Dieser Fall basiert auf Material aus den INTAKT-Daten. Die kompletten Datensätze können zu Forschungszwecken über das Online-Fallarchiv Schulpädagogik angefordert werden. Mehr Informationen finden Sie unter http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/projektdaten-intakt/intakt-informationen/.
Einleitende Bemerkungen
Die Beziehung zwischen Lehrpersonen und ihren Schüler_innen wird durch die Institution Schule und ihre Hierarchien geprägt. So hat die Lehrperson einen Wissens- und Kompetenzvorsprung, ist aber dazu verpflichtet, den Schüler_innen Wissen und Kompetenzen zu vermitteln. Hier gehen Lehrperson und Schüler_innen ein so genanntes Arbeitsbündnis ein, welches die Beziehung zueinander begründet. Es ist geprägt von Antinomien der Nähe und Distanz, des Vertrauens und der Asymmetrie. Jeder einzelne dieser Aspekte beeinflusst die Beziehung zwischen Lehrer_innen und Schüler_innen und jede Beziehung fußt auf einem individuellen Umgang mit den vorliegenden Spannungsverhältnissen. Der Umgang mit einer gegebenen Situation soll aus der Perspektive der Schüler_innen im Folgenden untersucht werden. Bei dem Gegenstand unserer Betrachtung handelt es sich um einen Abschiedsbrief, der von einer Gruppe von Schüler_innen an eine Lehrerin verfasst wurde. Gegenstand des Briefes sind die gemeinsam geteilten Erfahrungen und deren Reflexion. […]
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Die Untersuchung der Lehrer_in-Schüler_in-Beziehung bezieht sich auf einen gemeinsam geteilten Erfahrungsraum zwischen Lehrer_innen und Schüler_innen. Bei dem uns vorliegenden Dokument handelt es sich um einen Abschiedsbrief, der von einer Gruppe von Schüler_innen an die Lehrerin verfasst wurde. Der Brief wurde nicht handschriftlich, sondern am Computer geschrieben, was darauf hinweist, dass der Brief durchdacht ist und mit Bedacht formuliert wurde. Anders als bei einer mündlichen Rückmeldung ermöglicht ein Brief es der verfassenden Person, ununterbrochen das Wort zu behalten.
In der besonderen Situation der Abschlussklasse, die einen Brief an ihre Lehrerin verfasst, wird deutlich, dass die an dem Brief beteiligten Schüler_innen durch das Verfassen des Briefes selbst versuchen, die Beziehung zu rekapitulieren und noch nicht enden zu lassen. Da der Brief von einem Kollektiv verfasst wurde, ist davon auszugehen, dass nicht die Gedanken der einzelnen Personen ungefiltert einflossen, sondern gemeinsam in einer Gruppe abgewogen und besprochen wurden. Alle Ereignisse, auf die in diesem Brief eingegangen wird, sind Ereignisse, die die Gruppe mit der Lehrperson gemeinsam erlebt haben. Es werden keine Einzelschicksale angeführt.
Weiterhin ist zu bemerken, dass es sich bei den Verfasser_innen um einen Abschlussjahrgang handelt. Inhaltlich weist der Brief darauf hin, dass die Schüler_innen die Abiturprüfungen bereits hinter sich gelassen haben, so dass sie sich durch einen besonders freundlich verfassten Brief keine Hoffnungen auf bevorzugte Bewertungen durch diese Lehrerin machen konnten. Das Verfassen des Briefes geschieht also nicht nur freiwillig, sondern scheint auch ohne spezifischen »Nutzen« zu sein.
Unter Beachtung aller genannten Aspekte stellt sich folgende Frage: Welche spezifische Ausprägung der Beziehung zwischen der Lehrperson und ihren Schüler_innen wird durch den kollektiven Brief an die Lehrerin deutlich?
