor der Fahrt auf sein vermeintliches Heimatland verweisen, nämlich mit der Frage, was er eigentlich in Theresienstadt wolle und warum er nicht lieber in die Türkei fahre. Bülents Versuch, sich die Geschichte des NS anzueignen, wird durch die national-historische Zuschreibung seiner Mitschüler sanktioniert. Der Verweis auf die Türkei dient der dortigen historischen Verortung Bülents, so als gelte für dieses Thema „Germans only“. Für Bülent bedeutet diese Erfahrung eine erneute Zurückweisung durch seine deutschen Mitschüler, denen er auf diesem Wege doch eigentlich näher kommen wollte.
Während des Aufenthaltes der Gruppe in Theresienstadt gibt es noch eine weitere Szene, die sich in dieses Bild fügt: Einige der deutschen Teilnehmerinnen weinen am Krematorium. Als Bülent ihnen mitteilt, daß ihm nicht zum Weinen zu Mute sei, lassen die Mädchen ihn wissen: „Du als Ausländer – hast ja auch keine Ahnung, worum es hier geht.“ Bülent reagiert mit Wut und Ohnmachtsgefühlen:
„[…] Und das is ein Punkt gewesen, wo ich mich aufgeregt hab, weil ich kann das nicht akzeptieren, (erregt gestikulierend) Erstens: Ich durfte nicht hierher kommen. Ich bin hier geboren. Zweitens: ich hab den deutschen Paß. Drittens: ich sprech die Sprache perfekt. Viertens: Ich sag weder: ,Ach du Deutscher, ach du Italiener‘, weder irgendetwas. Ich beleidige niemand. […] Ich fühl mich hier nicht als Ausländer. Das ist meine Heimat. Ich bin hier geboren. Ich lebe hier. Und ich bin auch ein Deutscher. Also, irgendwo bin ich ein Deutscher, aber irgendwo auch türkisch. Ich bin beides.“
In diesem Zitat – besonders dem letzten Satz „ich bin beides“ – artikuliert sich geradezu der Schrei nach dem dritten Ort, nach dem gesellschaftlichen Raum, in dem sein bikulturelles Selbstverständnis anerkannt wird. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die folgende Passage, in der Bülent über die Frage von historischer Last und Schuld spricht. Er beobachtet hier an sich selbst einen kuriosen Moment nationaler Selbstzuschreibung.
„Ich betrachte mich ja selbst auch als Deutscher. Ich sag mal: Ich hab gar keine Last. Ich glaub auch nicht, daß irgendein deutscher Bürger eine Last hat, der heute lebt. Also, ich mein, ich sprech mal jetzt als Deutscher. Wir können für damals, für das, was da passiert ist, nichts. Dafür können nur die Leute was, die so dumm waren und auf Adolf Hitler gehört haben […] Es gab ja auch viele Leute, die das nicht wollten. Die wurden ja nicht gefragt. Also, wir können dafür eigentlich nichts. Und wenn jetzt irgendjemand im Ausland sagt: Eh – die Deutschen schaut mal. Dann sind die für mich […] nicht intelligent, weil wir können für damals nichts. Also, das sind die Leute, die damals was gemacht haben, denen sollte man die Schuld in die Schuhe schieben, nicht uns. Als wir in Tschechien waren, daß war eigentlich das einzige Mal, wo ich als Deutscher angesehen worden bin. Also, da hab ich mich als .Reindeutscher ‘ gesehen. Da hab ich den Türken in mir vergessen, weil da war es was anderes. […] Da kam ich mir schon so schlecht auch vor, weil die Deutschen da so Schlimmes verbrochen haben. Das sind solche Momente, wo man drüber nachdenkt und wo man auch ein bißchen Schuldgefühl kriegt. Da hab ich mich echt als Deutscher angesehen, also als ein Gast in einem Land, der nicht gern gesehen wird.“
Bülent macht hier die Erfahrung, plötzlich als Teil des deutschen Kollektivs adressiert zu werden. Für die tschechische Bevölkerung „der Bülent begegnet, gibt es keinen Unterschied zwischen ihm und seinen Mitschülern. Sie sind alle Deutsche im Ausland. Die ihm widerfahrende unhinterfragte Zuschreibung als Deutscher läßt ihn den „Türken in sich“, wie er sagt, vergessen. Und prompt scheint sich, wie bei den deutschen Jugendlichen, ein diffuses Unbehagen .und ein Gefühl von Schuld einzustellen. Zudem suggeriert der Begriff „Reindeutscher“ eine Steigerung, d.h., daß Bülent sich auch zuvor bereits als Deutscher gesehen hat. Mit der zusätzlichen Übernahme der historischen „Last“ und der „Schuldgefühle“, so scheint es, hat er sich vollends für die Assimilation qualifiziert. Deutscher als „reindeutsch“ kann er nicht werden.
Auch in seiner Rede vom „wir können dafür nichts!“, signalisiert er sein Dazugehören. Bülent spricht im Gegensatz zu Farhad nicht von den anderen, sondern markiert durch die Beanspruchung des Personalpronomens „wir“ seine Zugehörigkeit zur deutschen Bezugsgruppe. Dies unterscheidet ihn von Farhad, der eher eine Distanz aufrechterhält und in die Rolle des Anwalts der Deutschen – vor allem der jungen Deutschen – schlüpft. Bülent macht sich ein deutsches „Wir“ zu eigen. Er spricht nicht für die Deutschen, sondern auch als Deutscher.
Mit freundlicher Genehmigung des Juventa-Verlages. http://www.beltz.de/fachmedien/erziehungs_und_sozialwissenschaften/buecher/produkt_produktdetails/281-erziehung_nach_auschwitz_in_der_multikulturellen_gesellschaft.htmlNutzungsbedingungen:
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