Interpretation des Briefes
Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei dem vorliegenden Datenmaterial um ein Briefdokument, auf das von Seiten der Adressatin keine Reaktion vorliegt. Somit lässt die Interpretation dieser Daten nur Aussagen aus der Perspektive der Schüler_innen zu. Eingeleitet wird der Brief mit der Begrüßung:
»Liebe Fr. D.«. [1]
Zunächst scheint die Anrede der Lehrerin mit »Liebe« angemessen für den schulischen Kontext und drückt ein Vertrauensverhältnis zwischen der Lehrperson und den Schüler_innen aus. Die Anrede »Frau D.« spiegelt dabei die alltägliche Interaktion zwischen der Lehrerin und den Schüler_innen wieder. Da Lehrer_innen in Deutschland üblicherweise mit Herr oder Frau und dem Nachnamen angesprochen werden, bildet diese Anrede einen Alltagssprechakt der Schüler_innen ab. Die Schüler_innen haben das Wort »Frau« nicht ausgeschrieben, sondern durch »Fr.« abgekürzt. Diese ungewöhnliche Form der Abkürzung in der Schriftsprache verweist auf den formellen Rahmen, der durch die Reglementierung der Organisation Schule gegeben ist und in dem sich die Lehrer_innen-Schüler_innen-Beziehung bewegt. In der Anrede wird deutlich, dass die Schüler_innen versuchen, beiden Aspekten, nämlich der Nähe und der Distanz, die die Lehrer_innen-Schüler_innen-Beziehung bestimmen, gerecht zu werden. Indem die formelle Anrede »Fr. D.« um das ausdrucksstarke Adjektiv »Liebe«, welches vorwiegend in einem privaten bzw. intimen Kontext vorkommt, erweitert wird, erfüllen die Schüler_innen die Konventionen im Umgang mit Lehrpersonen im schulischen Rahmen. Der erste Satz des Briefes lautet:
»wir schreiben diesen Brief um uns bei Ihnen für all die tollen Jahre zu bedanken, die wir gemeinsam mit Ihnen verbringen durften.«
Dieser Satz kann als Einstieg in den Brief gesehen werden, denn es wird eine Verbindung zwischen der Empfängerin und dem Absender, einem übereinstimmenden Kollektiv »wir«, hergestellt. Dabei bleibt die Anrede mit »Ihnen« weiterhin formell und es wird der Grund des Briefes genannt, nämlich der Dank für die als schön empfundene gemeinsam verbrachte Zeit. Darin kommt Zweierlei zum Ausdruck: Erstens wird durch die Benennung des Zwecks des Briefes deutlich, dass der Absender sicherstellen möchte, dass das Dokument die intendierte Funktion erfüllt und zweitens deckt ebendieses Sicherstellen die Angst des Absenders vor einer Fehlinterpretation des Briefes auf. Dadurch, dass der Empfänger im Hintergrund bleibt und vermutlich keine unmittelbare Interaktion zwischen der Lehrerin und den Schüler_innen stattfindet während die Lehrerin den Brief liest, ist das Risiko einer Fehlinterpretation des Dokuments erhöht.
Des Weiteren ist die Doppelung »die wir gemeinsam mit Ihnen verbringen durften« auffällig. Sowohl aus grammatikalischer als auch aus stilistischer Sicht wäre es ausreichend gewesen, den Satz entweder ohne das Adjektiv »gemeinsam« oder ohne die präpositionale Konstruktion »mit Ihnen« zu formulieren. Die Verwendung beider Formen in demselben Satz ist eine Inklusion der Lehrerin in einen gemeinsam geteilten Erfahrungsraum der Schüler_innen.
Ein weiterer interessanter Aspekt ist die Wortwahl »verbringen durften«. Sie zeigt, dass die Schüler_innen erstens Dankbarkeit empfinden gegenüber der Lehrerin. Zweitens manifestiert das Verb in der Zeitform des Präteritums das Ende der gemeinsam verbrachten Zeit. Drittens drückt »dürfen« in seiner Funktion als Modalverb für gewöhnlich einen Wunsch oder eine Möglichkeit aus, was in besonderem Maße den schulischen Kontext des Inhalts kontrastiert, denn die Schüler_innen haben real keine Möglichkeit der Einflussnahme auf die Wahl der Lehrpersonen, die sie unterrichten und da für die Schüler_innen Schulpflicht gilt, kann somit nicht vorausgesetzt werden, dass alle Schüler_innen freiwillig an der Schule sind. Weitergeführt wird der Brief mit folgendem Satz:
»Für uns alle begann im Schuljahr 06/07 an unserer Schule eine neue Ära, zum ersten Mal sollte eine Klasse in Biologie auf Englisch unterrichtet werden.«
Auch der zweite Satz des Briefes weist den Umgang der Schüler_innen mit den besonderen Gegebenheiten der schulischen Umgebung auf. Die kollektive Betroffenheit wird an prominenter Stelle, dem Satzanfang, zum Ausdruck gebracht. Die Betroffenheit aller von dem besonderen, erstmaligen Ereignis, dass eine Naturwissenschaft bilingual unterrichtet wird, betrifft nicht nur alle Schüler_innen dieser Klasse und alle Schüler_innen dieser Schule, die zukünftig die Möglichkeit haben werden, bilingual in Biologie unterrichtet zu werden, sondern auch die Fachlehrpersonen und in dem konkreten Fall die Lehrerin. Somit schaffen die Schüler_innen eine Inklusion der Lehrerin in deren Erfahrungsraum. In diesem zweiten Satz wird der Erfahrungsraum von den Schüler_innen näher definiert: Bisher beschränkte sich der Erfahrungsraum zeitlich auf »all die tollen Jahre«. Der Beginn des Erfahrungsraumes wird nun in das Schuljahr 06/07 datiert und die Schule wird als Erfahrungsort lokalisiert. Neben Zeit und Raum findet sich eine dritte Dimension des Erfahrungsraumes, den die Schüler_innen entwerfen, nämlich eine psychologische Dimension. Alle Schüler_innen dieser Klasse und die Lehrerin sind Teil von etwas Neuem. Dass »eine Klasse in Biologie auf Englisch unterrichtet werden soll« markiert nicht nur einen Wendepunkt in der Fachdidaktik und bringt somit Herausforderungen für die Schüler_innen und die Lehrerin mit sich, sondern versetzt die Lehrerin in eine ähnlich einflussarme Situation wie ihre Schüler_innen. Dies wird hauptsächlich von dem Modalverb »sollte« ausgedrückt, das auf einen Zwang der Handlung verweist. Die Hervorhebung dieses Zwanges, dem die Schüler_innen und die Lehrerin unterliegen, bewirkt eine Erweiterung des gemeinsam geteilten Erfahrungsraumes und stellt die Lehrerin hinsichtlich der eingeschränkten Einflussnahme auf die Organisation der Schule mit den Schüler_innen gleich.
»Wir waren die Schüler, Sie die Lehrerin.«
In dem Satz »Wir waren die Schüler, Sie die Lehrerin.« wird die Gleichstellung der Lehrerin mit den Schüler_innen aus dem vorangegangenen Satz wieder aufgehoben. Die Schüler_innen geben somit nicht nur eine floskelartige Zustandsbeschreibung der Vergangenheit, sondern verorten sich und die Lehrerin in den festgelegten Rollen der Organisation Schule. Mit dieser Definition geht eine Rollenzuweisung einher, die den Schüler_innen parallel dazu eine Abgrenzungsmöglichkeit bietet und somit einen ersten Schritt zur Formulierung eines Arbeitsbündnisses darstellen würde, wenn nicht die Zeitform des Präteritums für das Verb »sein« benutzt worden wäre. Da es sich hierbei um einen Satz handelt, der auch in einem Bericht gefunden werden könnte, stellt das Präteritum eine Erzählform dar und drückt eine abgeschlossene Vergangenheit ohne unmittelbaren Bezug zur Gegenwart aus. Die Verwendung dieser Form markiert eine erfolgte innere Lösung aus der Schüler_innenrolle. In Ergänzung zu der Rollenzuweisung im vorangegangenen Satz, wird im Folgenden die Rolle der Lehrerin näher definiert:
»Eigentlich waren Sie erst auf dem Weg Lehrerin zu werden, denn noch waren Sie Referendarin, und es gab niemanden im Kollegium, der Ihnen Wegbereiter hätte sein können.«
Der erste Teil des Satzes (bis »und«) macht auf zwei Dinge aufmerksam. Erstens wird die hierarchische Stellung der Lehrerin relativiert, denn die Schüler_innen sind sich darüber bewusst, dass die Ausbildung der Lehrperson zu Beginn der gemeinsamen Zeit noch nicht abgeschlossen war, dass diese also selbst noch in einem Ausbildungsverhältnis zu ihrem Fachleiter und Mentor steht. Somit wird wieder eine Gemeinsamkeit zwischen den Schüler_innen und der Lehrerin hergestellt. Die zweite Besonderheit an diesem ersten Teil des Satzes ist die Begründung »denn noch waren Sie Referendarin«, der einerseits die vorherige Relativierung der hierarchischen Position erklären und die Rolle der Lehrperson spezifizieren und andererseits eine mögliche Fehlinterpretation durch die Adressatin ausschließen soll.
Die Kennzeichnung der Lehrperson als Referendarin im ersten Teil des Satzes bekommt mit dem zweiten Teil »und es gab niemanden im Kollegium, der Ihnen Wegbereiter hätte sein können« eine neue Bedeutung. Die Schüler_innen sind sich der mangelnden fachlichen Unterstützung durch die Fachkolleg_innen sowie des Referendarinnenstatus, also der gewissermaßen schlechten Ausgangsbedingungen zur Bewältigung der Herausforderung des bilingualen Biologieunterrichts, bewusst und unterstreichen die Besonderheit der Situation für die Lehrerin. Die Bezugnahme der Schüler_innen auf den Referendarinnenstatus der Lehrperson wertet im Kontext des folgenden Satzes:
»Sie waren eine echte Pionierin auf diesem Gebiet und an unserer Schule.«
die Leistungen der Lehrerin auf und verstärkt die Einzigartigkeitswahrnehmung der Lehrerin durch die Schüler_innen. Die Einzigartigkeit der Lehrerin als Vorreiterin wird durch das Fragment »auf diesem Gebiet und an unserer Schule« näher bestimmt und eingegrenzt. Durch den Gebrauch der Ortsbezeichnung »an unserer Schule« verweisen die Schüler_innen auf den gemeinsam geteilten Erfahrungsraum und sehen sich als einen Teil dieser Einzigartigkeit; sozusagen durch das Erleben der Einzigartigkeit der Lehrerin in ihrem professionellen Handeln. In diesem Satz bewerten und beurteilen die Schüler_innen die Lehrperson und kehren somit die hierarchischen Gegebenheiten um, indem sie das Handeln der Lehrperson nachahmen und den Lernfortschritt der Referendarin schriftlich fixieren. Der folgende Satz bewertet die Bewältigung einer konkreten Aufgabe, nämlich bilingualen Biologieunterricht zu halten, ohne fachliche Vorarbeit durch Kolleg_innen und ohne abgeschlossene schulpraktische Ausbildung:
»Rückblickend können wir sagen, dass Sie diese Aufgabe meisterhaft bewältigt haben!«
Die Phrase »können wir sagen« verweist darauf, dass die Schüler_innen sich dazu befähigt sehen, die Leistungen der Lehrerin retrospektiv zu beurteilen. Dabei dienen die Erfahrungswerte der Schüler_innen, die sie bedingt durch die Organisation der Institution Schule bis zu diesem Zeitpunkt bereits gesammelt haben, vermutlich als Bewertungs- und Beurteilungsgrundlage. Durch die Hervorhebung und Beurteilung des pädagogisch professionellen Handelns der Lehrerin befinden sich die Schüler_innen in einer wertenden Position, die normalerweise der Lehrperson vorbehalten ist. Die Diskrepanz zwischen der vorherigen Feststellung des Anfängerstatus und dem Prädikat »meisterhaft« verdeutlicht das außergewöhnlich positive Qualitätsurteil. Darüber hinaus sprechen die Schüler_innen mit dem Ausrufezeichen eine implizite Aufforderung gegenüber der Lehrerin aus, die eigenen Leistungen anzuerkennen und in dieser Art und Weise fortzufahren. Die Anrede bleibt dabei immer auf einer formellen, höflichen Ebene. Die Schüler_innen übernehmen somit noch eine weitere Funktion des Lehrer_innenverhaltens, nämlich die der Motivation. In dieser Bewertung der Rolle der Lehrerin kommt die Symmetrie zwischen der Lehrerin und den Schüler_innen zum Ausdruck.
Im übrigen Verlauf des Briefes kann man, während die Schüler_innen auf der Sachebene über fachdidaktische, methodische und pädagogische Aspekte des Unterrichts, sowie über die Merkmale der Lehrer_innenpersönlichkeit schreiben, auf der Beziehungsebene wiederkehrende Umgangsformen der Schüler_innen mit den schulischen und institutionellen Gegebenheiten, die die Lehrer_innen- Schüler_innen-Beziehung beeinflussen, feststellen.
Dies zeigt sich in besonderem Maße im letzten Teil des Briefes, der große sprachliche Ähnlichkeit zu dem Beginn des Briefes aufweist:
»Liebe Frau D., Sie verdienen unser größtes Lob und unsere höchste Anerkennung für all das, was Sie für uns und die Schule getan haben.«
Auch an dieser Stelle zeigt sich ein Vertrauensverhältnis, das im Kontrast zur formellen Anrede steht. Auffällig ist dabei, dass die Schüler_innen am Ende des Briefes das Wort »Frau« schriftsprachlich konventionell ausschreiben und die abgekürzte Form »Fr.« keine Verwendung findet. Somit wird die Formulierung der Anrede im Verlauf des Briefes etwas persönlicher, allerdings nie informell. Indem die Schüler_innen das Engagement der Lehrerin für die Schüler_innen und die Institution durch Superlative hervorheben, verweisen sie einerseits wieder auf einen gemeinsam geteilten Erfahrungsraum und machen gleichzeitig deutlich, dass deren »größtes Lob« und die »höchste Anerkennung« von der Lehrerin erarbeitet bzw. »verdient« werden musste. Andererseits zeugen die Superlative von einer Einzigartigkeitswahrnehmung der Lehrerin in ihrer Rolle innerhalb der Organisation Schule durch die Schüler_innen. Außerdem unterliegt dem Gebrauch der Superlative eine Bewertung und Beurteilung der Leistungen, die die Lehrperson erbracht hat, und abermals werden die Rollen zwischen den Schüler_innen und der Lehrerin getauscht. Der darauffolgende Satz:
»Mit diesem Brief wollten wir Ihnen sagen, dass und warum Sie für uns die beste Lehrerin sind.«
zeigt das Bedürfnis der Schüler_innen den Anlass und die Funktion des Briefes noch einmal hervorzuheben. Der Konjunktiv II Präteritum aktiv des Verbes »wollen«, der sowohl die Bedeutung einer Höflichkeitsform, oder aber auch die des Wunschdenkens in sich trägt, steht somit im Gegensatz zu der förmlich anmutenden Eröffnung des Satzes und signalisiert die Unsicherheit der Schüler_innen. Das Bedürfnis der Schüler_innen, den Anlass zu erklären und die Wahl des Konjunktives II zeigen, dass es sich an dieser Stelle um eine Strategie handelt, um Fehlinterpretationen von Seiten der Lehrerin vorzubeugen; das Lob der Schüler_innen bezieht sich auf die Rolle der Lehrerin und nicht auf ihre Person. Hätten die Schüler_innen keine Befürchtung der Fehlinterpretation durch die Lehrerin, hätte die Formulierung vermutlich nur aus einem Hauptsatz »Sie sind die beste Lehrerin!« bestanden und wäre somit konkreter ausgefallen. Darüber hinaus wird durch den Gebrauch der Superlativform »die beste«, der Lehrerin ein Alleinstellungsmerkmal durch das Kollektiv der Schüler_innen zugeschrieben. Weitergeführt wird der Brief mit dem Satz:
»Wir haben Sie sehr lieb gewonnen und sind dankbar für die vielen schönen Erinnerungen, die wir aus unserer gemeinsamen Zeit mitnehmen.«
Die Schüler_innen drücken in ihrer Dankbarkeit und durch den Verweis auf die »vielen schönen Erinnerungen« ihre Verbundenheit mit der Lehrerin aus und schreiben ihr die Urheberschaft der »tollen Jahre« zu. Bemerkenswert ist dabei die Formulierung des Satzanfanges, die zunächst sehr konkret ist und durch ihren Beschlusscharakter der Aussage Nachdruck verleiht. Parallel dazu bildet der erste Teil des Satzes (bis »und«), unter anderem, durch die Steigerungsform »sehr«, die Prozesshaftigkeit der Beziehungsgeschichte als einer gewachsenen Beziehung ab, die zugleich weit über die rollenförmige Beziehung innerhalb der Institution Schule hinausgeht. Hier konstituiert sich ein spannender Widerspruch zwischen der im Brief eingehaltenen Form und Distanz und den emotionalen Aussagen, die eher im Kontext diffuser Sozialbeziehungen wie Freundschaft und Familie zu verorten sind. Des Weiteren wird die Lehrerin mit dem Verweis auf den gemeinsam geteilten Erfahrungsraum – an dieser Stelle sprechen die Schüler_innen von »unserer gemeinsamen Zeit« – völlig in die Gemeinschaft der Schreiber_innen inkludiert. Das nahende Ereignis des Abschieds wird von den Schüler_innen im folgenden Satz:
»Der Abschied fällt uns allen sehr schwer und wir werden Sie sehr vermissen.«
als ein äußerst emotionales Erlebnis dargestellt. Die Endgültigkeit dieses einschneidenden persönlichen Ereignisses, nämlich dem Ausscheiden aus der Schule und dem damit verbundenen Verlust der Lehrerin als Bezugsperson, bewegt die Schüler_innen dazu, sich selbst in ihrer Beziehung zu der Lehrerin als Person zu verorten und durch das Verfassen und Übermitteln des Briefes, darauf aufmerksam zu machen.
Insgesamt ist die Verabschiedung weniger distanziert als die Anrede des Briefes, jedoch wurde stets eine höfliche und formelle Formulierung gewählt. So auch in der ersten Grußzeile des Briefes:
»Mit herzlichen Grüßen // Ihre Nerds«
Die Schüler_innen benennen sich selbst als Außenseiter, was ein weiterer Verweis auf den mit der Lehrerin geteilten Erfahrungsraum darstellt. Denn nur wer die mit dem Begriff »Nerds« verbundene Situation bzw. das damit verknüpfte Ereignis kennt, also daran teilgenommen hat, kann die Verwendung und die Bedeutung des Begriffes in der jeweiligen Situation ganz erfassen. Gerade deswegen ist der Verweis der Schüler_innen auf diesen Insider-Witz ein beachtliches Alleinstellungsmerkmal für die Lehrer_innen-Schüler_innen-Beziehung, da eine Abgrenzung von denjenigen Schüler_innen vollzogen wird, die nicht Teil dieser Lerngruppe sind oder waren.
Insgesamt ist der Brief geprägt von dem schulisch-institutionellen Kontext, der hinsichtlich der Lehrer_innen-Schüler_innen-Beziehung diverse Spannungsverhältnisse aufwirft. Dabei sind vor allem die von Helsper formulierten Antinomien der Symmetrie und Macht, des Vertrauens, und der Nähe und Distanz, zu nennen. Die in dem Brief immanenten Umgangsweisen der Schüler_innen mit den Antinomien sind bemerkenswert und vielfältig. Fortwährend lässt sich durch das Briefdokument die Definition eines gemeinsam geteilten Erfahrungsraumes und den Verweis auf diesen als eine Inklusion der Lehrerin in eine Gemeinschaft mit den Schüler_innen rekonstruieren. Dabei sind sich die Schüler_innen nie sicher, ob das Geschriebene von der Adressatin in deren Sinne, also in Bezug auf die Rolle der Lehrerin, interpretiert wird, weshalb sie dies mehrfach explizieren. Oftmals werden Begründungen, Anlässe oder sogar die Funktion des Geschriebenen benannt, um das Risiko einer Fehlinterpretation und einer damit einhergehenden Fehldeutung der Lehrer_innen-Schüler_innen-Beziehung senken zu können. In diesem Zusammenhang ist auch die Einzigartigkeitswahrnehmung der Lehrerin und der Beziehung zu der Lehrerin durch die Schüler_innen zu nennen. Das »Aufmerksamkeit-auf-Einzigartigkeiten-Lenken« steht erstens im Kontext des gemeinsam geteilten Erfahrungsraumes und kann zweitens auch als Appell an das Erinnern verstanden werden.
Eine weitere Umgangsweise der Schüler_innen, vor allem im Zusammenhang mit der Symmetrie- bzw. Machtantinomie, ist das Übernehmen des Lehrer_innenverhaltens. Indem die Schüler_innen sich in der Lage dazu sehen, die Leistungen der Lehrerin zu bewerten, nehmen sie eine Funktion ein, die ansonsten der Lehrperson vorbehalten ist. Auch die Aufgabe einer Lehrerperson, ihre Schüler_innen zu motivieren, übernehmen die Schüler_innen in dem Brief an ihre Lehrerin. Dadurch wird eine Symmetrie zwischen Lehrerin und den »ehemaligen« Schüler_innen hergestellt. Interessanterweise findet ein permanenter Wechsel zwischen den Bezugsnormen der Schüler_innen statt. Nach einem Satz der als Herstellung oder Nutzung von Symmetrie rekonstruiert werden kann, folgt zumeist ein Satz, der die alltägliche Hierarchie, nämlich die Machtposition der Lehrerin durch Wissens- und Kompetenzvorsprung, wiederherstellt. Insofern kann dieser Brief auch als eine »Abarbeitung« der Autor_innen an den antinomischen Spannungen betrachtet werden, die auch für Schüler_innen Schule und Unterricht konstitutiv prägen.
Fazit
Im Fokus dieser Forschungsarbeit stand zunächst die Frage nach der spezifischen Ausprägung der Beziehung der Schüler_innen zu ihrer Lehrerin. Anhand des Datenmaterials, dem Abschiedsbrief einer Abschlussklasse an ihre Lehrerin, ließen sich verschiedene Umgangsweisen der Schüler_innen mit den Antinomien des Lehrer_innenhandelns rekonstruieren. Die Schüler_innen greifen auf den gemeinsam geteilten Erfahrungsraum und die substantielle gemeinsame Vorgeschichte der Schüler_innen und der Lehrerin zurück und überwinden so die Distanz, die durch den hierarchisch institutionellen Rahmen der Schule gegeben ist. Die hier aufscheinende Gemeinschaftlichkeit wird erst durch eine bereits zuvor bestehende Nähe zwischen Schüler_innen und Lehrerin erklärbar. Durch diesen gemeinschaftsstiftenden Bezug wird die Nähe zu der Lehrperson begründet.
Des Weiteren kehren die Schüler_innen die asymmetrische Beziehung zwischen der Lehrperson und den Schüler_innen um. Dies gelingt den Schüler_innen durch die Reflexion und Bewertung der didaktischen, methodischen und pädagogischen Aspekte der Lehrer_innenprofessionalität. Dieser Umgang der Schüler_innen mit den Antinomien gibt dabei Aufschluss über das Spezifikum der Lehrer_innen-Schüler_innen-Beziehung zwischen dieser Abschlussklasse und der Lehrerin. Dadurch, dass die Schüler_innen sich in der Lage sehen, die Lehrerin zu bewerten und ihr diese Beurteilung sogar schriftlich zukommen lassen, zeugt der Akt als solcher schon von der Wahrnehmung der Beziehung zu der Lehrperson als einzigartig und setzt ein gewisses Vertrauen voraus. Obwohl sich in dem Dokument Strukturen nachweisen lassen, die von einer Sorge der Fehlinterpretation durch die Empfängerin zeugen, muss doch der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die Schüler_innen es immer wieder wagen, gegen Konventionen des schulischen Alltags zu verstoßen, und ihre Anerkennung für die Leistungen der Lehrerin ebenso zum Ausdruck bringen, wie die weit über die formale und rollenförmige Beziehung hinausgehende Zuneigung, die sie für die Lehrperson empfinden.
Fußnote:
[1] Im Original wird der Name ausgeschrieben. Hier wurde zur Wahrung der Anonymität ein anonymisiertes Initial verwendet.
Literaturangabe:
Helsper, Werner (2000): »Antinomien des Lehrerhandelns und die Bedeutung der Fallrekonstruktion – Überlegungen zu einer Professionalisierung im Rahmen universitärer Lehrerausbildung«, in: Ernst Cloer/Dorle Klika/ Hubertus Kunert (Hg.), Welche Lehrer braucht das Land? Notwendige und mögliche Reformen der Lehrerbildung, Weinheim u.a.: Juventa, S. 142-177.
Mit freundlicher Genehmigung des transcript-Verlages.
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